(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Anstrengend sein

In meiner therapeutischen Arbeit spreche ich mit meinen Klient*innen oft über Wut. In den Gesprächen mit Frauen geht es meistens darum, diese Emotion überhaupt anzuerkennen und in das Selbstbild zu integrieren. Oft wird Wut negativ bewertet, als unangenehm markiert. Andere könnten mit Abgrenzung und Abwertung reagieren, deswegen wird der Ärger eher unterdrückt oder geschluckt, anstatt ihn als Hinweis für die eigenen Grenzen zu interpretieren.

Dabei kann weibliche Wut aus Unterdrückung, Ungerechtigkeit oder Diskriminierung resultieren und hat die Kraft, diese Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Gleichzeitig oder gerade deswegen gelten wütende Frauen als abstoßend, dramatisch, nicht weiblich und verrückt. Wütende Frauen sind hässliche Frauen. Wütende Frauen werden als weniger kompetent eingeschätzt.

Auch ich habe sowohl in privaten als auch beruflichen Beziehungen die Erfahrung gemacht, dass mein geäußerter Ärger, z.B. nur in Form einer kritischen Rückmeldung, in manchen Kontexten bagatellisiert, lächerlich gemacht, pathologisiert bzw. mir meine Wahrnehmung abgesprochen wird. Dabei scheinen die Strategien einem bestimmten Muster zu folgen. Angesprochene Personen fokussieren auf die Emotion, die transportiert wird, und gehen nicht auf inhaltliche Komponenten ein. Gleichzeitig wird der Vorwurf zurückgegeben, dass der gewählte Ton nicht angemessen sei. Damit tauschen sich plötzlich die Rollen zwischen der kritisierenden und kritisierten Person. Das verwirrt und macht zunächst sprachlos. Bleibe ich dann mit meiner inhaltlichen Position hartnäckig, gelte ich schnell als anstrengend und erschöpfend.

Und wieder drängt sich die kollektive Erfahrung von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen auf, die sich einfach nur in andere Worte als noch vor 100 Jahren kleidet. Wir sind eben nicht mehr hysterisch, sondern zu emotional und anstrengend. Ein klassisches Ablenkungsmanöver von berechtigter Kritik.

Auch oder gerade im systemischen Kontext mache ich diese Erfahrung. Unmut zu äußern scheint an sich schon verpönt, nicht Ressourcen- und Lösungsorientiert genug. Kritik trifft auf Rechtfertigungen und vermeintlich neutrale Äußerungen, die sich letztlich doch als Positionierungen lesen lassen. Nämlich für einen Status quo, der von strukturell verankerter Ignoranz von bestimmten Stimmen profitiert.

Aus systemischer Perspektive könnte ich mich nun fragen, worum geht es eigentlich? Was steckt hinter den Positionen, die schnell sehr vehement vertreten werden? Ein als besonders stark interpretierter Gefühlsausdruck, deutliche, wütende Worte können möglicherweise Ausdruck für eine ganze Kette von Unterdrückungserfahrungen stehen, die sich in diesem Moment entladen. Vielleicht wurde vorher schon so viel nicht gehört, dass die einzige Option ein Aufstampfen und Aufschreien zu sein scheint.

Und wozu könnte die Bagatellisierung und Rollenumkehr dienen? Machterhalt wäre meine Hypothese. Denn: Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage […] lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

In einem solchen Ringen um Gestaltungsfreiraum und Deutungshoheit lässt es sich schön festbeißen und abarbeiten. Denn wie in Goodrichs Zitat werden bei allen Beteiligten verschiedene verinnerlichte Muster (sexistische wie natürlich auch anderer biografisch und kontextbezogene Wechselwirkungen) mit dazugehörigen Gefühlen und Abwehr aktiviert. Das strengt an und bei fehlender Reflexion dieser Mechanismen aller Beteiligten, ist der Weg zu einer konstruktiven Betrachtung zunächst versperrt.

Wie navigiere ich also am besten in dieser Gemengelage? Ich denke es ist wichtig, Positionen klar zu vertreten, hartnäckig und unbequem zu sein. Doch wenn ich merke, dass sich ein Teil von mir dazu eingeladen fühlt, in dieser (natürlich zirkulär funktionierenden) Dynamik in die Rolle zu rutschen, die mir zugeschrieben wird, trete ich einen Schritt zurück.
Ich distanziere mich also, beobachte den Prozess und wäge die Optionen ab. Wenn ich mit dem gleichen nicht weitergekommen bin, dann sollte ich im systemischen Sinne etwas anderes probieren. Für mich heißt das manchmal, an anderer Stelle weiterzumachen, die mir beweglicher erscheint. Manchmal heißt es für mich auch, klare Konsequenzen zu ziehen und die Beziehungen auf andere Weise zu gestalten.
Denn auch wenn ich kein Gehör finde, muss ich mich nicht mit dem Status quo zufriedengeben und die Gewalt, die darin steckt, akzeptieren. Ich erlaube mir, meine Grenzen zu setzen und versuche darauf zu pfeifen, dass mich mein Gegenüber für anstrengend und schwierig hält.

Inspiriert auch durch: https://www.emotion.de/leben-arbeit/weibliche-wut

Der stille Kampf mit dem Spiegelbild

Am 27.12.2023 ich sitze völlig aufgelöst und weinend im Urlaub auf dem Bett. Ich fühle mich unwohl in meinem Körper, nein, ich bin verzweifelt und unzufrieden. Vielleicht habe ich 2-3 Kilo zugenommen, aber es ist mehr als das. Mein Körper und mein Kopf sind in einem Strudel der Unzufriedenheit gefangen.

Diese Situation ist mir nicht fremd. Ich kenne sie und das schon sehr lange – sie begleiten mich schon ein Leben lang. 

Dabei bin ich mir sicher, dass viele Frauen ganz genau wissen, wovon ich spreche. 

Innerlich spüre ich immer wieder die Zerrissenheit: Ich will mich nicht fertig machen. Ich möchte einen gesunden Bezug zu meinem Körper haben, und mit ‚gesund‘ meine ich nicht schlank oder dünn. Denn ein schlanker Körper ist nicht zwangsläufig ein gesunder Körper. Aber genau diese Überzeugung hat sich mir eingebrannt, wie so vieles, wenn es um den Körper der Frau geht. Es ist belastend, manchmal so stark, dass es mich erdrückt.

„Die Erschöpfung der Frauen“: Ein tiefgehender Einblick in die Körperscham

Das Buch „Erschöpfung der Frauen“ widmet ein ganzes Kapitel dem Thema Körperscham. Es enthüllt, wie Frauen durchschnittlich alle dreißig Sekunden ihr Aussehen überprüfen. Dies geschieht jedoch nicht aus einem liebevollen, sondern aus einem ängstlichen, strengen und oft selbstkritischen Blickwinkel. Diese ständige Selbstüberwachung ist nicht nur erschöpfend, sondern oft auch gesundheitsschädigend. Sie raubt Frauen die Energie und Zeit für andere, wichtigere Aspekte ihres Lebens.

Die Forschung zeigt, dass Frauen aller Altersgruppen und Schichten die Auswirkungen gesellschaftlicher Schönheitsnormen erleben. Es gibt zwar Unterschiede bezüglich des Alters, diese sind jedoch weniger signifikant als erwartet. In einer Gesellschaft, die Schönheit mit Jugend gleichsetzt, sind Frauen bis ins hohe Alter hinein enormen Anforderungen ausgesetzt. Über 60 Prozent der Frauen zwischen 60 und 70 Jahren und fast 80 Prozent der 54-jährigen Frauen berichten von Körperunzufriedenheit. Diese Zahlen zeigen, dass der Druck, jugendlich und schön zu erscheinen, tief in der weiblichen Psyche verankert ist.

Das Buch hebt auch hervor, dass viele Frauen den Schönheitsdruck internalisiert haben und versuchen, die Illusion der Jugend durch ständige Körperüberwachung aufrechtzuerhalten. Diese anhaltende Körperbeobachtung kann zu Körperscham und Angst vor den herrschenden Schönheitsnormen führen. In Verbindung mit diesen negativen Erfahrungen reduziert die Selbst-Objektivierung auch die Möglichkeiten für Vergnügen und Entspannung. Viele Mädchen und Frauen sind fast ununterbrochen mit ihrem Aussehen und der Frage beschäftigt, was andere von ihnen denken und wie sie bewertet werden.

Als wäre das nicht schon schlimm genug: “Gerisch zitiert eine Patientin: »Ich fühlte mich so dick, so hässlich, ich stand stundenlang vor dem Spiegel, um etwas Schönes an mir zu finden, aber es wollte mir einfach nicht gelingen; schließlich nahm ich das Messer und schlitzte mir die Arme auf.« Eine andere sagte: »Ich fühlte mich plötzlich winzig, wie ein Zwerg unter Riesen und wollte einfach verschwinden. Da nahm ich die Tabletten.« Oder kehrseitig: »Ich fühlte mich monströs wie ein Monster aus einem Computerspiel und wollte diesem Elend einfach nur ein Ende bereiten.«

Ein emotionaler Aufruf

Beim Lesen dieser Zeilen steigen mir die Tränen in die Augen. Ich bin entsetzt, fassungslos und wütend darüber, dass ich und viele andere Frauen mit dieser Bürde leben. Ich habe es satt, vollgestopft mit Idealen und Selbstabwertungen zu sein. Ich bin erschöpft von den Jahren, in denen ich mich nur mit meinem Körper und Aussehen beschäftigt habe.

Ich möchte in Würde altern, aber ich weiß nicht, wie. Auf Instagram sehe ich Frauen, die gegen das Körperideal kämpfen. Doch auch hier wird oft ein Bild von Schönheit vermittelt. Es ist verwirrend und zeigt, dass wahre Freiheit schwer zu erreichen ist.

Auf der Suche nach Gleichgewicht und Akzeptanz

Vielleicht geht es nicht darum, sich vollständig von diesen Idealen zu befreien, sondern vielmehr um Akzeptanz und Bewusstsein. Es geht darum, ein gesundes Gleichgewicht zu finden, das Erbe unserer Mütter und Großmütter anzuerkennen und gleichzeitig unseren eigenen Weg zu gehen. Dieser Balanceakt zwischen Loslassen und Annehmen ist ein Prozess, der Geduld und Selbstliebe erfordert.

„Der Trost der Schönheit“

Im flüsternden Gewirr der Buchläden finde ich Ruhe – meine Zuflucht vor der Welt. Bei meinem letzten Streifzug fiel mir auf, dass ich instinktiv mehr Werke von Autoren wählte. War es Zufall? Meine Neugier erwachte, und die Recherche enthüllte eine bittere Wahrheit: Ein Ungleichgewicht, das tiefer liegt als bloße Zufälligkeit.

„Ein Bericht über die Frühjahrsprogramme der Verlage Hanser, Fischer und Rowohlt offenbart einen Autorinnenanteil von gerade einmal 22 bis 30 Prozent. Generell sind es nur 40 Autorinnen auf 60 Autoren, mit einem besonders starken Missverhältnis in Genres abseits der leichten Unterhaltung.“

Es ist ein bekanntes Muster, doch heute möchte ich nicht die Missstände in den Fokus rücken, sondern eine Stimme, die mich erreicht hat.

Gabriele von Arnims „Der Trost der Schönheit“ war ein Zufallsgriff und die ersten Zeilen ließen mich innehalten: „Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten. An Wege, Räume, Purzelbäume. Der Trost der Schönheit ist vielleicht Eskapismus, aber ganz gewiss auch notwendiger Selbsterhalt.“

Das Buch ist ein Abenteuer – ein literarisches Eintauchen in die Schönheit als Gegenpol zum Getöse der Welt.

Wie oft dachte ich es nicht nur, sondern sprach es auch laut aus: „Wie schön!“ 

Durchatmen, lächeln und innehalten, hielten bis zur letzten Seite an. 

„Der Trost der Schönheit“ ist ein Werk, das unsere Zeit dringend benötigt.

Die Texte sind eine Sammlung persönlicher Geschichten und Reflexionen, die tiefgründig die Facetten der menschlichen Erfahrung – Empathie, Trauer, Freude und Leid – erkunden. Sie thematisieren die Notwendigkeit, Pausen von den Problemen der Welt zu nehmen, und betonen die Rolle der Schönheit als Rettungsanker.

Dieses Buch ist ein Nachdenken über menschliche Resilienz in einer von Schönheit und Tragödie gezeichneten Welt. Es lädt uns ein, über unsere Position inmitten globaler Unruhen nachzudenken und wie wir zwischen Empathie und Selbstfürsorge ein Gleichgewicht finden können.

In diesem literarischen Schatz offenbart sich auch meine weibliche Seite der Systemik. Das Buch spiegelt den systemischen Ansatz wider – es betrachtet das Leben in seiner Ganzheit, verknüpft die Schönheit mit dem Schmerz, das Individuum mit dem Kollektiv. Es lehrt uns, die Komplexität unseres Daseins zu umarmen und unsere persönlichen Erfahrungen als Teil eines größeren Ganzen zu sehen. Gabriele von Arnim hat nicht nur ein Buch geschrieben; sie hat einen systemischen Dialog geschaffen, der die Brücke schlägt zwischen unserem inneren Erleben und der äußeren Welt. In ihrer Reflexion zeigt sich die wahre Kunst der Systemik: Verbindung aufzubauen – zwischen Worten, Menschen, Gefühlen und letztlich der Gesellschaft selbst.

„Wir sind keine Richter*innen“ – Das Ringen um Differenzierung in der Debatte um rituelle Gewalt

Mit einem Spiegel-Artikel und Jan Böhmermanns Show zu ritueller Gewalt wurde ich und mein therapeutischer Umkreis ziemlich aufgewühlt. Immer mal wieder wird die Existenz organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt sowie deren Folgen angezweifelt. Weiterhin werden die Berichte darüber teilweise mit (antisemitischen) Verschwörungsideologien vermischt und nicht eindeutig davon abgegrenzt. In diesem Kontext wird außerdem der psychotherapeutischen Berufsgruppe unterstellt, die Fähigkeit zu besitzen durch suggestive Techniken und Grenzüberschreitungen, Erinnerungen an schwere Gewalterfahrungen einpflanzen zu können. Was mir vor allem Sorge bereitet: Es schleicht sich scheinbar dadurch bei mir und meinen Kolleg*innen eine Furcht ein, Hypothesen zu möglicherweise traumatischem Erleben aufzustellen und beschriebene Gewalt als eben diese zu benennen.

Ein paar Wochen lang beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema, diskutierte bisweilen hitzig mit Kolleg*innen und begann an meinen bisherigen Überzeugungen zu zweifeln. Gleichzeitig fiel mir auch hier wie in anderen Debatten auf, dass es mir schwer zu fallen scheint, Grautöne / Ambiguitäten / Widersprüche auszuhalten. Es gilt vermeintlich eine Seite zu wählen und dann möglichst alle Widersprüche zu neutralisieren. Doch so funktioniert unsere Welt und vor allem unsere therapeutische Arbeit nicht. Nach Wochen des starken inneren Seegangs sowie etwas zeitlichem Abstand kehrte ich wiederum zu bestimmten Überlegungen angereichert mit Grautönen zurück:

Unser therapeutischer Raum ist kein Gerichtssaal und wir sind keine Richter*innen. Wir knüpfen an den Geschichten an, die uns unsere Klient*innen berichten möchten. Menschen und Situationen sind komplex und es gibt keine „perfekten Opfer“, sondern immer eine Dynamik (die sich möglicherweise auch in der Arbeitsbeziehung zeigt und dringend reflektiert werden sollte, wenn ich mir eine eher psychodynamische Perspektive erlauben darf). Es gilt vielleicht, eine Balance zu finden sowohl zwischen einer manchmal nötigen Parteilichkeit mit den Überlebenden jeglicher Art von Gewalt, als auch einer neutraleren Distanz, aus der wir Muster beobachten können. Dabei liegt es in unserer fachlichen Verantwortung, als gewaltvoll beschriebenes Handeln auch als solches einzuschätzen sowie mutig Hypothesen laut werden zu lassen, ohne sich in diese zu verlieben. Realität ist natürlich, dass uns auch letzteres in unserem Arbeitsalltag passiert und wir vielleicht auch aus Betroffenheit impulsiv reagieren sowie Teil der Dynamik werden. Die Antwort auf die Frage, wie diese Balance im Blick behalten werden kann, ist für mich ganz klar Supervision und interkollegialer Austausch als Bestandteil professionellen, verantwortungsvollen Handelns. Besonders hervorzuheben ist dieser Teil unserer Verantwortung in einem herausfordernden Bereich, in dem wir als Fachpersonen unweigerlich mit teilweise sogar Entsetzlichem konfrontiert und aufgefordert sind, den therapeutischen Rahmen zu halten.

Natürlich sind wir außerdem ethischen Grundsätzen verpflichtet. Gleichzeitig ist nicht abzustreiten, dass Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch in allen Kontexten stattfinden, in denen es Hierarchien gibt, und das gilt auch für den therapeutischen Raum. Für mich hat sich dafür noch mal der Blick geschärft. Ich möchte diese Geschichten ernst nehmen und unabhängig von einer konkreten Personalie nicht reflexartig meinen gesamten Berufsstand in Schutz nehmen, sondern auch hier Nuancen wahrnehmen und Grenzüberschreitungen benennen können.

Vernachlässigt werden dürfen außerdem nicht die gesellschaftlichen Kontexte, in denen diese Debatte geführt wird. Als einen dieser Kontexte möchte ich die Berichtslage zu aktuelleren sogenannten „Mee-Too“- Geschehnissen nennen. Neben Solidaritätsbekundungen müssen Überlebende immer wieder Unglaube, Anschuldigungen, Hass und eine perfide Täter-Opfer-Umkehr aushalten. Dabei stellt sich für mich die Frage, wem reflexartig geglaubt und welche Hürden dadurch allen Menschen mit Gewalterfahrungen auferlegt werden, ihre (vielleicht erstmal unglaublich anmutenden) Geschichten zu erzählen.

Zum Nachlesen:

Versachlichungspapier Fachverband Traumapädagogik: https://fachverband-traumapaedagogik.org/files/Versachlichungspapier%20ORG_06.04.23.pdf Heruntergeladen von: https://fachverband-traumapaedagogik.org/start.html

Rise and Fall of the false memory foundation (Englisch): https://news.isst-d.org/the-rise-and-fall-of-the-false-memory-syndrome-foundation/

Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21

Ein Blick in „Die Erschöpfung der Frauen“ von Franziska Schutzbach

Stell dir einen Moment lang vor, du balancierst auf einem schmalen Drahtseil, das über einem tiefen Abgrund gespannt ist. Jeder Schritt, den du machst, erfordert höchste Konzentration und Anstrengung. Du weißt, dass ein einziger falscher Schritt Konsequenzen haben kann. Dieses Bild mag metaphorisch sein, aber für viele Frauen ist es eine tägliche Realität.

In unserer Gesellschaft wird Weiblichkeit oft mit Fürsorglichkeit gleichgesetzt. Frauen werden als diejenigen angesehen, die für emotionale Unterstützung, Harmonie und Beziehungsarbeit verantwortlich sind. Sie tragen die unsichtbare Last, anderen – sei es der Familie, den Partnern, der Öffentlichkeit oder dem Arbeitsplatz – ihre Aufmerksamkeit, Liebe, Zeit und Attraktivität zu „schulden“.

Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach beleuchtet in ihrem Buch „Die Erschöpfung der Frauen“ diese allgegenwärtigen Erwartungen und zeigt auf, wie sie Frauen in die Erschöpfung treiben. Sie führt uns in eine Welt, in der Frauen unaufhörlich darum kämpfen, den Erwartungen gerecht zu werden, und dabei oft übersehen werden.

„Ob als Mütter oder als Mädchen, ob als Frauen verschiedener ethnischer Hintergründe, als Trans- oder Non-Binäre Personen, als dicke oder lesbische Frauen, ob im Pflegeberuf oder als Unternehmerinnen“ – die Verausgabung hat unterschiedliche Ausmaße und unterschiedliche Ursachen. Doch eines haben diese Frauen gemeinsam: Sie leisten unaufhörlichen Widerstand gegen ein System, das von ihnen alles erwartet und wenig zurückgibt.

In „Die Erschöpfung der Frauen“ sehen wir nicht nur die Erschöpfung, sondern auch die Stärke und den Widerstand dieser Frauen. Wir sehen, wie sie sich gegen die Ausbeutung ihrer Energie, ihrer Psyche und ihrer Körper erheben und zu einer treibenden Kraft für neue Arbeits- und Lebensweisen werden.

Dieses Buch ist mehr als nur eine Lektüre. Es ist ein Aufruf zur Empathie und zur Anerkennung der unsichtbaren Belastungen, denen Frauen täglich ausgesetzt sind. Es fordert uns auf, genauer hinzusehen, zuzuhören und die Geschichten der Frauen zu verstehen, die im Schatten der Gesellschaft agieren.

In den kommenden Beiträgen möchte ich in einige Themen tiefer eintauchen, die in „Die Erschöpfung der Frauen“ behandelt werden und darüber nachdenken, wie wir diese als  Systemische Therapeut*innen in unserer alltäglichen Berufspraxis berücksichtigen können. Dieses Buch öffnet die Tür zu einer wichtigen Diskussion über die Geschlechterdynamiken in unserer Gesellschaft, und ich lade dich herzlich ein, dich dieser Diskussion anzuschließen.

Ich freue mich schon auf einen inspirierenden Austausch.

Ein eindringlicher Appell zur Veränderung: Gemeinsam gegen patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt!

Ich habe gehadert. Ich habe lange überlegt: Darf ich mich wirklich als Frau öffentlich und laut positionieren? Allein diese Tatsache macht mich unglaublich wütend!

Nicht nur, dass ich als Mädchen mit meiner Wut unterdrückt wurde: Es führt sich bis heute fort, indem ich mich als erwachsene Frau nicht mit meiner Wut zu zeigen getraue.

Mit diesem Artikel setze ich ein Zeichen: Ich zeige meine Wut!

Der Anlass meiner Wut sind die Vorwürfe gegenüber Rammstein: Immer mehr Frauen berichten von systematischen (Macht-) Missbrauch und sexualisierter Gewalt auf und nach Konzerten der Band. 

Anfang Juni scrolle ich durch Artikel, Videos und Kommentare. Mit Erschrecken wird mir bewusst: Ich bin eine stillschweigende Beobachterin! 

Denn insbesondere habe ich Angst, mich in den sozialen Medien dazu zu äußern und zu positionieren. 

Doch meine Wut lässt sich nicht mehr unterdrücken und wird zu dem wichtigsten Mitteln, so dass dieser Artikel entstehen kann. 

Es ist meine Verantwortung als Frau, Therapeutin und Dozentin, ein Zeichen zu setzen: Deshalb spreche ich mich in aller Deutlichkeit für Frauen, die sexuelle Gewalt, Belästigungen und Übergriffe erlebt haben aus. Ich glaube euch!

Gleichzeitig zeige ich mich als Erlebende.

Diese Enthüllungen werfen ein erschreckendes Licht auf die patriarchalen Strukturen und den Machtmissbrauch, die in der Musikindustrie und darüber hinaus weit verbreitet sind. 

Doch lasst mich klarstellen: Dies ist kein isoliertes Phänomen, das nur die Musikbranche betrifft. Vielmehr verdeutlicht es ein allgemein wichtiges, allgegenwärtiges und ernstzunehmendes Thema, das in unserer Gesellschaft existiert – die systematische Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und Minderheiten. Diese besorgniserregenden Vorfälle sollten uns aufrütteln und uns dazu bewegen, nicht nur die Musikindustrie, sondern sämtliche Bereiche zu hinterfragen, in denen solche ungleichen Machtverhältnisse und sexuelle Gewalt weiterhin präsent sind. Es ist an der Zeit, dass wir kollektiv dafür einstehen, Veränderungen herbeizuführen, Gerechtigkeit zu fordern und eine Kultur des Respekts und der Gleichberechtigung zu fördern.

Ich finde es erschreckend und schockierend, dass Menschen sich anmaßen infrage zu stellen, ob Menschen sexualisierte Gewalt erfahren haben.

Es ist entsetzlich, dass Frauen immer noch gezwungen sind, die Schuld der Täter zu beweisen, wenn sie den Mut haben, über solche traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Erlebende sexualisierter Gewalt und Belästigung müssen oft mit einem undurchdringlichen Dickicht von Zweifeln und Schuldzuweisungen kämpfen. Dabei sollten wir uns fragen, warum so viele Menschen bereit sind, die Täter zu beschützen und die Stimmen der Opfer zu unterdrücken, nur weil sie wie in diesem Fall Mitglieder einer erfolgreichen Band sind.

Patriarchale Strukturen sind in unserer Gesellschaft noch immer tief verwurzelt. In der Musikindustrie sind sie besonders deutlich zu erkennen, da sie ein Umfeld schaffen, in dem männliche Künstler mit einer beunruhigenden Macht über weibliche Fans ausgestattet sind. Diese Dynamik verstärkt sich durch den übermäßigen Ruhm und die Verehrung, die vielen Bands zuteilwerden. Wenn Menschen ihre Idole anhimmeln, entsteht ein Machtgefälle, das Missbrauch begünstigt.

Es ist schockierend, dass sexualisierte Gewalt zu etwa 90% von Männern begangen wird. Dies ist ein alarmierender Beweis für die tiefsitzenden Probleme in Bezug auf Geschlechterungleichheit und toxische Männlichkeitsnormen in unserer Gesellschaft. Als Frau stehe ich Seite an Seite mit all den mutigen Frauen, die sich gegen diese Ungerechtigkeiten erheben und den Mut finden, ihre Stimmen zu erheben.

Als Systemische Therapeut*innen tragen wir eine besondere Verantwortung, uns mit diesen drängenden Themen auseinanderzusetzen. Unsere Arbeit dreht sich um das Verständnis von Systemen und wie sie auf individuelle Erfahrungen und Verhaltensweisen einwirken. In diesem Kontext können wir nicht ignorieren, wie patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt ganze Systeme durchdringen und schädigen.

Es ist unerlässlich, dass Therapeut*innen, unabhängig vom Geschlecht, sich aktiv für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit einsetzen. Als weibliche Therapeut*innen können wir uns einfühlen und Verständnis für die Erfahrungen von Opfern sexualisierter Gewalt aufbringen, was für unsere Klientinnen von großer Bedeutung sein kann. 

Zugleich appelliere ich an unsere männlichen Kollegen, sich dieser Themen mit besonderer Sensibilität zu widmen.

Männliche Therapeuten spielen eine essenzielle Rolle in diesem Kampf. Indem sie sich mit Entschlossenheit gegen patriarchale Strukturen und Machtmissbrauch positionieren, können sie als Vorbilder für ihre männlichen Klienten dienen. Ihre Unterstützung ist entscheidend, um ein Umdenken in Bezug auf toxische Männlichkeitsnormen und die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt zu fördern. Männer können ihre Position und ihr Privileg nutzen, um aktiv Teil der Veränderung zu sein und die Stimmen der Opfer zu stärken.

Es steht für mich nicht zur Diskussion, dass es unser aller Verantwortung ist, sichere Räume zu schaffen, in denen Klient*innen über ihre Erfahrungen sprechen können. 

Wir müssen – und in diesem Kontext verwende ich bewusst genau dieses Wort – dazu beitragen, Scham und Stigmatisierung zu reduzieren und Menschen dabei unterstützen, Stärkung zu erfahren.

Lasst uns sicherstellen, dass jede Stimme gehört wird, dass Opfer Unterstützung erhalten und dass Täter zur Verantwortung gezogen werden.

Lasst uns diese Verantwortung übernehmen und unsere Therapiepraxis zu einem Ort machen, an dem Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Identität oder ihrer Erfahrung geschützt und unterstützt werden.

Lasst uns gemeinsam als Therapeut*innen eine solidarische Gemeinschaft bilden, die aktiv gegen patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt auftritt. Unsere Stimmen können dazu beitragen, eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen und eine Welt zu gestalten, in der Gleichberechtigung, Respekt und Mitgefühl die Grundpfeiler sind.

Diejenigen, die ihre Macht missbrauchen, dürfen nicht länger ungestraft davonkommen. Gemeinsam können wir Veränderung bewirken.

Macht euch stark füreinander! Erhebt eure Stimme und seid laut!

(Ich habe mich in meinem Artikel bewusst von der Bezeichnung „Opfer“ distanziert, da es Menschen als wehrlos darstellt. Stattdessen möchte ich appellieren, wie im Artikel von „Erlebenden“ zu sprechen.)

Schreib gern in die Kommentare, wie es dir mit diesem Artikel geht. Was bringt dieser bei dir zum Anklingen? 

Die weibliche Seite – Was ist das eigentlich?

Während unserer Redaktionssitzungen sprechen wir immer wieder darüber, was das Weibliche in unserer Überschrift eigentlich ausmacht und wen wir damit ansprechen wollen. Dabei vertreten wir vier unterschiedliche Standpunkte, die sich überschneiden, aber auch stellenweise auseinander gehen. Wir wollen uns transparent damit auseindersetzen und dabei in systemischer Manier erstmal vor allem Fragen stellen, um im Verlauf möglicherweise eine vorläufige Antwort zu finden. Außerdem möchten wir euch als Leser*innen herzlich einladen, eure Gedanken zum Thema in Kommentaren oder eigenen Beiträgen zu teilen.

Ich persönlich bin bzgl. der Überschrift immer wieder im inneren Konflikt. In meiner eigenen politischen Entwicklung war es für mich wesentlich, mich als Frau zu erkennen und zu identifizieren. Das Erkennen der mit dieser Identität einhergehenden strukturellen Benachteiligung war ein schmerzhafter und zugleich bestärkender der Prozess, der mich immer wieder dazu befähigt, Geschehnisse aus einer weiteren Perspektive wahrzunehmen und vermeintlich in Stein gemeißeltes zu hinterfragen. Dadurch ist es für mich wichtig, dem Weiblichen in Domänen, in denen vor allem Männliches unterschiedliche Räume dominiert, Raum zu erkämpfen und diesen auch zu nutzen.

Gleichzeitig frage ich mich immer wieder: Wie kann ich aus einer weiblichen Perspektive schreiben und agieren, ohne zu Recht hinterfragte Schubladen und Stereotype zu bedienen? Was ist überhaupt meine persönliche weibliche Perspektive? Reicht es aus Frauen, die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken oder sollten wir uns immer wieder die weibliche Brille zu eigen machen und aus dieser schreiben?

Weiterhin muss diesem Kontext auch die suggerierte Binarität der Kategorien weiblich und männlich hinterfragt werden. Dabei befinden wir uns in einem, sicherlich aus anderen emanzipatorischen Zusammenhängen bekannten, Konflikt. Um bisher scheinbar Unsichtbares sichtbar zu machen, müssen (erzwungene) Zugehörigkeiten benannt werden, die eigentlich aufgelöst werden wollen. Gleichzeitig werden dabei Identitäten, die in dieser normativen Logik keinen Platz haben vernachlässigt, auch wenn die Binarität als soziale Konstruktion markiert wird.

Eine interessante Perspektive nimmt dazu das Feministische Streikbündnis Leipzig ein, die sich maßgeblich an der Streikorganisation für den 8. März beteiligen. Kämpfe gegen das Patriachat sowie das Sichtbar-machen verschiedener, sich teilweise überschneidender Unterdrückungsformen werden laut Selbstverständnis aus einem intersektionalen Verständnis heraus und unter dem Namen „Feministischer Kampftag“ vereint und organisiert. Dabei stehen FlINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-binäre, Trans und Agender Personen) im Vordergrund und die bewusste Abkehr von einem Feminismus, der sich auf das Bestärken einzelner Personen bezieht, um einer Spaltung entgehen zu wirken.

Die Entwicklung vom „Frauenkampftag“ zum „Feministischen Kampftag“ war möglicherweise mit ähnlichen Denkprozessen wie den unseren verbunden. Was von diesem Verständnis könnten bzw. sollten wir für unser eigenes Schaffen in der systemischen Welt nutzen?

Wir freuen uns über eure Kommentare und Beiträge.

Ergänzung: Im aktuellen Missy-Magazine (online hinter einer Paywall) wird in einem Essay die Geschichte des Akronyms FLINTA beschrieben und ausgeführt wer eigentlich für welchen Buchstaben wie gekämpft hat und welche Abnutzungserscheinungen sich im Mainstream zeigen.

Sozialisierung, Klassenunterschiede, Zweifel

Unsere Sozialisierung und familiäre Hintergründe haben einen starken Einfluss auf unsere Einstellungen und Überzeugungen. In Bezug auf Bildung und Karriere haben Menschen aus unterschiedlichen Klassen häufig unterschiedliche Möglichkeiten, Ressourcen und Netzwerke. 

Gerade einmal 21% der Nichtakademiker*innen-Kinder beginnen ein Studium. 15% der Nichtakademiker*innen-Kinder erwerben einen Bachelortitel.

Ich möchte hier meine Geschichte erzählen und weiß: Ich erzähle damit nicht nur meine eigene!

Als Frau aus einer reinen Arbeiterinnenfamilie – tatsächlich nur Frauen – zu sein, bedeutete für mich mit Vorurteilen und Stereotypen konfrontiert zu werden. 

Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass höhere Bildung und akademische Abschlüsse etwas für diejenigen sind, die über einen besseren sozialen Status oder eine bessere finanzielle Lage verfügen.

Höhere Bildung und Karriere galten für mich als unerreichbar.

Unsere Prägungen und Überzeugungen, die wir in unserer Kindheit und Jugend aufnehmen, haben einen tiefgreifenden Einfluss auf uns.

Meine Schulzeit begann aufgrund meiner sozialen Herkunft – insbesondere unserer finanziellen Armut – mit Ausgrenzungen und Mobbing. Der Satz: „Ich bin nicht gut genug.“, hat sich mir frühzeitig eingebrannt.

Meine Schulzeit beendete ich mit einer Bewerbung an einer Berufsschule zum Erwerb der Fachhochschulreife.

Sie wurde abgelehnt. Die unausgesprochene Botschaft: „Du bist nicht gut genug!“

So brach ich zunächst eine Ausbildung nach zwei Jahren ab. Es folgte eine dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin. Der Abschluss: Mein erstes Erfolgserlebnis.

Doch nach drei Jahren war ich völlig ausgebrannt und wusste nur eines: Ich will es nochmal versuchen – das Fachabitur. 

Die Bewerbung verlief erfolgreich, doch am Abschluss im ersten Anlauf scheiterte ich!

Doch habe ich in in meinem Leben eines gelernt: Kämpfen! (Kein schönes Wort und kein schönes Gefühl!)

Und so schaffte ich es im zweiten Anlauf. 

Ich träumte währenddessen schon von einem Studium Soziale Arbeit. Doch für mich war es eben genau das: Ein Traum – unerreichbar.

Ich weiß noch wie heute, wie ich aus dem Briefkasten die Zusage der HTWK Leipzig für meinen Studienplatz in den Händen hielt und mir die Tränen über die Wangen liefen. 

All die Jahre harte Arbeit zahlten sich mir in diesem Moment aus. 

An dieser Stelle mache ich einen kleinen – natürlich für mich großen – Sprung: Erfolgreich beendete ich das Studium und die anschließende Ausbildung zur Systemischen Einzel-, Paar- und Familientherapeutin. Seit anderthalb Jahren bin ich selbstständig. SELBSTSTÄNDIG!

Wie oft habe ich es in den vergangenen Jahren nicht fassen können: Ich bin Sozialarbeiterin. Ich bin Systemische Therapeutin. Ich bin selbstständig. Wie oft habe ich gesagt: „Ich kann das nicht glauben!“

Obwohl ich durch meine Leistungen bewiesen haben, dass ich in der Lage bin, solche Ziele zu erreichen, zweifle ich bis heute immer wieder an meinen Fähigkeiten und Kompetenzen.

Ich betone bis heute, nur das Fachabitur erreicht zu haben und mit Sicherheit keinen Fachartikel schreiben zu können. 

Bis heute habe ich das Gefühl, nicht zur „akademischen Welt“ zu gehören.

Immer wieder schleicht sich meine Sozialisierung von hinten an und flüstert mir zu: „Bist du dir sicher, dass DU das wirklich kannst?“

Doch wie sagt man so schön: Alles hat sein Gutes!

Denn gerade in meiner Arbeit als Systemische Therapeutin kann ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und Prägungen eine besondere Verbindung zu meinen Klient*innen aufbauen, die ähnliche Herausforderungen erlebt haben.

Meine Perspektive ermöglicht es mir, die Bedeutung von Sozialisierung und Klassenbewusstsein in ihrem Leben zu verstehen und wie diese Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen beeinflussen. 

Meine eigene Sozialisation und Erfahrungen haben mich gelehrt, dass unser Umfeld und die Menschen in unserem Leben eine starke Rolle spielen können, wenn es darum geht, unser Selbstbild und unsere Überzeugungen zu formen. 

Indem ich meine eigenen Prägungen reflektiere, kann ich besser verstehen, wie sie meine Sicht auf die Welt und meine eigenen Überzeugungen beeinflussen.

Gleichzeitig müssen auf höherer Ebene Maßnahmen ergriffen werden, um den Bildungszugang für alle zu verbessern und die Bildungsungleichheit zu verringern. Dazu gehören beispielsweise Förderprogramme und Mentoring-Initiativen, die Kinder und Jugendliche aus bildungsniedrigen Familien unterstützen und ihnen eine Chance auf eine gute Bildung und eine erfolgreiche Zukunft geben.

Wie sieht deine Geschichte aus? 

Lass uns gern in den Kommentaren daran teilhaben. Wir freuen uns darauf!