Anstrengend sein

In meiner therapeutischen Arbeit spreche ich mit meinen Klient*innen oft über Wut. In den Gesprächen mit Frauen geht es meistens darum, diese Emotion überhaupt anzuerkennen und in das Selbstbild zu integrieren. Oft wird Wut negativ bewertet, als unangenehm markiert. Andere könnten mit Abgrenzung und Abwertung reagieren, deswegen wird der Ärger eher unterdrückt oder geschluckt, anstatt ihn als Hinweis für die eigenen Grenzen zu interpretieren.

Dabei kann weibliche Wut aus Unterdrückung, Ungerechtigkeit oder Diskriminierung resultieren und hat die Kraft, diese Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Gleichzeitig oder gerade deswegen gelten wütende Frauen als abstoßend, dramatisch, nicht weiblich und verrückt. Wütende Frauen sind hässliche Frauen. Wütende Frauen werden als weniger kompetent eingeschätzt.

Auch ich habe sowohl in privaten als auch beruflichen Beziehungen die Erfahrung gemacht, dass mein geäußerter Ärger, z.B. nur in Form einer kritischen Rückmeldung, in manchen Kontexten bagatellisiert, lächerlich gemacht, pathologisiert bzw. mir meine Wahrnehmung abgesprochen wird. Dabei scheinen die Strategien einem bestimmten Muster zu folgen. Angesprochene Personen fokussieren auf die Emotion, die transportiert wird, und gehen nicht auf inhaltliche Komponenten ein. Gleichzeitig wird der Vorwurf zurückgegeben, dass der gewählte Ton nicht angemessen sei. Damit tauschen sich plötzlich die Rollen zwischen der kritisierenden und kritisierten Person. Das verwirrt und macht zunächst sprachlos. Bleibe ich dann mit meiner inhaltlichen Position hartnäckig, gelte ich schnell als anstrengend und erschöpfend.

Und wieder drängt sich die kollektive Erfahrung von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen auf, die sich einfach nur in andere Worte als noch vor 100 Jahren kleidet. Wir sind eben nicht mehr hysterisch, sondern zu emotional und anstrengend. Ein klassisches Ablenkungsmanöver von berechtigter Kritik.

Auch oder gerade im systemischen Kontext mache ich diese Erfahrung. Unmut zu äußern scheint an sich schon verpönt, nicht Ressourcen- und Lösungsorientiert genug. Kritik trifft auf Rechtfertigungen und vermeintlich neutrale Äußerungen, die sich letztlich doch als Positionierungen lesen lassen. Nämlich für einen Status quo, der von strukturell verankerter Ignoranz von bestimmten Stimmen profitiert.

Aus systemischer Perspektive könnte ich mich nun fragen, worum geht es eigentlich? Was steckt hinter den Positionen, die schnell sehr vehement vertreten werden? Ein als besonders stark interpretierter Gefühlsausdruck, deutliche, wütende Worte können möglicherweise Ausdruck für eine ganze Kette von Unterdrückungserfahrungen stehen, die sich in diesem Moment entladen. Vielleicht wurde vorher schon so viel nicht gehört, dass die einzige Option ein Aufstampfen und Aufschreien zu sein scheint.

Und wozu könnte die Bagatellisierung und Rollenumkehr dienen? Machterhalt wäre meine Hypothese. Denn: Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage […] lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

In einem solchen Ringen um Gestaltungsfreiraum und Deutungshoheit lässt es sich schön festbeißen und abarbeiten. Denn wie in Goodrichs Zitat werden bei allen Beteiligten verschiedene verinnerlichte Muster (sexistische wie natürlich auch anderer biografisch und kontextbezogene Wechselwirkungen) mit dazugehörigen Gefühlen und Abwehr aktiviert. Das strengt an und bei fehlender Reflexion dieser Mechanismen aller Beteiligten, ist der Weg zu einer konstruktiven Betrachtung zunächst versperrt.

Wie navigiere ich also am besten in dieser Gemengelage? Ich denke es ist wichtig, Positionen klar zu vertreten, hartnäckig und unbequem zu sein. Doch wenn ich merke, dass sich ein Teil von mir dazu eingeladen fühlt, in dieser (natürlich zirkulär funktionierenden) Dynamik in die Rolle zu rutschen, die mir zugeschrieben wird, trete ich einen Schritt zurück.
Ich distanziere mich also, beobachte den Prozess und wäge die Optionen ab. Wenn ich mit dem gleichen nicht weitergekommen bin, dann sollte ich im systemischen Sinne etwas anderes probieren. Für mich heißt das manchmal, an anderer Stelle weiterzumachen, die mir beweglicher erscheint. Manchmal heißt es für mich auch, klare Konsequenzen zu ziehen und die Beziehungen auf andere Weise zu gestalten.
Denn auch wenn ich kein Gehör finde, muss ich mich nicht mit dem Status quo zufriedengeben und die Gewalt, die darin steckt, akzeptieren. Ich erlaube mir, meine Grenzen zu setzen und versuche darauf zu pfeifen, dass mich mein Gegenüber für anstrengend und schwierig hält.

Inspiriert auch durch: https://www.emotion.de/leben-arbeit/weibliche-wut

Feminismus in der Familientherapie Teil 2

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Zunächst habe ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (Hrsg., 1991) vorgestellt und möchte nun auch auf „Frauen und Macht“ von Thelma Jean Goodrich (Hrsg., 1994) verweisen.

Während des Lesens bemerkte ich wieder eine deutliche Aufregung: Wir sind nicht die ersten! Feministische Praxis in der Familientherapie ist nichts Neues und hat ihren Anfang auch sicher nicht erst in den 1990ern genommen. Die Autorinnen der Beiträge beschäftigen sich mit einem vermeintlich unbequemen Thema: Macht. Dabei setzen sie sich im ersten Teil mit Erscheinungsformen, Bedeutungen und Auswirkungen von Macht in einem patriarchalen System auseinander. Es folgen Ausführungen zu „weiblichen“ und „männlichen“ Zugängen zu Macht, Problemkomplexen und Ansätzen in der klinischen Praxis sowie den Auswirkungen auf die persönliche systemische Praxis.

Für einen konkreten Einblick möchte ich einige Autorinnen selbst zu Wort kommen lassen:

„Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage ist nicht nur peinlich, sondern lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

„Wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, einer Frau zu helfen, ihre persönlichen Möglichkeiten stärker einzufordern und wahrzunehmen, sei dasselbe, wie ihr zu helfen Macht zu besitzen. […] Ich halte es für unumgänglich, meine Arbeit mit meinen Klientinnen im Kontext einer patriarchalen Gesellschaft zu sehen und Therapie nicht mit einer Veränderung des Kontexts selbst zu verwechseln. […] Wenn ich den patriarchalen Kontext so verändern will, dass Frauen effektiv Macht besitzen […], muss ich mich außerhalb der Therapie politisch betätigen.“ (J.M. Avis)

„Es scheint klar, dass sich eine Gruppe, die sich als dominanter Teil der Gesellschaft herausgebildet hat, kein Interesse daran hat, ihre Fähigkeiten zur Ermächtigung anderer weiterzuentwickeln. Eine solche Gruppe würde vielleicht nicht einmal zugeben, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Aber es gibt sie. Frauen und einige Männer praktizieren sie seit Jahrtausenden. Vor uns liegt die Aufgabe, Wege zu finden, um diese wertvolle Fähigkeit in eine wechselseitig bereichernde Aktivität zu verwandeln“. (J.B. Miller)

„Das angebliche Leiden der Co-Abhängigkeit brandmarkt Frauen als krankhaft, weil sie genau die Züge aufweisen, die von der Gesellschaft als angemessenes weibliches Verhalten eingestuft werden. Da Frauen in diesem Kulturkreis dazu erzogen werden zu glauben, dass es richtig ist, im Dienste anderer zu leben und falsch selbst im Zentrum ihres Lebens zu stehen, ist es wohl kaum fair, ihnen jetzt zu sagen, dass sie krank seien, weil sie genau das tun, was ihnen antrainiert wurde.“ (C. Rampage)

„Nur wenn der Therapeut oder die Therapeutin die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und biologischen Zwänge, denen das Leben und Verhalten von Frauen unterliegen, wirklich versteht, kann er oder sie ermächtigend wirken.“ (J.M. Avis)

„Wenn Ehetherapie es versäumt, den wirtschaftlichen Kontext der Ehe und ihr Machtgefüge zu ergründen, lässt sie einen wesentlichen Punkt außer Acht, denn dieser bestimmt das Recht, die Bedingungen der Partnerschaft auszuhandeln und die Freiheit, die Beziehung notfalls zu beenden.“ (M. McGoldrick)

„Ich hoffe, dass die Familientherapie zu einer Kraft werden kann, die Männern und Frauen mehr Raum gibt für ihre eigene Art, sich mit ihrem Lebenspartner und ihren Freunden verbunden zu fühlen, wie auch mit ihrer Arbeit, der Gemeinschaft, in der sie leben, und anderen Generation umzugehen.“ (M. McGoldrick)

„Wir sind keine Richter*innen“ – Das Ringen um Differenzierung in der Debatte um rituelle Gewalt

Mit einem Spiegel-Artikel und Jan Böhmermanns Show zu ritueller Gewalt wurde ich und mein therapeutischer Umkreis ziemlich aufgewühlt. Immer mal wieder wird die Existenz organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt sowie deren Folgen angezweifelt. Weiterhin werden die Berichte darüber teilweise mit (antisemitischen) Verschwörungsideologien vermischt und nicht eindeutig davon abgegrenzt. In diesem Kontext wird außerdem der psychotherapeutischen Berufsgruppe unterstellt, die Fähigkeit zu besitzen durch suggestive Techniken und Grenzüberschreitungen, Erinnerungen an schwere Gewalterfahrungen einpflanzen zu können. Was mir vor allem Sorge bereitet: Es schleicht sich scheinbar dadurch bei mir und meinen Kolleg*innen eine Furcht ein, Hypothesen zu möglicherweise traumatischem Erleben aufzustellen und beschriebene Gewalt als eben diese zu benennen.

Ein paar Wochen lang beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema, diskutierte bisweilen hitzig mit Kolleg*innen und begann an meinen bisherigen Überzeugungen zu zweifeln. Gleichzeitig fiel mir auch hier wie in anderen Debatten auf, dass es mir schwer zu fallen scheint, Grautöne / Ambiguitäten / Widersprüche auszuhalten. Es gilt vermeintlich eine Seite zu wählen und dann möglichst alle Widersprüche zu neutralisieren. Doch so funktioniert unsere Welt und vor allem unsere therapeutische Arbeit nicht. Nach Wochen des starken inneren Seegangs sowie etwas zeitlichem Abstand kehrte ich wiederum zu bestimmten Überlegungen angereichert mit Grautönen zurück:

Unser therapeutischer Raum ist kein Gerichtssaal und wir sind keine Richter*innen. Wir knüpfen an den Geschichten an, die uns unsere Klient*innen berichten möchten. Menschen und Situationen sind komplex und es gibt keine „perfekten Opfer“, sondern immer eine Dynamik (die sich möglicherweise auch in der Arbeitsbeziehung zeigt und dringend reflektiert werden sollte, wenn ich mir eine eher psychodynamische Perspektive erlauben darf). Es gilt vielleicht, eine Balance zu finden sowohl zwischen einer manchmal nötigen Parteilichkeit mit den Überlebenden jeglicher Art von Gewalt, als auch einer neutraleren Distanz, aus der wir Muster beobachten können. Dabei liegt es in unserer fachlichen Verantwortung, als gewaltvoll beschriebenes Handeln auch als solches einzuschätzen sowie mutig Hypothesen laut werden zu lassen, ohne sich in diese zu verlieben. Realität ist natürlich, dass uns auch letzteres in unserem Arbeitsalltag passiert und wir vielleicht auch aus Betroffenheit impulsiv reagieren sowie Teil der Dynamik werden. Die Antwort auf die Frage, wie diese Balance im Blick behalten werden kann, ist für mich ganz klar Supervision und interkollegialer Austausch als Bestandteil professionellen, verantwortungsvollen Handelns. Besonders hervorzuheben ist dieser Teil unserer Verantwortung in einem herausfordernden Bereich, in dem wir als Fachpersonen unweigerlich mit teilweise sogar Entsetzlichem konfrontiert und aufgefordert sind, den therapeutischen Rahmen zu halten.

Natürlich sind wir außerdem ethischen Grundsätzen verpflichtet. Gleichzeitig ist nicht abzustreiten, dass Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch in allen Kontexten stattfinden, in denen es Hierarchien gibt, und das gilt auch für den therapeutischen Raum. Für mich hat sich dafür noch mal der Blick geschärft. Ich möchte diese Geschichten ernst nehmen und unabhängig von einer konkreten Personalie nicht reflexartig meinen gesamten Berufsstand in Schutz nehmen, sondern auch hier Nuancen wahrnehmen und Grenzüberschreitungen benennen können.

Vernachlässigt werden dürfen außerdem nicht die gesellschaftlichen Kontexte, in denen diese Debatte geführt wird. Als einen dieser Kontexte möchte ich die Berichtslage zu aktuelleren sogenannten „Mee-Too“- Geschehnissen nennen. Neben Solidaritätsbekundungen müssen Überlebende immer wieder Unglaube, Anschuldigungen, Hass und eine perfide Täter-Opfer-Umkehr aushalten. Dabei stellt sich für mich die Frage, wem reflexartig geglaubt und welche Hürden dadurch allen Menschen mit Gewalterfahrungen auferlegt werden, ihre (vielleicht erstmal unglaublich anmutenden) Geschichten zu erzählen.

Zum Nachlesen:

Versachlichungspapier Fachverband Traumapädagogik: https://fachverband-traumapaedagogik.org/files/Versachlichungspapier%20ORG_06.04.23.pdf Heruntergeladen von: https://fachverband-traumapaedagogik.org/start.html

Rise and Fall of the false memory foundation (Englisch): https://news.isst-d.org/the-rise-and-fall-of-the-false-memory-syndrome-foundation/

Feminismus in der Familientherapie Teil 1

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Als erstes möchte ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (1991) kurz vorstellen. Das zweite folgt in einem meiner nächsten Beiträge.

Zu Beginn wird die These aufgestellt, dass die Familientherapie bis heute (und das gilt sicher auch nicht nur für die 90er, sondern darüber hinaus) einer patriarchal bestimmten Perspektive verhaftet bleibt. Untermalt wird diese Hypothese durch Beiträge mehrerer Autor*innen zu verschiedenen Themenbereichen und Fragestellungen:

  • Zur Entwicklung systemischer Konzepte. Dabei wird die Arbeit gewürdigt und gleichzeitig die Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht bzw. Gender kritisch diskutiert.
  • Machtungleichheiten entlang von Klasse, race, Gender und Alter im Sinne von Hierarchien, die im theoretischen systemischen Diskurs unterbetont bleiben
  • Im Rahmen einer Falldarstellung aus feministischer Perspektive
  • Gedanken zu einem feministischen Modell in der systemischen Ausbildung
  • Analyse vermeintlich geschlechtsspezifischer Merkmale im Beratungskontext
  • Und weitere.

Dabei wird deutlich, welche Problematik eine Vernachlässigung dieser Perspektive mit sich bringt: Kontexte, in denen sich Frauen* bewegen, können weder ausreichend verstanden noch gewürdigt werden. Versteckt scheint dieses Hinwegsehen z.B. hinter einem reduzierten Verständnis von Neutralität und Zirkularität.

Außerdem schwingt in den Beiträgen immer wieder die Frage mit, wer Theorie entwickelt und damit auch aus welcher Perspektive. Oft scheint (auch in anderen Zusammenhängen) die (cis-) männliche Perspektive als vermeintlich neutral und objektiv zu gelten. Das gilt es zu hinterfragen und dazu entwickeln die Autor*innen dieser Publikation schon 1991 (!) spannende und inspirierende Zugänge.

Gleichzeitig bleibt beim Lesen und Entdecken dieser vielfältigen und langjährigen feministischen Tradition in der Familientherapie ein bitterer Beigeschmack. Ohne intensive Suche wäre ich nicht auf sie gestoßen und frage mich, warum diese Analysen scheinbar immer noch nicht in dem Maß ernst genommen werden, dass sie im breiten Diskurs ankommen. Im systemischen Sinne: Was braucht es noch…? Wahrscheinlich weiterhin eine kämpferische Haltung und Hartnäckigkeit, da voraussichtlich niemand freiwillig Platz machen wird.

Die weibliche Seite – Was ist das eigentlich?

Während unserer Redaktionssitzungen sprechen wir immer wieder darüber, was das Weibliche in unserer Überschrift eigentlich ausmacht und wen wir damit ansprechen wollen. Dabei vertreten wir vier unterschiedliche Standpunkte, die sich überschneiden, aber auch stellenweise auseinander gehen. Wir wollen uns transparent damit auseindersetzen und dabei in systemischer Manier erstmal vor allem Fragen stellen, um im Verlauf möglicherweise eine vorläufige Antwort zu finden. Außerdem möchten wir euch als Leser*innen herzlich einladen, eure Gedanken zum Thema in Kommentaren oder eigenen Beiträgen zu teilen.

Ich persönlich bin bzgl. der Überschrift immer wieder im inneren Konflikt. In meiner eigenen politischen Entwicklung war es für mich wesentlich, mich als Frau zu erkennen und zu identifizieren. Das Erkennen der mit dieser Identität einhergehenden strukturellen Benachteiligung war ein schmerzhafter und zugleich bestärkender der Prozess, der mich immer wieder dazu befähigt, Geschehnisse aus einer weiteren Perspektive wahrzunehmen und vermeintlich in Stein gemeißeltes zu hinterfragen. Dadurch ist es für mich wichtig, dem Weiblichen in Domänen, in denen vor allem Männliches unterschiedliche Räume dominiert, Raum zu erkämpfen und diesen auch zu nutzen.

Gleichzeitig frage ich mich immer wieder: Wie kann ich aus einer weiblichen Perspektive schreiben und agieren, ohne zu Recht hinterfragte Schubladen und Stereotype zu bedienen? Was ist überhaupt meine persönliche weibliche Perspektive? Reicht es aus Frauen, die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken oder sollten wir uns immer wieder die weibliche Brille zu eigen machen und aus dieser schreiben?

Weiterhin muss diesem Kontext auch die suggerierte Binarität der Kategorien weiblich und männlich hinterfragt werden. Dabei befinden wir uns in einem, sicherlich aus anderen emanzipatorischen Zusammenhängen bekannten, Konflikt. Um bisher scheinbar Unsichtbares sichtbar zu machen, müssen (erzwungene) Zugehörigkeiten benannt werden, die eigentlich aufgelöst werden wollen. Gleichzeitig werden dabei Identitäten, die in dieser normativen Logik keinen Platz haben vernachlässigt, auch wenn die Binarität als soziale Konstruktion markiert wird.

Eine interessante Perspektive nimmt dazu das Feministische Streikbündnis Leipzig ein, die sich maßgeblich an der Streikorganisation für den 8. März beteiligen. Kämpfe gegen das Patriachat sowie das Sichtbar-machen verschiedener, sich teilweise überschneidender Unterdrückungsformen werden laut Selbstverständnis aus einem intersektionalen Verständnis heraus und unter dem Namen „Feministischer Kampftag“ vereint und organisiert. Dabei stehen FlINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-binäre, Trans und Agender Personen) im Vordergrund und die bewusste Abkehr von einem Feminismus, der sich auf das Bestärken einzelner Personen bezieht, um einer Spaltung entgehen zu wirken.

Die Entwicklung vom „Frauenkampftag“ zum „Feministischen Kampftag“ war möglicherweise mit ähnlichen Denkprozessen wie den unseren verbunden. Was von diesem Verständnis könnten bzw. sollten wir für unser eigenes Schaffen in der systemischen Welt nutzen?

Wir freuen uns über eure Kommentare und Beiträge.

Ergänzung: Im aktuellen Missy-Magazine (online hinter einer Paywall) wird in einem Essay die Geschichte des Akronyms FLINTA beschrieben und ausgeführt wer eigentlich für welchen Buchstaben wie gekämpft hat und welche Abnutzungserscheinungen sich im Mainstream zeigen.

Das Problem ist die Lösung

von Josefine Bretag

Hier veröffentlichen wir unseren ersten Gastbeitrag. Der Text ist im Rahmen eines Einführungsseminars zu systemischer Beratung als Prüfungsleistung entstanden. Einige Texte fielen gerade vor dem Hintergrund des „Anfängerinnen“-Status besonders positiv auf und es entstand die Idee, diesen neuen Systemikerinnen die Möglichkeit zu anzubieten, ihre Gedanken öffentlicher zu teilen.

Für die systemische Praxis ist die Haltung der Berater*innen – nach Paulick als „innere Einstellung, die in das Handeln überführt wird.“1 – wichtiger Bestandteil. Eine dieser klassischen Haltungen stellt die Lösungsorientierung dar, die mittlerweile auch in die Coaching- und Beratungsszene großer Unternehmen Einzug gehalten hat.

In ihrer stärksten Interpretation oder historischen Ausprägung zeigt diese sich radikal im Sinne der lösungsorientierten Kurzzeittherapie von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg aus den 70er Jahren. Nach diesem Ansatz ist das Sprechen über Probleme sekundär bis vernachlässigbar, fokussiert werden vielmehr Lösungen und Lösungsmöglichkeiten.2 Diese oder ähnliche Varianten einer stark lösungsorientierten Haltung bergen jedoch auch Gefahren bzw. Konfliktpotenzial für die Beratung, denn oftmals gibt es ein allzu menschliches Bedürfnis über Probleme zu sprechen, sich etwas von der Seele zu reden oder auch genauer ergründen zu wollen, worum es sich bei einem Problem handelt. Sprich: ein Bedürfnis nach
Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, welches so womöglich übergangen werden kann.

Auch bietet sich hier die Kritik des neoliberalen Moments an, das in diesem Ansatz zum Tragen kommen kann – in dem Sinne, dass Menschen möglichst schnell wieder leistungsfähig sein sollen und dass keine Zeit für lange, ziellose Gespräche bleibt, weil die Therapie oder Beratung möglichst effizient, d.i. ökonomisch sein soll. Damit wird offenkundig, warum lösungsorientierte Coachings und Beratungen im Unternehmensbereich so beliebt sind. Weiterhin kann in dem Bedürfnis mitunter auch sehr ausführlich über ein Problem zu sprechen nicht nur ein kathartischer Wunsch, sondern auch ein Bedürfnis nach Anerkennung des Problems liegen. Vielen Menschen tut es gut, wenn Professionelle ihnen bestätigen, dass sie es gerade schwer haben, dass ihre Schwierigkeiten durchaus Relevanz besitzen. Bei einer stark lösungsorientierten Haltung besteht somit die Gefahr, dass sich Klientinnen in ihren Problemen nicht gesehen und gehört, nicht richtig ernst genommen fühlen könnten, was sich negativ auf die gesamte Beratungserfahrung auswirken und dazu führen könnte, dass Beratene sich missverstanden fühlen, mithin denken, ihnen könne nicht geholfen werden. Wenn das Besprechen von Problemen jedoch selbst problematisch wird, etwa, wenn sich Klientinnen darin verfangen, in lähmendem Selbstmitleid verharren oder sich zum Beispiel in einer starken Problemtrance befinden, dann bietet eine lösungsorientierte Haltung viel Potenzial Klient*innen aus dieser Trance herauszuführen.

Hier hat auch die ‚Wunderfrage‘ ihren Platz, die ebenfalls von de Shazer und Berg entwickelt wurde. Die Frage richtet die Aufmerksamkeit auf eine erfreulichere Imagination des Lebens, macht ein Leben ohne das Problem vorstellbar und ermöglicht es, auf die eigentlichen Bedürfnisse zu schauen und bestenfalls Selbstwirksamkeit zu ermöglichen.3 So ergibt sich die Möglichkeit, zukünftige Bilder und Entwürfe von sich selbst auszuprobieren, die wiederum fruchtbar für den weiteren Lebensweg genutzt werden können.

Auf Schwierigkeiten stößt eine lösungsorientierte Haltung dabei jedoch womöglich, wenn für Probleme in absehbarer Zeit keine Lösungen sicht- oder greifbar sind. Dies kann zum Beispiel bei sozioökonomischen Problemen respektive solchen, die sich aus einer kapitalistischen Gesellschaft ergeben, der Fall sein. Exemplarisch dafür können arbeitslose Klientinnen stehen, die vom Jobcenter in Maßnahmen gesteckt oder anderweitig zu etwas verpflichtet werden, das sie nicht erfüllen können oder möchten, jedoch auf die damit verbundene Zahlung des Arbeitslosengeldes angewiesen sind. Oder Menschen, die alternative Lebensmodelle leben und dadurch immer wieder in Konflikt mit der sie umgebenden Welt geraten. Hier stößt die lösungsorientierte Beratung an Grenzen, wenn der Handlungsspielraum der Klientinnen von vornherein begrenzt ist oder auch durch die optimistische Grundhaltung der Beraterinnen keine weiteren Optionen aufgezeigt werden können, der beraterische Optimismus an der Stelle mithin deplatziert oder unpassend für Klientinnen sein mag. Hier kommt es besonders auf die Empathie und das Feingefühl der Beraterinnen an, auf Klientinnen empathisch reagieren und eingehen zu können, gegebenenfalls auch ihre Haltung anzupassen.

Eine lösungsorientierte Haltung in der Beratung bietet viele Chancen und hat großes Potenzial Klientinnen helfen zu können, unter anderem, indem sie den Horizont des Vorstellbaren und der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auf vielfältige Weise erweitern kann. Es kann aber auch zu viel des Guten sein: wenn über Probleme gar nicht mehr gesprochen werden darf, schießt die Lösungsorientierung mitunter über ihr Ziel hinaus und birgt vielmehr auch Gefahren für die Beratung sowie die Beziehung zwischen Beraterinnen und Beratenen.

Solange Beraterinnen Flexibilität in Bezug auf ihre Haltungen mitbringen, kann die Lösungsorientierung jedoch ein wirksames Mittel sein, um Klientinnen zu helfen. Auch den Beraterinnen selbst kann dies immer wieder vor Augen halten, dass es sich lohnt, auf verschiedenste Weisen, kreativ und undogmatisch nach Lösungen zu suchen und sich dabei nicht entmutigen zu lassen, sondern sich auf die Vielgestaltig- und Eigensinnigkeit der Lösungsversuche von Klientinnen nicht nur einzulassen, sondern ein Stück weit auch zu verlassen.

1Paulick, Christian (2020): Systemischer Ansatz, socialnet Lexikon, [online] https://www.socialnet.de/lexikon/SystemischerAnsatz [abgerufen am 17.02.22]

2 Ebd.

3 Kleve, Heiko & Wirth, Jan (2021): Wunderfrage | Definition | Lexikon des systemischen Arbeitens, Carl-Auer-Verlag, [online]
https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/wunderfrage [abgerufen am 22.02.2022].

„Wer wir sind.“ – Ein systemischer Podcast

Sarah Walther ist Systemische Therapeutin in eigener Praxis und außerdem als Lehrende und Supervisorin tätig. Ihr Herzensprojekt ist ein Podcast, der Menschen Raum für ihre persönlichen Geschichten gibt.

Die leitende Frage ist klar: Wer sind diese Personen, denen wir im Alltag flüchtig begegnen? Sarah möchte das herausfinden und spricht diese nach ihrem Bauchgefühl direkt auf der Straße oder schreibt sie auf Instagram an. Dabei geht es ihr nicht darum im ersten (digitalen oder analogen) Kontakt Informationen über die Person zu sammeln, sondern offen und neugierig in das Interview zu starten. Die Gäste bleiben anonym, indem weder ein Foto veröffentlicht wird, noch klar ist, ob deren Namen pseudonymisiert wurde. Stattdessen werden die Gäste gebeten, einen „Wohlfühlgegenstand“ für das Cover der jeweiligen Folge aufzunehmen.

Neugierig machen auch neben diesen Bildern die prägnanten Sätze der Teilnehmenden in kurzen Beschreibungen der Folgen, die gesammelt bestimmt einen tollen Kalender ergeben könnten und gleichzeitig dazu einladen, sich auf das, was sich an Tiefe hinter diesen Worten verbirgt einzulassen.

„Es wird irgendwann wieder gut werden und vielleicht sogar besser als es vorher war.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Reden mein Leben rettet.“

„Sicherheit ist ein Konstrukt, was mir auferlegt wurde, aber nicht heißt, dass ich da Gerüst nicht demontieren darf.“

„Wir tragen alle was aus der Kindheit mit. Je älter man wird, desto stärker kommt das alles zum Tragen.“

Die Gespräche an sich fallen durch behutsame und gleichzeitig tiefe Fragestellungen und Paraphrasieren auf, die an ein Therapiegespräch erinnern. In dieser systemisch-beraterischen Atmosphäre kann es für die innere Fachperson interessant sein, Antworten und Reaktionen auf systemische Gesprächsführung zu beobachten. Gleichzeitig begleiten wir als Zuhörende die Teilnehmenden auf einer speziellen Reise, die oft in einer kleineren oder größeren Erkenntnis mündet. Dabei erscheinen manche Sequenzen oder ganze Interviews so intim und in einer so vertrauten Gesprächsatmosphäre entstanden, dass der Eindruck entsteht an der Tür zu lauschen. Dieses Spannungsfeld zwischen Persönlichem und Anonymen, das dazu einlädt, diesen Menschen von Nebenan in besonderer Weise nahe zu sein, ist vielleicht genau das, was Sarah mit ihrem Podcast erreichen möchte: Eine Brücke zwischen der Individualität der einzelnen Person und dem Wunsch nach Verbindung zu bauen.