Gendersensibel systemisch arbeiten in Beratung und Therapie

In den systemischen Aus- und Weiterbildungen nehme ich ein großes Interesse wahr, beraterisch-therapeutisch Genderspezifika in den Blick bekommen zu wollen. Solch ein Interesse gab es auch schon in den achtziger Jahren. Es entstanden erste Bemühungen, die Familientherapie gendersensibel zu lesen und zu erweitern. Systemikerinnen benannten wichtige Foki für die systemische Arbeit. Im deutschsprachigen Raum erschien 1992 das von Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen herausgegebene Buch „Balanceakte“ (Carl-Auer-Verlag, Online-Ausgabe 2009), in dem damals bedeutsame Aspekte zusammengetragen wurden. Ich stelle hier einige Gedanken aus einem Beitrag von Andrea Ebbecke-Nohlen daraus vor, der meines Erachtens auch heute noch viele Anregungen für gendersensible systemische Beratung und Therapie enthält.

Systemisch schauen wir auf Muster, die sich in Kommunikationen entwickeln und darauf, wie sie von ihrem spezifischen Kontext beeinflusst werden. Dazu gehört auch, Unterschiedskonstruktionen in geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bearbeitbar zu machen. Ausgehend von der These, dass man sich nicht nicht geschlechtsbezogen verhalten kann, könnte man fragen, welches Selbstbild daraus resultiert, ob man sich weiblich, männlich oder non-binär definiert (z.B. Weinen). Daran schließt sich die Frage an, welche Rollen man für wen ausmacht, mag und möchte, und welche Vor- und Nachteile man darin sieht.

Man könnte fragen, welche geschlechtsspezifischen und –neutralen Regeln es in einem System gibt und wofür das (nicht) hilfreich ist. Und: Wer ist wofür zuständig oder entscheidet worüber? Wer bringt den Müll raus, wer entscheidet über welche gemeinsamen Ausgaben …? Wer lebt welche Werte mehr, welche weniger, wer ist z.B. aggressiv, wer zurückhaltend, und wer empfindet und reagiert auf einen „Verstoß“ gegen diese Werte wie? Wenn beispielsweise die Mutter in einer Beziehungskonstellation als anstrengend oder nervig erscheint, weil es scheint, dass sie immer alles bestimmen will: Wozu tut sie das? Wem nützt das wofür?

Eine weitere Frage ist natürlich, wie einE Therapeut_in sich unterschiedlich gegenüber Klient_innen verhält, die sie als weiblich oder männlich identifiziert, und ob und wie die Klient_innen unterschiedlich auf die Berater_in und das Beratungsangebot reagieren. Wenn z.B. eine Person in der Therapie abblockt – was könnte das mit ihrer geschlechtsspezifischen Identifizierung zu tun haben, was will diese Person womöglich schützen und was bewirkt das wiederum bei der anderen Person für ein Verhalten?

Dann wäre da noch der Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede und Ähnlichkeiten von Familienaufträgen und Loyalitäten zu nennen: Wer setzt wie Grenzen und welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gibt es bei Familienaufträgen und Loyalitäten? Wer ist (mehr) für Bindung, wer (mehr) für Individuation zuständig? Wie wird das ausbalanciert?

Die letztgenannten Fragen sind eingebettet in eine weite feministische Diskussion in den achtziger Jahren darüber, wie die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Prägung für Bindung und Individuation die Kommunikation zwischen Männern und Frauen beeinflusst und typische Konflikte befeuert hat.

Luise Eichenbaum und Susie Orbach stellten in ihrem Buch Was wollen die Frauen? Ein psychotherapeutischer Führer durch das Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten in Liebesdingen (Econ 1993) die These auf, dass Männer unabhängiger und selbstsicherer wirkten als Frauen, weil ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung immer schon befriedigt würden, angefangen mit der Mutter als der Haupt-Bezugsperson, bis hin zur Lebenspartnerin, die diese Rolle dann übernehme. Frauen dagegen bekämen diese Bindungssicherheit nicht in dem Maße, da dies als „Frauenarbeit“ gelte und der Mann sich eher dafür zuständig sehe, unabhängig und durchsetzungsfähig in der Außenwelt zu sein. „Gefühlsarbeiter“ zu sein, widerspräche dem gesellschaftlichen Bild von einem „echten Mann“, und daher könne er diese Rolle nicht übernehmen. In den achtziger und neunziger Jahren gab es denn auch das Klischee vom „Softie“, den Frauen ja einerseits wollten, aber andererseits auch unattraktiv fanden. Gerade weil Frauen fortwährend nach dieser Sicherheit suchten, die sie von den Männern nicht bekämen, vermittelten sie Gefühle von Abhängigkeit und Bedürftigkeit, so Eichenbaum und Orbach. Die Zirkularität, die aus dieser Grundprämisse entstehe, sei folgende: Die Frauen äußern Unzufriedenheit, weil ihnen „etwas“ fehlt, die Männer fühlen sich grundlos kritisiert, eingeengt und gegängelt, weswegen sie sich zurückziehen und dann noch weniger für die Frau da sind. Sie klammert / kontrolliert / kritisiert noch mehr, er zieht sich noch mehr zurück …

Dieser Mechanismus werde laut Eichenbaum und Orbach besonders dann deutlich, wenn die Frau sich aus der Beziehung löse, ihre eigene Stärke entdecke und sich selbständig fühle. Solange sie den Mann brauche, gebe sie ihm Sicherheit, denn er könne meinen, jederzeit zu ihr zurückkommen zu können. Verstehe er, dass das nicht mehr möglich sei, werde ihm seine Abhängigkeit bewusst. Dann werde sie womöglich sogar wieder attraktiv für ihn. Die vielen Femizide könnten aber auch dafür sprechen, dass diese Selbständigkeit von Männern als so bedrohlich wahrgenommen wird, dass sie die unabhängig erscheinenden Frauen zerstören.

Für Paare kann die beschriebene Dynamik in ein Dilemma führen: Der Mann soll fürsorglich und verständnisvoll, aber kein „Weichei“ sein. Die Frau soll Heilige und Hure zugleich sein: unerreichbar, aber jederzeit zur Verfügung stehen. Sie gibt ihre eigenen Grenzen auf und steht emotional zur Verfügung, soll aber gleichzeitig „für sich stehen“. Sie soll (will?) omnipotent und zuverlässig sein.

Diese Muster wurden auf die hier dargestellte Art und Weise beschrieben, um sie sichtbar, besprechbar und veränderbar zu machen. Eichenbaum und Orbach hofften, dass Frauen und Männer die Fähigkeit zu Bindung und Individuation gemeinsam entwickeln würden.

Andrea Ebbecke-Nohlen machte die Diskussion über Bindung und Individuation insofern für die systemische Arbeit nutzbringend, als sie sie zu einem Fokus machte: Wie lässt sich Bindung und Distanz so leben, dass es in der jeweiligen geschlechtsspezifischen Prägung bekömmlich ist? Wann werden Grenzziehungen von wem als zu stark oder zu schwach erlebt und was muss passieren, damit alle Teilnehmenden einer Kommunikation sowohl Bindungserfahrungen machen als auch Eigenständigkeit erleben können?

Diesen Fokus halte ich auch heute noch für wichtig. Gerade wenn Beziehungen offen und vielfältig gestaltet werden sollen, ist es hilfreich, auf solche Dynamiken zu achten.

Wo stehen wir eigentlich mit der Gleichheit in der Kommunikation zwischen den Geschlechtern?

Auf diesem Blog geht es darum, weibliche Perspektiven auf den systemischen Ansatz zu zeigen, und auch darum, zu zeigen, welchen Einfluss die Frauen auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes hatten. Dieser Prozess hat vor Jahrzehnten begonnen, und wir könnten uns fragen, wie weit wir eigentlich gekommen sind, gerade aus therapeutisch-beraterischer Sicht. Als eine, die in den achtziger Jahren begonnen hat, sich mit feministischen Perspektiven zu beschäftigen, interessiert es mich, wie jüngere Frauen das heute sehen. Inwiefern sind die Herangehensweisen von Frauen damals für sie relevant, was ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, welche Themen bleiben aktuell und herausfordernd, und welche werden heute ganz anders gesehen? Und welche weiblichen Perspektiven sind heute im Alltag des systemischen Arbeitens gang und gäbe? Welche gilt es, neu zu diskutieren, für welche sollten wir uns neu sensibilisieren?

Zunächst zur Frage, wie sich die Beziehungen und die Kommunikation zwischen den Geschlechtern bis heute entwickelt haben. Überwunden scheint die alleinige Zuständigkeit und Rolle der Frauen als „nur Hausfrau und Mutter“ und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom alleinverdienenden Ehemann. Doch wie weit ist es damit gediehen, die Fürsorge- und Erziehungs- sowie Hausarbeit mit anderen zu teilen? Und was heißt es, dass die Rollen sich angeglichen haben? „Irgendwie“ scheinen wir zu wissen, dass es noch einiges zu klären gibt in Bezug auf geschlechtsstereotype Verhaltensmuster, auch wenn sie nicht mehr so eindeutig auf männlich oder weiblich definierte oder gelesene Menschen zutreffen.

Da zeigt sich im Zusammenleben, dass die eher männlich sozialisierten Menschen sich stärker dafür verantwortlich fühlen, das finanzielle Wohlergehen zu sichern, und dass sie (wie ist es nur dazu gekommen?) die lukrativeren Jobs haben und deshalb keine Elternpause einlegen, zumal es im Berufsleben immer noch nicht selbstverständlich ist, dass Männer genau wie Frauen eine Familienpause machen. Und die eher weiblich sozialisierten Menschen haben mehr im Blick, was getan werden muss, damit der Haushalt reibungslos läuft und die Kinder zu den jahreszeitlichen Anlässen oder zum Geburtstag die richtigen Dinge mitnehmen.

Womöglich sind auch in den Auseinandersetzungen des Zusammenlebens verdächtig „typische“ Verhaltensmuster oder Missverständnisse zu sehen, z.B.: „Sie“ fühlt sich nicht gesehen, „er“ hat das Gefühl, dass er ständig kritisiert wird. „Er“ mauert, „sie“ nervt. Und im Beratungskontext: „Sie“ ist den Beratenden unsympathisch, weil sie sich einmischt, fordert, den Profis sagen will, wie sie ihre Arbeit machen sollen, während „er“ sich eher im Hintergrund hält – was erst einmal ganz angenehm ist. Und dann fragt man sich, was „sein“ Anteil an der Beziehungsdynamik eigentlich ist.

Zahlen zeigen, dass Frauen immer noch viel öfter Therapie aufsuchen oder über die Therapien als „depressiv“ definiert werden, während Männer vielfach versuchen, ihren Depressionen zu entkommen durch übersteigerten Aktionismus und Suchtverhalten (s. z.B. https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/depressionen-maenner-100.html).

In öffentlichen Auseinandersetzungen hat sich viel verändert, doch es finden sich auch viele alte Muster wieder bzw. weiterhin: Frauen fühlen sich von Dingen, die Männer sagen und tun, diskriminiert und kritisieren heftig. Männer reagieren darauf mit dem Vorwurf, es „fehle Sachlichkeit“ und die Kritik werde zu emotional vorgetragen, so dass sie sich dann nicht mehr mit den Inhalten der Kritik auseinandersetzen wollen. Zuerst sollen die Frauen von ihrer Art, zu kritisieren, Abstand nehmen und sich auf die von den Männern definierten Regeln der Auseinandersetzung einlassen (s. auch ausführlich: https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/anstrengend-sein/).

Sich an die Spielregeln anpassen – das taten Frauen auch, als sie in den achtziger und neunziger Jahren ihr Verhältnis zur Macht thematisierten und versuchten, sich Macht anzueignen, um Unabhängigkeit zu erreichen. Mittlerweile versuchen Frauen häufig, flexibel mit „Kampfangeboten“ umzugehen: sich da auf die von Männern definierten Spielregeln einlassen, wo es sein muss, um sich durchzusetzen, dann aber andere Kulturen des Umgangs etablieren. Im beruflichen Bereich haben sich Machtverhältnisse verschoben, und für effektives Arbeiten wird eher nach anderen Formen der Zusammenarbeit gesucht, wie die Trends zu „New Work“ (z.B. Agilität) zeigen. Dafür sind weiblich sozialisierte Menschen oft viel besser aufgestellt, wenn sie auf den Einsatz von Macht verzichten. Hier tun sich gerade interessante Entwicklungen im Miteinander auf: Wo bleibt die Macht, wer setzt sie wie ein und welche alternativen Verhaltensweisen haben welche Auswirkungen?

Nach meinem Dafürhalten wäre es an der Zeit, eine Diskussion darüber zu führen, welche Verhaltensweisen unser Miteinander nach wie vor auf eine Weise bestimmen, dass eine genderspezifische Zirkularität entsteht? Wir könnten Kommunikation daraufhin untersuchen: Wer nervt hier wen aufgrund welchen Verhaltens, und was hat das mit unserer geschlechtsspezifischen Sozialisation zu tun? Wer ist (kommunikativ) wofür zuständig? Wofür ist genderspezifisches Verhalten eine Lösung? Mal angenommen, wir würden unsere Gefühle und Verhaltensweisen tauschen, wer wäre worüber überrascht / erfreut / beängstigt / empört? Wir können ja nicht einfach entscheiden, uns nicht geschlechtsspezifisch oder andersgeschlechtlich zu verhalten. Dafür müssen wir erst einmal genau anschauen, wo und wie wir das tun, und welcher Kontext zu welchem geschlechtsspezifischen Verhalten einlädt. Im nächsten Beitrag werde ich darauf detailliert eingehen.

Alles in beste Ordnung bringen

2021 lief der Film „Alles in bester Ordnung“ von Natja Brunckhorst in den Kinos, nun ist er in der ARD-Mediathek (bis 1.8.24) zu sehen. Er handelt von Marlen und Fynn. Während Fynn versucht, mit möglichst wenig Dingen auszukommen, hat Marlen im Laufe der Jahre so viel angesammelt, dass es schwierig ist, sich in ihrer Wohnung zu bewegen.* Da Fynn wegen eines Wasserschadens gerade keine Bleibe hat, strandet er bei Marlen. Die versucht, das Chaos in ihrer Wohnung vor der Außenwelt geheim zu halten. Sie lebt deshalb ein recht isoliertes Leben, und so lässt sie auch Fynn nur sehr widerwillig in ihr kleines, chaotisches Reich. Und es kostet sie Überwindung, ihm gegenüber einzugestehen, dass sie mit dem Zustand in ihrer Wohnung ein Problem hat. Denn eigentlich liebt sie Dinge, und mit vielen davon verbindet sie auch wichtige Erinnerungen. Viele andere Dinge hält sie für zu schade zum Wegwerfen. – Was ja durchaus zum Gedanken der Nachhaltigkeit passt. Doch die Unordnung wächst ihr über den Kopf. Fynn fühlt sich berufen, Marlen zu helfen, sich von Dingen zu trennen. Grundsätzlich begrüßt Marlen das, bei der Umsetzung jedoch kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Verschiedene Herangehensweisen scheitern, bis Fynn sie irgendwann einlädt, mit ihr auf eine Leiter zu steigen und von oben auf ihre mit Dingen vollgestellte Wohnung zu schauen. Und von dort oben entdeckt Marlen ein Ordnungsprinzip, nach dem sie und Fynn die Dinge dann in der Wohnung anordnen. Von dieser Ordnung aus kann sie die Dinge nach und nach loslassen und sich auf Beziehungen zu anderen Menschen einlassen.

Was für ein schönes Bild für systemische Beratung und Therapie! Wenn wir Beratung als soziales System verstehen, können wir sagen, wir bieten verschiedene Sinndeutungsmöglichkeiten an und laden zur Beobachtungsperspektive 2. Ordnung ein. Der Film versinnbildlicht das, wenn Fynn Marlen einlädt, mit ihm auf die Leiter zu steigen und ihr Chaos von oben anzuschauen, um zu sehen, was sie nicht sieht, wenn sie sich mittendrin bewegt. Beratung und Therapie wirkt, systemtheoretisch gesprochen, dadurch, dass das psychische System der Klient_innen vor dem Horizont verschiedener Möglichkeiten auswählt, indem sich die Psyche der Klient_in entscheidet, was für die eigene Handlungsfähigkeit relevant ist. Das psychische System sucht sich eine neue Ordnungsform. Wiederum mit der Filmmetapher gesprochen: Es geht nicht darum, andere dazu zu bewegen, sich von etwas zu trennen, sondern es in eine neue Ordnung zu bringen. Im Film geht das Loslassen dann auf einmal ganz leicht.

Ein anderer Aspekt des Films weist auf die weibliche Brille der Filmemacherin hin. Natja Brunckhorst geht sehr liebevoll mit der Motivation der Protagonistin für die Hortung der Dinge um. Für jede Bindung an einen Gegenstand gibt es mindestens einen guten Grund. Hier wird ein weiblicher Blick sichtbar, der nicht achtlos mit Dingen umgeht, sondern darauf trainiert ist, Gegenstände sehr bewusst wahrzunehmen. Die Sozialisation als Mütter und Hausfrauen ist zwar schon längst nicht mehr Teil des weiblichen Selbstverständnisses, und Männer können als Väter und Hausmänner diesen Blick ebenfalls anwenden. Der weibliche Blick wird jedoch weiter in dieser Tradition geprägt, wenn auch nicht mehr explizit. Anfang der achtziger Jahre beschrieb Thomas Ziehe diesen so trainierten weiblichen Blick mit dem Satz: „Die Liebesarbeit der Mutter muß durchs Nadelöhr der Hausarbeit, die Arbeit am Subjekt drückt sich aus in dem Dienst an den Dingen.“*

Aus systemischer Sicht lässt sich das dergestalt reframen, dass ein weiblicher Blick auf die Dinge (den Männer und Menschen anderer Geschlechtsdefinitionen natürlich auch haben und nutzen können) mit einem ästhetischen Anspruch und der Beibehaltung einer gewissen Ordnung auf bereichernde Weise eingesetzt werden kann.

*Thomas Ziehe: Zugriffsweisen mütterlicher Macht. in: Gehrke, C., Treusch-Dieter, G. u.a. (Hg.) 1984: Frauen Macht. Konkursbuchverlag. S. 45-53

Sich erreichen, berühren, verändern

Am 30.10.1993 wurde die Systemische Gesellschaft (SG) gegründet, und im Juni diesen Jahres feierte die SG ihren 30. Geburtstag mit einer Jubiläumstagung. Diese wurde zu Ehren Kristina Hahns veranstaltet. Kristina war langjähriges SG-Mitglied und mehrere Jahre im Vorstand der SG engagiert. Das Gebaren der Männer im Verband beobachtete und kommentierte sie aus feministischer Perspektive und brachte selber eigene Akzente im Verband ein. Im Frühjahr 2020 starb Kristina Hahn viel zu früh. Sie ermöglichte der SG die Finanzierung verschiedener Projekte, u.a. den Kristina-Hahn-Preis*, der in diesem Jahr an vier Gruppen ging, die sich mit spannenden Aktionen zur Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter engagieren. Und Kristina Hahn wünschte sich eine inspirierende Tagung.

Es begann mit einem Vortrag von Hartmut Rosa zum Tagungsthema „Resonanzen“. Rosa definiert Resonanz als Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Objekt gegenseitig erreichen, berühren und verändern. Er bezeichnet Resonanz als Urform der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Das Subjekt wird berührt (affiziert) und antwortet (à E-motion). Resonanz ist nicht kontrollierbar. Das steht im Widerspruch zur Moderne, die auf Verfügbarmachung und Kontrolle als Grundmodus basiert. Der wachsende Zwang zur Beschleunigung macht den Menschen Angst und produziert schuldige Subjekte, weil wir es nie schaffen, den Ansprüchen von außen gerecht zu werden.

Rosa stellt die Frage, ob Krankheit als Verlust der Resonanzfähigkeit angesehen werden kann. So ließen sich Essstörungen als Weltbeziehungsstörungen bezeichnen: Anorexie (Magersucht) als Versuch, Weltberührung zu vermeiden, Adipositas (Fettleibigkeit) als einseitige, sich steigernde Weltaneignung, Bulimie (Ess-Brechsucht) als Aneignung ohne Anverwandlung und Orthorexie (Angst, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden) als Angst vor Unverfügbarkeit, also als Angst, über etwas nicht verfügen zu können.

An dieser Stelle wäre eine geschlechtsspezifische Differenzierung interessant gewesen. Zwar steigt die Zahl männlich gelesener Personen mit Essstörungen, doch sind sie immer noch sehr viel häufiger bei (jungen bzw. sich entwickelnden) Frauen verbreitet.** Hier könnte man verschiedene Hypothesen diskutieren: Scheitern Heranwachsende, die sich in ihrer Identitätsfindung mit weiblichen Stereotypen auseinandersetzen, besonders häufig an der Erfüllung dieser vermuteten Erwartungen (z.B. „Schönheits“-Idealen)? Oder werden bei der Sozialisierung in Richtung männlicher Stereotype andere Modelle gelebt, die einen gestörten Weltbezug zum Ausdruck bringen, wie z.B. über Computerspiele oder Gewaltphantasien? …

Für Beratung und Therapie hält Rosa die Herstellung von Resonanz für wichtig und die Fähigkeit dazu bezeichnet er als therapeutische Kompetenz. Das passt zu dem, was Sarah Walther im letzten Beitrag dieses Blogs geschrieben hat (https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/die-kraft-von-duempelsitzungen/), und zu den Forschungsergebnissen, die deutlich machen, dass die Herstellung einer guten Beziehung schulenübergreifend einen wichtigen Faktor für das Gelingen von Therapie darstellt. Laut Rosa kann in Beratung und Therapie gegen die Verdinglichung von Beziehungen durch Digitalisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Automatisierung über Resonanzen wieder Weltbeziehung hergestellt werden.

Ein großartiger Prozess ergab sich auf der Tagung aus einem Workshop mit der Kunsttherapeutin Franziska Janker. Wir hielten uns ein Blatt Papier vors Gesicht und malten darauf die Umrisse: Augen, Nase, Mund und Außengrenzen des Gesichts. Dieses Blatt gaben wir unserer/m Partner_in, die/der die Umrisse mit dem füllten, was sie/er im Gesicht des Gegenübers sah. Die/der Besitzer_in des Gesichts erhielt das Blatt zurück und markierte auf einem darüber gelegten, transparenten Papier das, was ihr/ihm wichtig erschien. Aus dem anschließenden Gespräch darüber ergaben sich in meinem Duo spannende Erkenntnisse: Nicht das, was mir mein Gegenüber vermittelt, sondern das, was ich aus dem lese, wie mein Gegenüber mich beschreibt, erfahre ich Neues über mich und mein Verhalten. Und es wurde erfahrbar, wie ähnliche (Lebens-) Erfahrungen in Beziehungen als Resonanz spürbar werden und eine Nähe, Offenheit … schaffen, auch wenn dies nicht bewusst wahrnehmbar wird. Dies muss nicht immer eine positive Erfahrung sein. Wir erörterten das in unserem Duo am Beispiel Gewaltbeziehungen. Es entstehen zwar negative, aber solche Resonanzen, die womöglich als vertraut wahrgenommen werden. In Beratungsprozessen dieser Resonanz nachzugehen, könnte hilfreich sein. Man könnte fragen, auf welche Weise Gewalterfahrungen auf beiden Seiten so utilisiert werden können, dass eine Resonanz herbeigeführt wird, die von Gewaltanwendung wegführt.

Hauptredner auf der Tagung waren – wie fast immer – Männer. Aber das Abschlusspanel war wie schon auf der SG-Tagung 2019 ausschließlich mit Frauen besetzt: Yasmine M´Barek, Journalistin, Autorin und Podcasterin, Ulrike Borst, Systemische Psychotherapeutin & Supervisorin, Angelika Ivanov, Pressereferentin bei der GLS Bank, Emily M. Engelhardt, Systemische Beraterin und Supervisorin und Professorin für „Digitale Transformation in sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft“, Shary Cheyenne Reeves, Moderatorin, Schauspielerin, Autorin, sowie Cordula Stratmann, Systemische Familientherapeutin und Komikerin. Bevor die Podiumsdiskussion begann, hatten die Frauen sich schon getroffen, wurden von der Moderatorin und systeme-Redakteurin Tanja Kuhnert gut gebrieft und diskutierten miteinander. Sie kamen also „warmgemacht“ wie man beim Sport sagen würde, auf die Bühne, schon sehr gut in Resonanz miteinander, wie die Tagungsteilnehmenden das vermutlich beschreiben würden. So brachten sie jede Menge Energie auf das Podium. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Zeit musste Moderatorin Tanja Kuhnert sich auf wenige Fragen beschränken, um die sechs Frauen alle zu Wort kommen zu lassen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten die Frauen, welche Resonanzen sie in ihrer Welt besonders wahrnehmen. Es entstand ein sehr lebendiger Austausch über aktuelle gesellschaftliche Phänomene und darüber, welche Impulse wir geben können, um gute Resonanzen entstehen zu lassen. Wie es eben mit Resonanzen so ist, steckten sich die Frauen gegenseitig mit ihrer Leidenschaft und Lebendigkeit an. Shary Cheyenne Reeves brachte es so auf den Punkt: „Wir schieben so viel Energie vor uns her, lasst uns die doch gemeinsam nutzen“!

*https://systemische-gesellschaft.de/service/auszeichnung/kristina-hahn-preis-2023/

**Laut der Barmer Krankenkasse gibt es sehr unterschiedlich Zahlen dazu. Einer Schätzung zufolge kommen auf 61 Frauen 18 Männer. s. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/essstoerungen-1055178#Wie_hu00E4ufig_sind_Essstu00F6rungen-1055178

Nur einmal im Leben „nein“ gesagt

Ingrid ist über 93 und allein. Sie fürchtet, sie wird nicht mehr lange so wie bisher in ihrer heiß geliebten Wohnung leben und sich um alle ihre Belange selber kümmern können. Sie wird abhängig von der Hilfe anderer sein. Und das hasst sie wie die Pest.

Sie, die immer eine sehr umgängliche, offene Frau war, fängt an, sich zu beklagen und alles abzulehnen, was ihr helfen könnte. Sie sagt: „Es fällt mir so schwer, ‚nein‘ zu sagen, und das einzige Mal, als ich es getan habe, habe ich es teuer bezahlt. Ich befürchte, dass andere über mich bestimmen, wenn ich mir helfen lasse.“

Ingrid wuchs mit drei Geschwistern in einem Arbeiterviertel auf. Nächtelang mussten sie im Hausflur ausharren, wenn der volltrunkene Vater wieder einmal die Kinder und ihre Mutter verprügelt und dann hinausgeworfen hatte. Schließlich wurde Ingrid von der Fürsorge aus der Familie genommen und auf einen Bauernhof verfrachtet, auf dem sie als billige Arbeitskraft ausgenutzt wurde. Nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus konnte sie es kaum glauben, dass es einen Mann gab, der sie heiraten wollte. Sie bekam zwei Töchter. Sie passte sich sehr an, und mit den Jahren begegnete ihr Mann ihr mit immer größerer Verachtung. Als ihre Töchter am Beginn ihrer Pubertät waren, halfen sie ihrer Mutter dabei, ihren Mann mit größerer innerer Distanz zu sehen. Doch für Ingrid gab es kein anderes Lebensmodell.

Die Jahre vergingen, und eines Tages kam sie an einem Gebäude vorbei, an dessen Tür das Schild „Eheberatungsstelle“ hing. Und da fing es in ihr an zu arbeiten. Als der Vorsatz herangereift war, ging sie zu einer Beratung durch diese Tür. Im Laufe des Gesprächs fragte die Beraterin sie: „Haben Sie schon mal an Scheidung gedacht?“ – „Nein!“ entfuhr es ihr. Das hatte sie nie als Möglichkeit für sich gesehen. Sie ging nach Hause, und es arbeitete wieder in ihr. Sie kämpfte einen jahrelangen, inneren Kampf.

Eines Tages, die Töchter waren erwachsen und ausgezogen und der Mann war mal wieder „zur Kur“, nahm sie ihre Siebensachen und zog aus. Sie hatte alles gut vorbereitet. Von da an genoss sie ihr Alleinsein in vollen Zügen – wenn die Sonne in ihr Zimmer schien oder wenn sie im Schwimmbad ihren Körper im Wasser er-leben konnte. Sie arbeitete als Putzfrau, da sie keine Ausbildung hatte. Sie besuchte Bildungsveranstaltungen und lernte andere Frauen ihres Alters kennen, mit denen sie sich offen und ehrlich austauschen konnte. Und so wurde sie alt.

Mit Mitte 80 wurde sie sehr krank und musste im Krankenhaus behandelt werden, doch sie erholte sich wieder. Ihre Tochter bat sie, zu ihr in die Schweiz zu ziehen, sie würde ihr ganz in ihrer Nähe eine kleine Wohnung suchen. Ingrid konnte sich nicht vorstellen, woanders als dort zu leben, so sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und so sagte sie „nein“. Da brach ihre Tochter den Kontakt zu ihr ab. Die andere Tochter solidarisierte sich mit ihrer Schwester und beendete ebenfalls den Kontakt zu ihrer Mutter. Ingrid verstand die Welt nicht mehr. Aber sie gab nicht nach, und ist nun allein.

Ingrid ist keine Heldin, und dennoch bewundernswert. So wenig Türen, die ihr offen standen, doch als sie einmal erfahren hatte, wie sich ihr Leben „richtig“ anfühlt, hatte sie mit Mitte 50 den Mut, diesem Kompass zu folgen. Sie brauchte viel Zeit, um herauszufinden, was „richtig“ für sie hieß. Wäre sie bei uns in der Beratung oder Therapie – könnten wir aushalten, wenn sie als Klientin keine „Aha-Momente“ hätte, sondern „das Richtige“ sich nach und nach anschleicht und Gestalt annimmt? Ich bin immer wieder fasziniert davon, wenn die „Aha-Erlebnisse“ sich so völlig unverhofft ergeben, mal plötzlich, mal nach und nach, kaum merklich, sich entwickelnd. Und wenn dieses Erleben dann die Kraft entfaltet, Ängste und Unsicherheiten oder Gewohnheiten wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen.


Ihr könnt den Blog abonnieren, indem ihr hier eure Mailadresse eintragt. Sie wird ausschließlich dafür verwendet, euch zu informieren, wenn ein neuer Beitrag online gestellt wurde.

Wir freuen uns, wenn ihr unsere Beiträge lest, teilt, kommentiert und unser Blog-Projekt verfolgt und unterstützt.

(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Realität ist relativ?

Viele von uns haben sich in den letzten Monaten die Augen gerieben und fassungslos zur Kenntnis genommen, wie sich ganz neue Gräben auftaten. Menschen, von denen wir gestern noch dachten, dass sie die Welt ähnlich sehen wie wir, relativieren plötzlich Menschenrechte oder tun – selbst gut dokumentierte – Gewaltverbrechen als „Fake News“ ab. Wenn „Opfer“ (z.B. des Kolonialismus) Gewalt ausüben, dann ist das angeblich gerechtfertigt durch ihren Opfer-Status. Selbst Feministinnen leugnen sexuelle Gewalt gegen Frauen, wenn es sich bei den Opfern um angebliche „Täterinnen“ handelt.*

Um zumindest zu verstehen, wie so etwas passieren kann, und um sich darüber auseinandersetzen zu können, kann der soziale Konstruktionismus, der von Mary und Ken Gergen in die systemische Welt getragen wurde, Anregungen geben.

Demnach ist nichts real, solange Menschen nicht darin übereinstimmen, dass es real ist. Immer, wenn Menschen definieren, was „Wirklichkeit“ ist, sprechen sie aus einer kulturellen Tradition heraus. Eine Aussage wie „Es ist nichts.“ würde bei Konstruktionistinnen lauten: „Es ist nichts für uns.“ Es geht nicht darum, zu entscheiden, was wahr und falsch ist. Wir müssen aber auch nicht darauf verzichten, etwas als wahr zu benennen. Die Frage ist: wofür ist das nützlich? Welche Konsequenzen hat welche Realitätskonstruktion? Innerhalb einer Tradition sind Annahmen über Wahrheit für erfolgreiches Funktionieren von zentraler Bedeutung. Wenn wir z.B. davon ausgehen, dass die medizinische Forschung das Corona-Virus als gefährlich identifizieren und uns dementsprechende Verhaltensregeln empfehlen kann, ist es wichtig, diese „lokale Wahrheit“ zu etablieren, um so viele Menschen wie möglich vor dem Tod zu bewahren. Aber auch die Wissenschaft selbst geht ja nicht davon aus, dass es die eine universelle Wahrheit gibt, sondern dass unsere Erkenntnisse darüber, was „wahr“ sein könnte, sich stets weiterentwickeln.

Wenn Konflikte wie die oben skizzierten entstehen, ist die Frage: Wie können wir die unterschiedlichen Bedeutungsgebungen näher zusammenbringen? Wie sprechen wir miteinander? Was wird gewichtig? Wann wird geschwiegen? – Für mich klingt es herausfordernd, das Argumentieren sein zu lassen (weil Argumente ein „Gegeneinander“ sind). Aber wenn ich lese, dass es darum geht, moralische Ideologien als soziale Konstruktionen zu kennzeichnen und Dialoge über multiple Wirklichkeiten zu suchen, dann halte ich das für einen Weg, über den man die Gräben womöglich wieder schließen oder zumindest Annäherungen herbeiführen kann. Zum Beispiel: Was würde passieren, wenn in bestimmten Kreisen die sexuelle Gewalt an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 als „ist auch für uns real“ angesehen würde? Was müsste sich in deren Selbstverständnis, in deren Diskursen verändern?

Auch diese Aussage erscheint hilfreich für die Auseinandersetzung mit befremdlich wirkenden Positionen: Die Suche nach dem überlegenen moralischen Code ist nicht fruchtbar. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir mit Wertekonflikten umgehen können: Hinter welchen für real oder nicht real gehaltenen Annahmen stehen welche Werte und wohin führt uns die Verfolgung dieser Werte? Wie lässt sich das dann weiterdenken? Welche Annahmen wären für uns oder andere unbequem?

In weiblichen Diskursen sind wir uns heutzutage weniger denn je einig darüber, was eigentlich eine „richtige“ feministische Position sein kann. Auch da gibt es viele verschiedene Traditionen, Sozialisationen und Erfahrungen, aus denen heraus wir auf „Frau“ und Weiblichkeit schauen. Gerade die Diskussion um Diversität ist herausfordernd für den konkreten Alltag. Ich würde mir wünschen, dass wir uns trauen dürfen, verschiedene Positionen zu vertreten, um dann – ganz im Sinne des sozialen Konstruktionismus – zu fruchtbaren Auseinandersetzungen zu kommen.

*s. z.B. unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/gewalt-der-hamas-an-israelinnen-schweigen-der-metoo-bewegung-ld.1767977

Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21

Nachruf auf eine ganz normale Frau

Welchen Geschichten erlaubst du, dein Leben zu regieren? Diese Frage richtet sich zunächst auf die Geschichten, die wir über uns selbst konstruieren und erzählen. Aber Geschichten schaffen ja nicht nur Orientierung und Identität für uns als einzelne, sondern auch für Kollektive. Sie dienen der Bildung von Gemeinsamkeiten nach innen und Abgrenzungen nach außen, um Gruppenidentitäten zu ermöglichen.

Geschichten schaffen Orientierung auch im Hinblick auf die Frage, wie wir eigentlich leben wollen. So schreibt die hypnosystemische Schmerztherapeutin Hanne Seemann: „.. die … psychologische Forschung ist defizitorientiert. Wir haben nicht gelernt zu erforschen, wie es gehen kann, gut und ohne chronische Störungen … zu leben. Solche Leute sollten wir uns genauer anschauen!“ (1)

Wir hören, lesen und schreiben Lebensgeschichten über andere Menschen. Dabei orientieren wir uns oft an herausragenden Persönlichkeiten, die Besonderes geleistet haben, sich besonders engagiert haben, vieles bewegen, kluge Gedanken äußern. Für diese Menschen schreiben wir Nachrufe, zum einen, um sie zu würdigen, aber auch, um die Bedeutung, die ein Leben für uns haben kann, auszuleuchten.

Frauen machen sich seit Jahrzehnten Gedanken über den „kleinen Unterschied“, und auch hierzu gibt es unzählige Geschichten, die einzelne Facetten dieses Unterschiedes zu beleuchten versuchen. Die heutigen Diskussionen über Gender zeigen, dass diese Unterscheidungen vielfältige Ausgrenzungspotentiale in verschiedene Richtungen enthalten. Daher könnten wir überlegen, wie wir überhaupt noch als weiblich definierte, individuelle und Gruppenidentitäten herstellen können – oder ob wir das noch wollen oder müssen. Das scheint mir eine sehr große Frage. An dieser Stelle beschränke ich mich auf den Gedanken, dass Geschichten, auch wenn sie vielfältig sind und bleiben, dennoch Anregungen, Orientierungen und Anlass zu kreativen Auseinandersetzungen bieten.

In diesem Blog wollen wir Gedanken entfalten und Geschichten erzählen, die uns beschäftigen und die systemischen Sichtweisen durch eine weibliche Perspektive ergänzen. Daher möchte ich jetzt eine Geschichte erzählen von einer Frau, deren Art, ihr Leben zu leben, mich immer wieder überrascht und fasziniert hat. Ich habe mich oft gefragt, wie ich Facetten davon für mich selber übernehmen könnte. Aus den vielen Facetten dieses Lebens erscheint die Resilienz dieser Frau besonders auffällig.

Sie ist 100 Jahre alt geworden. 1923 geboren, war ihr Leben wie so viele andere. Sie war keine Feministin, kam als junge Frau unauffällig durch die Zeit des Nationalsozialismus, gründete nach dem Krieg eine Familie und arbeitete dann in einer Bank. Schon mit 60 konnte sie in den Ruhestand gehen und lebte dann 40 Jahre von einer auskömmlichen Rente. Nun ist Ursula Rolwes gestorben.

Gegen Ende des Krieges verbrachte Ursel einige Zeit alleine in der elterlichen Wohnung, der Vater verstorben, die Mutter mit dem sehr viel jüngeren Bruder auf dem Land. In der Nähe gab es einen Schutzbunker, aber ihr grauste vor der Enge des Bunkers, und so harrte sie während der Bombennächte alleine in der Wohnung aus und hoffte, dass ihr Haus nicht getroffen würde. Es klappte. Nach dem Krieg heiratete sie gegen den Willen ihrer Mutter den „Rabauken“ Fritz, das Pflegekind einer Arbeiterfamilie, der sich prügelte und nicht immer einfach zu ertragen war. Ihre zwei Kinder wurden „Schlüsselkinder“. Die Familie lebte den Wirtschaftswunder-Traum. Ursel hatte einen guten Job und hatte dadurch eine gewisse Selbständigkeit.

Ich lernte sie kennen, als sie schon 70 Jahre alt war. Sie war nicht besonders herzlich, auch nicht spürbar aufmerksam mir gegenüber, aber ich wurde sofort akzeptiert. Sie war eine schlechte Köchin, aber eine zuverlässige Frau, die immer auf den Beinen war und die Nörgeleien ihres Mannes wegschwieg, bis es ihr zu viel wurde. Dann wehrte sie sich, und wenn sie etwas wirklich wollte, dann bekam sie es. Fritz war für das Kochen zuständig und „hatte sein Herz auf der Zunge“. Ursel war die Pragmatikerin.

Das Besondere an ihr war: Alle mochten sie! Sie jammerte nie und man konnte sich nicht mit ihr streiten (das konnte nur ihr Mann). Sie wusste ganz genau, was sie wollte, und trotzdem hat sie Vieles hingenommen und mitgemacht. Als sie zu ihrem 100. Geburtstag Blumen so in ihrem Zimmer arrangiert bekam, dass sie nicht störten, sie sie aber trotzdem sehen konnte, ließ sie das geschehen, aber kaum waren die Gäste weg, stellte sie die Vasen auf ihren Rollator und brachte sie fort.

Wenn Ursel sich mit unangenehmen Dingen beschäftigte, beschrieb sie ihre Sicht der Dinge und endete immer mit dem Satz: „Aber man kann’s ja nicht ändern.“ Selbst als ihr Mann mit 95 Jahren starb und sie verstört zurückblieb, sagte sie: „Man kann’s ja nicht ändern.“ Sie hatte stets Reframings parat. In diesem Falle meinte sie, ihr Mann wäre ja nicht zurechtgekommen, wenn sie zuerst gestorben wäre, daher wäre es so besser. – Wir gestehen Frauen gerne Emotionalität zu und halten sie auch für wichtig, gerade wenn es darum geht, mit einem Verlust zurechtzukommen. Aber Ursel konnte mit ihrer pragmatischen, rationalen Herangehensweise an Probleme diese am besten hinter sich lassen.

Überhaupt war ihr Blick immer auf das Leben gerichtet. Im Alter von 94 Jahren sagte sie, ganz erstaunt, es sei in der letzten Zeit ein ganz neuer Gedanke aufgetaucht, der ihr vorher nie gekommen sei: „In ein oder zwei Jahren könnte ich ja tot sein!“

Nach dem Tod ihres Mannes zog sie in eine Frauen-WG in einem Seniorenzentrum, bekam von ihren Mitbewohnerinnen den Namen Uschi und antwortete auf die Frage, wie es ihr ginge, immer mit der Bemerkung: „Gut. Mir fehlt ja nichts.“ Dabei konnte sie nur noch sehr schlecht sehen und hören und immer schlechter laufen. Dafür, dass ihr „etwas gefehlt“ hätte, hätte sie schon Schmerzen haben müssen, und die hatte sie eben nicht. Nur als sie Corona-positiv war und daran gehindert wurde, sich unter Menschen zu begeben, wurde sie für ein paar Tage sehr unglücklich. Zwar war ihr Gedächtnis nicht mehr tadellos, doch war sie nicht dement, aber „dieses Corona“ vergaß sie immer sofort wieder – und zack, war sie wieder vor ihrer Tür unterwegs.

Sie spielte sehr gerne und sie liebte es, mitten im Trubel der Großstadt zu sitzen und sich das Treiben anzuschauen. Ihre Lebenslust ließ nie nach. Als sie vor der Frage stand, ob sie sich 100-jährig einer Operation am Gehirn unterziehen sollte oder nicht, entschied sie sich dafür mit der Begründung, sie habe in ihrem Leben viel erlebt und so oft Glück gehabt, da wolle sie auch jetzt wieder auf ihr Glück vertrauen. Doch die OP half nicht, und sie sagte: „Jetzt bin ich wohl dran, jetzt muss ich wohl dran glauben“. Auf die Frage, ob sie Angst vorm Tod habe, antwortete sie nach kurzem Überlegen: „Nein, aber ich würde gerne noch leben.“

Ihre unglaublich starke Resilienz: Mit dem Widerstand mitgehen, ohne sich unterkriegen zu lassen. Dem eigenen Kompass folgen, ohne so anzuecken, dass frau sich nicht bewältigbaren Hürden gegenüber sieht. Die Widrigkeiten des Lebens akzeptieren und nach vorne schauen mit Lebenslust und einer gewissen Risikobereitschaft. Wir wissen alle, wie schwer das sein kann, aber mir macht es Mut, wenn ich Menschen sehe, die das können.

(1) Seemann, Hanne 2018: Schmerzen – Notrufe aus dem Körper. Hypnosystemische Schmerztherapie. Stuttgart, S. 262

Macht weiblich?

„Wir sollten uns nicht davor scheuen, unsere Macht als Berater auszuüben, zum Wohle der Klienten.“ – ???

So ein Satz wird als Einwurf während eines Vortrages auf einer systemischen Fachtagung im Jahre 2023 dahin gesagt, und da es so nebenbei gesagt ist, oder warum auch immer, bleibt er unkommentiert stehen. Da er nun mal in der Welt ist, soll er hier als Aufhänger dienen, um ein kleines Schlaglicht auf das Thema Macht zu werfen.

Zuerst können wir fragen: Haben Beratende überhaupt Macht? Systemiker_innen bemühen ja gerne Luhmann, wenn sie ihre Annahmen fundieren oder Anregungen haben möchten, um sich einem Sachverhalt zu nähern. Luhmann also spricht erst einmal von Einfluss. Diesen haben Personen, die bei anderen Personen Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten transformieren, wenn es um die Veränderung von Erleben oder auch von Handeln geht. Sie können nicht „machen“, dass andere ihr Erleben oder Handeln verändern, sondern nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen.

Einfluss kann laut Luhmann auf verschiedenen Wegen stattfinden: Über Argumente und Reputation (sachlich generiert), über Autorität (zeitlich generiert), über Meinungsführer_innenschaft (sozial generiert) oder über Macht. Macht wiederum definiert er als Möglichkeit, jemand anderem den Aktionsraum einzuengen oder zu erweitern – sofern die andere Person dies auch für möglich hält.* Diese Möglichkeit kann über Austauschbarkeit gegeben sein. Haben also Beratende Macht? Soll sie über das Ausnutzen von (emotionaler, „organisationaler …) Abhängigkeit ausgeübt werden? Denkbar wäre dies in Zwangskontexten oder in der Psychotherapie, wenn partout kein anderer Therapieplatz zu finden ist. Wäre das förderlich für die Beratung? Ist nicht der systemische Ansatz gerade deshalb z.B. in der Jugendhilfe erfolgreich, weil er Widerstand der zu Beratenden nicht als hinderlich oder symptomatisch, sondern als sinnvolle Abwehr von Dingen betrachtet, die eine Person nicht möchte?

Was selbstverständlich in der Beratung stattfindet, ist Einfluss. Kann die beratende Person die Ja-Wahrscheinlichkeit nicht fördern, findet keine Veränderung statt. In der Regel wird Beratung jedoch mit dem Anspruch verbunden, Anstöße zur Veränderung geben zu können.

Dies als kleines Beispiel dafür, dass es sich lohnen könnte, sich mehr damit zu beschäftigen, wie wir es mit der Macht halten wollen, auch unabhängig von einer Beratungs- oder Therapiesituation. Dadurch könnten wir aus der alten Diskussion herauskommen – lehnen Frauen Macht generell ab oder ergreifen sie sie selber, um männlicher Macht etwas entgegenzusetzen? Letztendlich wollen wir ja Einfluss nehmen, und wir können entscheiden, auf welche Weise wir das versuchen.

Der Griff zu Machtmitteln – also Druck auf andere, etwas zu tun oder zu lassen – erscheint zunächst recht einfach, wenn man denn über solche Mittel verfügt, wie z.B. in einer hierarchischen Position oder bei bestimmten Abhängigkeiten. Aber sie hat immer einen Preis: Drohungen müssen ggf. wahr gemacht werden, was viel Aufwand erforderlich macht. Die andere Person kann in den Widerstand und damit in einen Machtkampf gehen, aus dem niemand „gut“ wieder herauskommt. In der Regel werden Beziehungen beschädigt. Oder die andere Person hat Alternativen, und die Macht zerfällt.

In früheren feministischen Diskussionen wurde die Macht von Männern zunächst verurteilt, dann gab es Differenzierungen: Üben Frauen nicht auch Macht aus, wenn auch weniger offensichtlich, sondern subtil, wie z.B. über emotionalen Druck oder über die Gestaltung und Kontrolle der Details? Eine andere, einflussreiche Position war (und ist) die, Frauen müssten auch Macht wollen, sich aneignen und ausüben, um Gleichberechtigung zu erreichen. Viele Frauen haben seitdem einflussreiche Positionen erreicht und sich darüber Machtmöglichkeiten gesichert. Aber wen wundert es, dass viele Menschen, die mit Macht ausübenden Frauen zu tun haben, seufzen, diese seien nicht anders und schon gar nicht besser als Männer? Es ist also die Frage, wie Menschen – sowohl Frauen als auch Männer -, die Macht haben, mit Macht umgehen können oder sollten, damit Gleichberechtigung für alle stattfinden kann.

Männer haben tiefgreifende Lernerfahrungen darin, ihren Einfluss sozial zu generieren. Auch in systemischen Kontexten geraten wir immer wieder in Situationen, in denen Frauen zuschauen und klatschen, wenn sich die Männer selbst darstellen und wenn sie definieren und gestalten. Frauen merken oft noch nicht einmal, wenn die „Spielchen“ ablaufen. Ein Mann schilderte sein Verhalten im beruflichen Kontext in etwa so: „Ich schaue genau, wer was sagt, wer Einfluss hat und wann ich was sage und wessen Position ich jeweils unterstütze.“ Viele Frauen wollen diese „Spielchen“ nicht spielen. Sie versuchen meistens erst einmal, mit Argumenten Einfluss zu nehmen, womit sie dem Ideal demokratischer Auseinandersetzung und Einflussnahme entsprechen. Aber unter welchen Umständen setzt sich das beste Argument durch und wer legt fest, welches Argument das beste ist? Viele Frauen haben sich eigene Netzwerke erarbeitet, sprechen sich ab und unterstützen sich gegenseitig. Häufig ist dies ein sehr bewusstes Vorgehen, kein intuitives, automatisches Handeln.

Wenn der Begriff „Autorität“ fällt, verwechseln viele Menschen das mit „autoritär“ und sagen, dass sie keine Autorität sein wollen. Besonders Frauen haben Angst davor, autoritär aufzutreten. Autorität war lange Zeit mit Macht verknüpft, und das ist nicht dasselbe wie das, was unter Autorität ursprünglich und eigentlich verstanden wurde und wird oder werden könnte. Autorität lässt sich als eine Beziehungskonstellation definieren, in der die an dieser Beziehung Beteiligten nicht gleich sind. Das heißt: die Beziehung ist komplementär. Autorität, die nicht an Macht gekoppelt ist, wird symmetrisch gerahmt: Autorität wird einer Person von anderen zugestanden und kann jederzeit aberkannt werden. Wer Autorität haben will, muss sie gewinnen. Dann kann man mit dieser Autorität Einfluss nehmen. Die Bereitschaft, sich im Erleben und/oder Handeln an einer Autorität zu orientieren, steigt.

Wie also wollen wir Einfluss nehmen?

*Luhmann, Niklas: Macht. Konstanz und München 2012, 4. Auflage, S. 83 ff