Die weibliche Seite – Was ist das eigentlich?

Während unserer Redaktionssitzungen sprechen wir immer wieder darüber, was das Weibliche in unserer Überschrift eigentlich ausmacht und wen wir damit ansprechen wollen. Dabei vertreten wir vier unterschiedliche Standpunkte, die sich überschneiden, aber auch stellenweise auseinander gehen. Wir wollen mit diesem Artikel den Beginn einer Serie markieren, in der wir unseren Prozess transparent machen. Dabei stellen wir in systemischer Manier erstmal vor allem Fragen, um im Verlauf möglicherweise eine vorläufige Antwort zu finden. Außerdem möchten wir euch als Leser*innen herzlich einladen, eure Gedanken zum Thema in Kommentaren oder eigenen Beiträgen zu teilen.

Ich persönlich bin bzgl. der Überschrift immer wieder im inneren Konflikt. In meiner eigenen politischen Entwicklung war es für mich wesentlich, mich als Frau zu erkennen und zu identifizieren. Das Erkennen der mit dieser Identität einhergehenden strukturellen Benachteiligung war ein schmerzhafter und zugleich bestärkender der Prozess, der mich immer wieder dazu befähigt, Geschehnisse aus einer weiteren Perspektive wahrzunehmen und vermeintlich in Stein gemeißeltes zu hinterfragen. Dadurch ist es für mich wichtig, dem Weiblichen in Domänen, in denen vor allem Männliches unterschiedliche Räume dominiert, Raum zu erkämpfen und diesen auch zu nutzen.

Gleichzeitig frage ich mich immer wieder: Wie kann ich aus einer weiblichen Perspektive schreiben und agieren, ohne zu Recht hinterfragte Schubladen und Stereotype zu bedienen? Was ist überhaupt meine persönliche weibliche Perspektive? Reicht es aus Frauen, die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken oder sollten wir uns immer wieder die weibliche Brille zu eigen machen und aus dieser schreiben?

Weiterhin muss diesem Kontext auch die suggerierte Binarität der Kategorien weiblich und männlich hinterfragt werden. Dabei befinden wir uns in einem, sicherlich aus anderen emanzipatorischen Zusammenhängen bekannten, Konflikt. Um bisher scheinbar Unsichtbares sichtbar zu machen, müssen (erzwungene) Zugehörigkeiten benannt werden, die eigentlich aufgelöst werden wollen. Gleichzeitig werden dabei Identitäten, die in dieser normativen Logik keinen Platz haben vernachlässigt, auch wenn die Binarität als soziale Konstruktion markiert wird.

Eine interessante Perspektive nimmt dazu das Feministische Streikbündnis Leipzig ein, die sich maßgeblich an der Streikorganisation für den 8. März beteiligen. Kämpfe gegen das Patriachat sowie das Sichtbar-machen verschiedener, sich teilweise überschneidender Unterdrückungsformen werden laut Selbstverständnis aus einem intersektionalen Verständnis heraus und unter dem Namen „Feministischer Kampftag“ vereint und organisiert. Dabei stehen FlINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-binäre, Trans und Agender Personen) im Vordergrund und die bewusste Abkehr von einem Feminismus, der sich auf das Bestärken einzelner Personen bezieht, um einer Spaltung entgehen zu wirken.

Die Entwicklung vom „Frauenkampftag“ zum „Feministischen Kampftag“ war möglicherweise mit ähnlichen Denkprozessen wie den unseren verbunden. Was von diesem Verständnis könnten bzw. sollten wir für unser eigenes Schaffen in der systemischen Welt nutzen?

Wir freuen uns über eure Kommentare und Beiträge.

Ergänzung: Im aktuellen Missy-Magazine (online hinter einer Paywall) wird in einem Essay die Geschichte des Akronyms FLINTA beschrieben und ausgeführt wer eigentlich für welchen Buchstaben wie gekämpft hat und welche Abnutzungserscheinungen sich im Mainstream zeigen.

Das Problem ist die Lösung

von Josefine Bretag

Hier veröffentlichen wir unseren ersten Gastbeitrag. Der Text ist im Rahmen eines Einführungsseminars zu systemischer Beratung als Prüfungsleistung entstanden. Einige Texte fielen gerade vor dem Hintergrund des „Anfängerinnen“-Status besonders positiv auf und es entstand die Idee, diesen neuen Systemikerinnen die Möglichkeit zu anzubieten, ihre Gedanken öffentlicher zu teilen.

Für die systemische Praxis ist die Haltung der Berater*innen – nach Paulick als „innere Einstellung, die in das Handeln überführt wird.“1 – wichtiger Bestandteil. Eine dieser klassischen Haltungen stellt die Lösungsorientierung dar, die mittlerweile auch in die Coaching- und Beratungsszene großer Unternehmen Einzug gehalten hat.

In ihrer stärksten Interpretation oder historischen Ausprägung zeigt diese sich radikal im Sinne der lösungsorientierten Kurzzeittherapie von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg aus den 70er Jahren. Nach diesem Ansatz ist das Sprechen über Probleme sekundär bis vernachlässigbar, fokussiert werden vielmehr Lösungen und Lösungsmöglichkeiten.2 Diese oder ähnliche Varianten einer stark lösungsorientierten Haltung bergen jedoch auch Gefahren bzw. Konfliktpotenzial für die Beratung, denn oftmals gibt es ein allzu menschliches Bedürfnis über Probleme zu sprechen, sich etwas von der Seele zu reden oder auch genauer ergründen zu wollen, worum es sich bei einem Problem handelt. Sprich: ein Bedürfnis nach
Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, welches so womöglich übergangen werden kann.

Auch bietet sich hier die Kritik des neoliberalen Moments an, das in diesem Ansatz zum Tragen kommen kann – in dem Sinne, dass Menschen möglichst schnell wieder leistungsfähig sein sollen und dass keine Zeit für lange, ziellose Gespräche bleibt, weil die Therapie oder Beratung möglichst effizient, d.i. ökonomisch sein soll. Damit wird offenkundig, warum lösungsorientierte Coachings und Beratungen im Unternehmensbereich so beliebt sind. Weiterhin kann in dem Bedürfnis mitunter auch sehr ausführlich über ein Problem zu sprechen nicht nur ein kathartischer Wunsch, sondern auch ein Bedürfnis nach Anerkennung des Problems liegen. Vielen Menschen tut es gut, wenn Professionelle ihnen bestätigen, dass sie es gerade schwer haben, dass ihre Schwierigkeiten durchaus Relevanz besitzen. Bei einer stark lösungsorientierten Haltung besteht somit die Gefahr, dass sich Klientinnen in ihren Problemen nicht gesehen und gehört, nicht richtig ernst genommen fühlen könnten, was sich negativ auf die gesamte Beratungserfahrung auswirken und dazu führen könnte, dass Beratene sich missverstanden fühlen, mithin denken, ihnen könne nicht geholfen werden. Wenn das Besprechen von Problemen jedoch selbst problematisch wird, etwa, wenn sich Klientinnen darin verfangen, in lähmendem Selbstmitleid verharren oder sich zum Beispiel in einer starken Problemtrance befinden, dann bietet eine lösungsorientierte Haltung viel Potenzial Klient*innen aus dieser Trance herauszuführen.

Hier hat auch die ‚Wunderfrage‘ ihren Platz, die ebenfalls von de Shazer und Berg entwickelt wurde. Die Frage richtet die Aufmerksamkeit auf eine erfreulichere Imagination des Lebens, macht ein Leben ohne das Problem vorstellbar und ermöglicht es, auf die eigentlichen Bedürfnisse zu schauen und bestenfalls Selbstwirksamkeit zu ermöglichen.3 So ergibt sich die Möglichkeit, zukünftige Bilder und Entwürfe von sich selbst auszuprobieren, die wiederum fruchtbar für den weiteren Lebensweg genutzt werden können.

Auf Schwierigkeiten stößt eine lösungsorientierte Haltung dabei jedoch womöglich, wenn für Probleme in absehbarer Zeit keine Lösungen sicht- oder greifbar sind. Dies kann zum Beispiel bei sozioökonomischen Problemen respektive solchen, die sich aus einer kapitalistischen Gesellschaft ergeben, der Fall sein. Exemplarisch dafür können arbeitslose Klientinnen stehen, die vom Jobcenter in Maßnahmen gesteckt oder anderweitig zu etwas verpflichtet werden, das sie nicht erfüllen können oder möchten, jedoch auf die damit verbundene Zahlung des Arbeitslosengeldes angewiesen sind. Oder Menschen, die alternative Lebensmodelle leben und dadurch immer wieder in Konflikt mit der sie umgebenden Welt geraten. Hier stößt die lösungsorientierte Beratung an Grenzen, wenn der Handlungsspielraum der Klientinnen von vornherein begrenzt ist oder auch durch die optimistische Grundhaltung der Beraterinnen keine weiteren Optionen aufgezeigt werden können, der beraterische Optimismus an der Stelle mithin deplatziert oder unpassend für Klientinnen sein mag. Hier kommt es besonders auf die Empathie und das Feingefühl der Beraterinnen an, auf Klientinnen empathisch reagieren und eingehen zu können, gegebenenfalls auch ihre Haltung anzupassen.

Eine lösungsorientierte Haltung in der Beratung bietet viele Chancen und hat großes Potenzial Klientinnen helfen zu können, unter anderem, indem sie den Horizont des Vorstellbaren und der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auf vielfältige Weise erweitern kann. Es kann aber auch zu viel des Guten sein: wenn über Probleme gar nicht mehr gesprochen werden darf, schießt die Lösungsorientierung mitunter über ihr Ziel hinaus und birgt vielmehr auch Gefahren für die Beratung sowie die Beziehung zwischen Beraterinnen und Beratenen.

Solange Beraterinnen Flexibilität in Bezug auf ihre Haltungen mitbringen, kann die Lösungsorientierung jedoch ein wirksames Mittel sein, um Klientinnen zu helfen. Auch den Beraterinnen selbst kann dies immer wieder vor Augen halten, dass es sich lohnt, auf verschiedenste Weisen, kreativ und undogmatisch nach Lösungen zu suchen und sich dabei nicht entmutigen zu lassen, sondern sich auf die Vielgestaltig- und Eigensinnigkeit der Lösungsversuche von Klientinnen nicht nur einzulassen, sondern ein Stück weit auch zu verlassen.

1Paulick, Christian (2020): Systemischer Ansatz, socialnet Lexikon, [online] https://www.socialnet.de/lexikon/SystemischerAnsatz [abgerufen am 17.02.22]

2 Ebd.

3 Kleve, Heiko & Wirth, Jan (2021): Wunderfrage | Definition | Lexikon des systemischen Arbeitens, Carl-Auer-Verlag, [online]
https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/wunderfrage [abgerufen am 22.02.2022].

„Wer wir sind.“ – Ein systemischer Podcast

Sarah Walther ist Systemische Therapeutin in eigener Praxis und außerdem als Lehrende und Supervisorin tätig. Ihr Herzensprojekt ist ein Podcast, der Menschen Raum für ihre persönlichen Geschichten gibt.

Die leitende Frage ist klar: Wer sind diese Personen, denen wir im Alltag flüchtig begegnen? Sarah möchte das herausfinden und spricht diese nach ihrem Bauchgefühl direkt auf der Straße oder schreibt sie auf Instagram an. Dabei geht es ihr nicht darum im ersten (digitalen oder analogen) Kontakt Informationen über die Person zu sammeln, sondern offen und neugierig in das Interview zu starten. Die Gäste bleiben anonym, indem weder ein Foto veröffentlicht wird, noch klar ist, ob deren Namen pseudonymisiert wurde. Stattdessen werden die Gäste gebeten, einen „Wohlfühlgegenstand“ für das Cover der jeweiligen Folge aufzunehmen.

Neugierig machen auch neben diesen Bildern die prägnanten Sätze der Teilnehmenden in kurzen Beschreibungen der Folgen, die gesammelt bestimmt einen tollen Kalender ergeben könnten und gleichzeitig dazu einladen, sich auf das, was sich an Tiefe hinter diesen Worten verbirgt einzulassen.

„Es wird irgendwann wieder gut werden und vielleicht sogar besser als es vorher war.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Reden mein Leben rettet.“

„Sicherheit ist ein Konstrukt, was mir auferlegt wurde, aber nicht heißt, dass ich da Gerüst nicht demontieren darf.“

„Wir tragen alle was aus der Kindheit mit. Je älter man wird, desto stärker kommt das alles zum Tragen.“

Die Gespräche an sich fallen durch behutsame und gleichzeitig tiefe Fragestellungen und Paraphrasieren auf, die an ein Therapiegespräch erinnern. In dieser systemisch-beraterischen Atmosphäre kann es für die innere Fachperson interessant sein, Antworten und Reaktionen auf systemische Gesprächsführung zu beobachten. Gleichzeitig begleiten wir als Zuhörende die Teilnehmenden auf einer speziellen Reise, die oft in einer kleineren oder größeren Erkenntnis mündet. Dabei erscheinen manche Sequenzen oder ganze Interviews so intim und in einer so vertrauten Gesprächsatmosphäre entstanden, dass der Eindruck entsteht an der Tür zu lauschen. Dieses Spannungsfeld zwischen Persönlichem und Anonymen, das dazu einlädt, diesen Menschen von Nebenan in besonderer Weise nahe zu sein, ist vielleicht genau das, was Sarah mit ihrem Podcast erreichen möchte: Eine Brücke zwischen der Individualität der einzelnen Person und dem Wunsch nach Verbindung zu bauen.