(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Realität ist relativ?

Viele von uns haben sich in den letzten Monaten die Augen gerieben und fassungslos zur Kenntnis genommen, wie sich ganz neue Gräben auftaten. Menschen, von denen wir gestern noch dachten, dass sie die Welt ähnlich sehen wie wir, relativieren plötzlich Menschenrechte oder tun – selbst gut dokumentierte – Gewaltverbrechen als „Fake News“ ab. Wenn „Opfer“ (z.B. des Kolonialismus) Gewalt ausüben, dann ist das angeblich gerechtfertigt durch ihren Opfer-Status. Selbst Feministinnen leugnen sexuelle Gewalt gegen Frauen, wenn es sich bei den Opfern um angebliche „Täterinnen“ handelt.*

Um zumindest zu verstehen, wie so etwas passieren kann, und um sich darüber auseinandersetzen zu können, kann der soziale Konstruktionismus, der von Mary und Ken Gergen in die systemische Welt getragen wurde, Anregungen geben.

Demnach ist nichts real, solange Menschen nicht darin übereinstimmen, dass es real ist. Immer, wenn Menschen definieren, was „Wirklichkeit“ ist, sprechen sie aus einer kulturellen Tradition heraus. Eine Aussage wie „Es ist nichts.“ würde bei Konstruktionistinnen lauten: „Es ist nichts für uns.“ Es geht nicht darum, zu entscheiden, was wahr und falsch ist. Wir müssen aber auch nicht darauf verzichten, etwas als wahr zu benennen. Die Frage ist: wofür ist das nützlich? Welche Konsequenzen hat welche Realitätskonstruktion? Innerhalb einer Tradition sind Annahmen über Wahrheit für erfolgreiches Funktionieren von zentraler Bedeutung. Wenn wir z.B. davon ausgehen, dass die medizinische Forschung das Corona-Virus als gefährlich identifizieren und uns dementsprechende Verhaltensregeln empfehlen kann, ist es wichtig, diese „lokale Wahrheit“ zu etablieren, um so viele Menschen wie möglich vor dem Tod zu bewahren. Aber auch die Wissenschaft selbst geht ja nicht davon aus, dass es die eine universelle Wahrheit gibt, sondern dass unsere Erkenntnisse darüber, was „wahr“ sein könnte, sich stets weiterentwickeln.

Wenn Konflikte wie die oben skizzierten entstehen, ist die Frage: Wie können wir die unterschiedlichen Bedeutungsgebungen näher zusammenbringen? Wie sprechen wir miteinander? Was wird gewichtig? Wann wird geschwiegen? – Für mich klingt es herausfordernd, das Argumentieren sein zu lassen (weil Argumente ein „Gegeneinander“ sind). Aber wenn ich lese, dass es darum geht, moralische Ideologien als soziale Konstruktionen zu kennzeichnen und Dialoge über multiple Wirklichkeiten zu suchen, dann halte ich das für einen Weg, über den man die Gräben womöglich wieder schließen oder zumindest Annäherungen herbeiführen kann. Zum Beispiel: Was würde passieren, wenn in bestimmten Kreisen die sexuelle Gewalt an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 als „ist auch für uns real“ angesehen würde? Was müsste sich in deren Selbstverständnis, in deren Diskursen verändern?

Auch diese Aussage erscheint hilfreich für die Auseinandersetzung mit befremdlich wirkenden Positionen: Die Suche nach dem überlegenen moralischen Code ist nicht fruchtbar. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir mit Wertekonflikten umgehen können: Hinter welchen für real oder nicht real gehaltenen Annahmen stehen welche Werte und wohin führt uns die Verfolgung dieser Werte? Wie lässt sich das dann weiterdenken? Welche Annahmen wären für uns oder andere unbequem?

In weiblichen Diskursen sind wir uns heutzutage weniger denn je einig darüber, was eigentlich eine „richtige“ feministische Position sein kann. Auch da gibt es viele verschiedene Traditionen, Sozialisationen und Erfahrungen, aus denen heraus wir auf „Frau“ und Weiblichkeit schauen. Gerade die Diskussion um Diversität ist herausfordernd für den konkreten Alltag. Ich würde mir wünschen, dass wir uns trauen dürfen, verschiedene Positionen zu vertreten, um dann – ganz im Sinne des sozialen Konstruktionismus – zu fruchtbaren Auseinandersetzungen zu kommen.

*s. z.B. unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/gewalt-der-hamas-an-israelinnen-schweigen-der-metoo-bewegung-ld.1767977

Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21

Nachruf auf eine ganz normale Frau

Welchen Geschichten erlaubst du, dein Leben zu regieren? Diese Frage richtet sich zunächst auf die Geschichten, die wir über uns selbst konstruieren und erzählen. Aber Geschichten schaffen ja nicht nur Orientierung und Identität für uns als einzelne, sondern auch für Kollektive. Sie dienen der Bildung von Gemeinsamkeiten nach innen und Abgrenzungen nach außen, um Gruppenidentitäten zu ermöglichen.

Geschichten schaffen Orientierung auch im Hinblick auf die Frage, wie wir eigentlich leben wollen. So schreibt die hypnosystemische Schmerztherapeutin Hanne Seemann: „.. die … psychologische Forschung ist defizitorientiert. Wir haben nicht gelernt zu erforschen, wie es gehen kann, gut und ohne chronische Störungen … zu leben. Solche Leute sollten wir uns genauer anschauen!“ (1)

Wir hören, lesen und schreiben Lebensgeschichten über andere Menschen. Dabei orientieren wir uns oft an herausragenden Persönlichkeiten, die Besonderes geleistet haben, sich besonders engagiert haben, vieles bewegen, kluge Gedanken äußern. Für diese Menschen schreiben wir Nachrufe, zum einen, um sie zu würdigen, aber auch, um die Bedeutung, die ein Leben für uns haben kann, auszuleuchten.

Frauen machen sich seit Jahrzehnten Gedanken über den „kleinen Unterschied“, und auch hierzu gibt es unzählige Geschichten, die einzelne Facetten dieses Unterschiedes zu beleuchten versuchen. Die heutigen Diskussionen über Gender zeigen, dass diese Unterscheidungen vielfältige Ausgrenzungspotentiale in verschiedene Richtungen enthalten. Daher könnten wir überlegen, wie wir überhaupt noch als weiblich definierte, individuelle und Gruppenidentitäten herstellen können – oder ob wir das noch wollen oder müssen. Das scheint mir eine sehr große Frage. An dieser Stelle beschränke ich mich auf den Gedanken, dass Geschichten, auch wenn sie vielfältig sind und bleiben, dennoch Anregungen, Orientierungen und Anlass zu kreativen Auseinandersetzungen bieten.

In diesem Blog wollen wir Gedanken entfalten und Geschichten erzählen, die uns beschäftigen und die systemischen Sichtweisen durch eine weibliche Perspektive ergänzen. Daher möchte ich jetzt eine Geschichte erzählen von einer Frau, deren Art, ihr Leben zu leben, mich immer wieder überrascht und fasziniert hat. Ich habe mich oft gefragt, wie ich Facetten davon für mich selber übernehmen könnte. Aus den vielen Facetten dieses Lebens erscheint die Resilienz dieser Frau besonders auffällig.

Sie ist 100 Jahre alt geworden. 1923 geboren, war ihr Leben wie so viele andere. Sie war keine Feministin, kam als junge Frau unauffällig durch die Zeit des Nationalsozialismus, gründete nach dem Krieg eine Familie und arbeitete dann in einer Bank. Schon mit 60 konnte sie in den Ruhestand gehen und lebte dann 40 Jahre von einer auskömmlichen Rente. Nun ist Ursula Rolwes gestorben.

Gegen Ende des Krieges verbrachte Ursel einige Zeit alleine in der elterlichen Wohnung, der Vater verstorben, die Mutter mit dem sehr viel jüngeren Bruder auf dem Land. In der Nähe gab es einen Schutzbunker, aber ihr grauste vor der Enge des Bunkers, und so harrte sie während der Bombennächte alleine in der Wohnung aus und hoffte, dass ihr Haus nicht getroffen würde. Es klappte. Nach dem Krieg heiratete sie gegen den Willen ihrer Mutter den „Rabauken“ Fritz, das Pflegekind einer Arbeiterfamilie, der sich prügelte und nicht immer einfach zu ertragen war. Ihre zwei Kinder wurden „Schlüsselkinder“. Die Familie lebte den Wirtschaftswunder-Traum. Ursel hatte einen guten Job und hatte dadurch eine gewisse Selbständigkeit.

Ich lernte sie kennen, als sie schon 70 Jahre alt war. Sie war nicht besonders herzlich, auch nicht spürbar aufmerksam mir gegenüber, aber ich wurde sofort akzeptiert. Sie war eine schlechte Köchin, aber eine zuverlässige Frau, die immer auf den Beinen war und die Nörgeleien ihres Mannes wegschwieg, bis es ihr zu viel wurde. Dann wehrte sie sich, und wenn sie etwas wirklich wollte, dann bekam sie es. Fritz war für das Kochen zuständig und „hatte sein Herz auf der Zunge“. Ursel war die Pragmatikerin.

Das Besondere an ihr war: Alle mochten sie! Sie jammerte nie und man konnte sich nicht mit ihr streiten (das konnte nur ihr Mann). Sie wusste ganz genau, was sie wollte, und trotzdem hat sie Vieles hingenommen und mitgemacht. Als sie zu ihrem 100. Geburtstag Blumen so in ihrem Zimmer arrangiert bekam, dass sie nicht störten, sie sie aber trotzdem sehen konnte, ließ sie das geschehen, aber kaum waren die Gäste weg, stellte sie die Vasen auf ihren Rollator und brachte sie fort.

Wenn Ursel sich mit unangenehmen Dingen beschäftigte, beschrieb sie ihre Sicht der Dinge und endete immer mit dem Satz: „Aber man kann’s ja nicht ändern.“ Selbst als ihr Mann mit 95 Jahren starb und sie verstört zurückblieb, sagte sie: „Man kann’s ja nicht ändern.“ Sie hatte stets Reframings parat. In diesem Falle meinte sie, ihr Mann wäre ja nicht zurechtgekommen, wenn sie zuerst gestorben wäre, daher wäre es so besser. – Wir gestehen Frauen gerne Emotionalität zu und halten sie auch für wichtig, gerade wenn es darum geht, mit einem Verlust zurechtzukommen. Aber Ursel konnte mit ihrer pragmatischen, rationalen Herangehensweise an Probleme diese am besten hinter sich lassen.

Überhaupt war ihr Blick immer auf das Leben gerichtet. Im Alter von 94 Jahren sagte sie, ganz erstaunt, es sei in der letzten Zeit ein ganz neuer Gedanke aufgetaucht, der ihr vorher nie gekommen sei: „In ein oder zwei Jahren könnte ich ja tot sein!“

Nach dem Tod ihres Mannes zog sie in eine Frauen-WG in einem Seniorenzentrum, bekam von ihren Mitbewohnerinnen den Namen Uschi und antwortete auf die Frage, wie es ihr ginge, immer mit der Bemerkung: „Gut. Mir fehlt ja nichts.“ Dabei konnte sie nur noch sehr schlecht sehen und hören und immer schlechter laufen. Dafür, dass ihr „etwas gefehlt“ hätte, hätte sie schon Schmerzen haben müssen, und die hatte sie eben nicht. Nur als sie Corona-positiv war und daran gehindert wurde, sich unter Menschen zu begeben, wurde sie für ein paar Tage sehr unglücklich. Zwar war ihr Gedächtnis nicht mehr tadellos, doch war sie nicht dement, aber „dieses Corona“ vergaß sie immer sofort wieder – und zack, war sie wieder vor ihrer Tür unterwegs.

Sie spielte sehr gerne und sie liebte es, mitten im Trubel der Großstadt zu sitzen und sich das Treiben anzuschauen. Ihre Lebenslust ließ nie nach. Als sie vor der Frage stand, ob sie sich 100-jährig einer Operation am Gehirn unterziehen sollte oder nicht, entschied sie sich dafür mit der Begründung, sie habe in ihrem Leben viel erlebt und so oft Glück gehabt, da wolle sie auch jetzt wieder auf ihr Glück vertrauen. Doch die OP half nicht, und sie sagte: „Jetzt bin ich wohl dran, jetzt muss ich wohl dran glauben“. Auf die Frage, ob sie Angst vorm Tod habe, antwortete sie nach kurzem Überlegen: „Nein, aber ich würde gerne noch leben.“

Ihre unglaublich starke Resilienz: Mit dem Widerstand mitgehen, ohne sich unterkriegen zu lassen. Dem eigenen Kompass folgen, ohne so anzuecken, dass frau sich nicht bewältigbaren Hürden gegenüber sieht. Die Widrigkeiten des Lebens akzeptieren und nach vorne schauen mit Lebenslust und einer gewissen Risikobereitschaft. Wir wissen alle, wie schwer das sein kann, aber mir macht es Mut, wenn ich Menschen sehe, die das können.

(1) Seemann, Hanne 2018: Schmerzen – Notrufe aus dem Körper. Hypnosystemische Schmerztherapie. Stuttgart, S. 262

Macht weiblich?

„Wir sollten uns nicht davor scheuen, unsere Macht als Berater auszuüben, zum Wohle der Klienten.“ – ???

So ein Satz wird als Einwurf während eines Vortrages auf einer systemischen Fachtagung im Jahre 2023 dahin gesagt, und da es so nebenbei gesagt ist, oder warum auch immer, bleibt er unkommentiert stehen. Da er nun mal in der Welt ist, soll er hier als Aufhänger dienen, um ein kleines Schlaglicht auf das Thema Macht zu werfen.

Zuerst können wir fragen: Haben Beratende überhaupt Macht? Systemiker_innen bemühen ja gerne Luhmann, wenn sie ihre Annahmen fundieren oder Anregungen haben möchten, um sich einem Sachverhalt zu nähern. Luhmann also spricht erst einmal von Einfluss. Diesen haben Personen, die bei anderen Personen Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten transformieren, wenn es um die Veränderung von Erleben oder auch von Handeln geht. Sie können nicht „machen“, dass andere ihr Erleben oder Handeln verändern, sondern nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen.

Einfluss kann laut Luhmann auf verschiedenen Wegen stattfinden: Über Argumente und Reputation (sachlich generiert), über Autorität (zeitlich generiert), über Meinungsführer_innenschaft (sozial generiert) oder über Macht. Macht wiederum definiert er als Möglichkeit, jemand anderem den Aktionsraum einzuengen oder zu erweitern – sofern die andere Person dies auch für möglich hält.* Diese Möglichkeit kann über Austauschbarkeit gegeben sein. Haben also Beratende Macht? Soll sie über das Ausnutzen von (emotionaler, „organisationaler …) Abhängigkeit ausgeübt werden? Denkbar wäre dies in Zwangskontexten oder in der Psychotherapie, wenn partout kein anderer Therapieplatz zu finden ist. Wäre das förderlich für die Beratung? Ist nicht der systemische Ansatz gerade deshalb z.B. in der Jugendhilfe erfolgreich, weil er Widerstand der zu Beratenden nicht als hinderlich oder symptomatisch, sondern als sinnvolle Abwehr von Dingen betrachtet, die eine Person nicht möchte?

Was selbstverständlich in der Beratung stattfindet, ist Einfluss. Kann die beratende Person die Ja-Wahrscheinlichkeit nicht fördern, findet keine Veränderung statt. In der Regel wird Beratung jedoch mit dem Anspruch verbunden, Anstöße zur Veränderung geben zu können.

Dies als kleines Beispiel dafür, dass es sich lohnen könnte, sich mehr damit zu beschäftigen, wie wir es mit der Macht halten wollen, auch unabhängig von einer Beratungs- oder Therapiesituation. Dadurch könnten wir aus der alten Diskussion herauskommen – lehnen Frauen Macht generell ab oder ergreifen sie sie selber, um männlicher Macht etwas entgegenzusetzen? Letztendlich wollen wir ja Einfluss nehmen, und wir können entscheiden, auf welche Weise wir das versuchen.

Der Griff zu Machtmitteln – also Druck auf andere, etwas zu tun oder zu lassen – erscheint zunächst recht einfach, wenn man denn über solche Mittel verfügt, wie z.B. in einer hierarchischen Position oder bei bestimmten Abhängigkeiten. Aber sie hat immer einen Preis: Drohungen müssen ggf. wahr gemacht werden, was viel Aufwand erforderlich macht. Die andere Person kann in den Widerstand und damit in einen Machtkampf gehen, aus dem niemand „gut“ wieder herauskommt. In der Regel werden Beziehungen beschädigt. Oder die andere Person hat Alternativen, und die Macht zerfällt.

In früheren feministischen Diskussionen wurde die Macht von Männern zunächst verurteilt, dann gab es Differenzierungen: Üben Frauen nicht auch Macht aus, wenn auch weniger offensichtlich, sondern subtil, wie z.B. über emotionalen Druck oder über die Gestaltung und Kontrolle der Details? Eine andere, einflussreiche Position war (und ist) die, Frauen müssten auch Macht wollen, sich aneignen und ausüben, um Gleichberechtigung zu erreichen. Viele Frauen haben seitdem einflussreiche Positionen erreicht und sich darüber Machtmöglichkeiten gesichert. Aber wen wundert es, dass viele Menschen, die mit Macht ausübenden Frauen zu tun haben, seufzen, diese seien nicht anders und schon gar nicht besser als Männer? Es ist also die Frage, wie Menschen – sowohl Frauen als auch Männer -, die Macht haben, mit Macht umgehen können oder sollten, damit Gleichberechtigung für alle stattfinden kann.

Männer haben tiefgreifende Lernerfahrungen darin, ihren Einfluss sozial zu generieren. Auch in systemischen Kontexten geraten wir immer wieder in Situationen, in denen Frauen zuschauen und klatschen, wenn sich die Männer selbst darstellen und wenn sie definieren und gestalten. Frauen merken oft noch nicht einmal, wenn die „Spielchen“ ablaufen. Ein Mann schilderte sein Verhalten im beruflichen Kontext in etwa so: „Ich schaue genau, wer was sagt, wer Einfluss hat und wann ich was sage und wessen Position ich jeweils unterstütze.“ Viele Frauen wollen diese „Spielchen“ nicht spielen. Sie versuchen meistens erst einmal, mit Argumenten Einfluss zu nehmen, womit sie dem Ideal demokratischer Auseinandersetzung und Einflussnahme entsprechen. Aber unter welchen Umständen setzt sich das beste Argument durch und wer legt fest, welches Argument das beste ist? Viele Frauen haben sich eigene Netzwerke erarbeitet, sprechen sich ab und unterstützen sich gegenseitig. Häufig ist dies ein sehr bewusstes Vorgehen, kein intuitives, automatisches Handeln.

Wenn der Begriff „Autorität“ fällt, verwechseln viele Menschen das mit „autoritär“ und sagen, dass sie keine Autorität sein wollen. Besonders Frauen haben Angst davor, autoritär aufzutreten. Autorität war lange Zeit mit Macht verknüpft, und das ist nicht dasselbe wie das, was unter Autorität ursprünglich und eigentlich verstanden wurde und wird oder werden könnte. Autorität lässt sich als eine Beziehungskonstellation definieren, in der die an dieser Beziehung Beteiligten nicht gleich sind. Das heißt: die Beziehung ist komplementär. Autorität, die nicht an Macht gekoppelt ist, wird symmetrisch gerahmt: Autorität wird einer Person von anderen zugestanden und kann jederzeit aberkannt werden. Wer Autorität haben will, muss sie gewinnen. Dann kann man mit dieser Autorität Einfluss nehmen. Die Bereitschaft, sich im Erleben und/oder Handeln an einer Autorität zu orientieren, steigt.

Wie also wollen wir Einfluss nehmen?

*Luhmann, Niklas: Macht. Konstanz und München 2012, 4. Auflage, S. 83 ff

Eine wichtige Wegbereiterin ist gegangen

Am 19.5.3023 ist Maria Mies mit 92 Jahren gestorben. Sie hat die vorherrschende Wissenschaft schon vor 50 Jahren in Frage gestellt und mit ihren Thesen für eine andere Herangehensweise an Forschung fruchtbare Diskussionen ausgelöst. Leider hat dies in der Forschung bis heute nicht zu einem Umdenken geführt. Aber wir werden ihre Anstöße weiter verfolgen, auch auf unserem Blog. DANKE für die vielen Anregungen!

Wann werden sie verstehen?

Viele Frauen lauschen auf einem Kongress dem Vortrag eines Mannes, der Einfluss hat auf Veränderungsprozesse in Organisationen und der weiß, dass er gerade vor 180 Frauen spricht. Er meint, viele von den Zuhörerinnen hätten davon vielleicht noch nichts mitbekommen, aber es gebe da so Entwicklungen in der IT … Eine Zuhörerin macht deutlich, dass sie an ihrem Arbeitsplatz schon sehr viel weiter sind als bei dem Stand, den er gerade geschildert hat. Viele andere nicken.

Der Redner lobt gerade den Veränderungsprozess einer Organisation, als eine Frau sich zu Wort meldet, die von genau diesem Prozess eine Menge mitbekommen hat. Sie beklagt, dass die Belange von Frauen darin überhaupt keine Berücksichtigung fanden. „Ach ja“, sagt er, „so ist das, wenn man ein neues Auto baut. Da kommen dann Leute und wollen ein fünftes Rad und man muss dann sehen, wie man all die Räder noch in das neue Auto integriert.“ – Soso, Frauenbelange sind also das fünfte Rad am Wagen. Klarer lässt sich männliches Denken nicht zum Ausdruck bringen. Aber es geht noch weiter.

Er zeigt den Frauen das Bild eines heute gängigen Autos (keine Ahnung, was das für eins ist, ich habe überhaupt nicht darauf geachtet). Damit will er deutlich machen, dass wir uns mental noch in einem Zustand befinden, der sich für ihn am besten mit dem Fahren eines Autos mit dem heute üblichen technischen Standard vergleichen lässt. Man ist auf die herkömmlichen Armaturen eingestellt und geht davon aus, dass diese so bleiben werden. Und da müsse sich in den Köpfen noch einiges verändern. Meine Sitznachbarin und ich schauen uns vielsagend an. Wir können uns nicht vorstellen, dass die anderen 180 Frauen in diesem Raum sagen: „Ach, stimmt, ich muss mich wohl auf ein neues Auto-Cockpit einlassen. Ich werde mein heiß geliebtes Auto-Armaturenbrett sicher sehr vermissen.“

Immerhin ist es für die Frauen keine Selbstverständlichkeit mehr, dass sie mit dieser männlichen Ignoranz konfrontiert werden: Immer mehr Teilnehmerinnen stehen auf und gehen kurz raus oder unterhalten sich. Aber dass diese Sorte Männlichkeit, die sich weiterhin in den verantwortlichen Positionen breit macht, ausstirbt, darauf werden wir wohl noch lange warten müssen.

Welche Unterschiede sehen wir (nicht)?

Der weibliche Blick – was, wenn wir Unterschiede nicht einmal selber wahrnehmen? Was sehen wir alles nicht? Diese Frage wurde mir über die Lektüre dieses gar nicht mehr neuen Buches noch einmal richtig bewusst: Balanceakte. Familientherapie und Geschlechterrollen, herausgegeben 1992 von Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen.
Rosmarie Welter-Enderlin beschäftigt sich dort mit der Erkenntnis, dass sie selber diese Unterschiedsbildung lange nicht im Blick hatte (S. 124).

„Warum haben wir uns so lange nicht mit sexistischen Vorurteilen in der Familientherapie befasst?“

Andrea Ebbecke-Nohlen führt aus, dass es bei der systemischen Beratungsarbeit nicht darum geht, die Konstruktion von geschlechtsspezifischen Unterschieden immer vorzunehmen oder zu dekonstruieren, sondern darum, nicht nur auf die Geschichte der Generationen zu schauen, sondern auch auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Und es geht nicht nur darum, geschlechtsspezifische Unterschiede herauszuarbeiten, sondern auch Gemeinsamkeiten.

Was ich gerade heute sehr aktuell finde, ist die Frage, inwiefern geschlechtsspezifische Unterschiede konstruiert wurden, die Erwartungen und Erwartungserwartungen generiert haben, welche letztlich zu unerwünschten bzw. problemgenerierenden Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen führen. Und es ist heute (immer noch oder erst recht) wichtig, sich mit der Reaktion der Umwelt auf Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, die nicht den geschlechtsspezifischen Erwartungen entsprechen. (Dazu gibt es übrigens den schönen Film 20.000 especies de abejas / 20.000 Species of Bees, der gerade in der Berlinale lief: Der 8-jährige Coco fragt sich, ob während der Schwangerschaft seiner Mutter im Bauch etwas verkehrt gelaufen ist, da er sich als Mädchen fühlt. Der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlt, ist bei den Bienen in der Natur. Dort richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Sowie er unter Menschen kommt, muss er sich mit den geschlechtsspezifischen Zuschreibungen auseinandersetzen.)

Die auf Familie bezogenen Fragen von Rosmarie Welter-Enderlin und Andrea Ebbecke-Nohlen nach geschlechtsspezifischen Unterscheidungen sind z.B. folgende:

Wer hat welche Ecken und Räume für sich oder möchte sie haben, um sich zurückziehen zu können (und zu dürfen)?

Wer entscheidet, wer Geld wie und wofür ausgibt, wer wofür Verantwortung trägt oder aufgeben möchte?

Gelten Regeln und Grenzsetzungen für beide Geschlechter gleich? (S. 151 und 185 ff)

Solche Fragen sind mitnichten überholt, sondern lassen sich auch auf heutige, auch auf diverse Verhältnisse anwenden und erweitern. Wird bestimmtes Verhalten oder werden bestimmte Leistungen bei Vertretenden eines Geschlechts anders bewertet als bei denen des anderen? Wer muss oder darf wie in welchen Kontexten gekleidet und gestylt sein oder auftreten, um von wem anerkannt, akzeptiert oder überhaupt beachtet zu werden?

Zwar hat sich in den dreißig Jahren seit Erscheinen des Buches vieles verändert und ist vielleicht auch offener geworden. Es wird mit Stereotypen gespielt, sie werden verschoben. Vielleicht ist das Denken in etlichen Köpfen flexibler geworden. So verstehen Männer z.B. heutzutage vielleicht leichter, dass sie nicht nur „hart im Nehmen“ sein müssen und die Grenzen ihrer Belastbarkeit respektieren dürfen. Doch das Fühlen und Verhalten bleibt oftmals nach wie vor geschlechtsspezifischen Stereotypen verhaftet, die Erwartungen an andere und die Erwartungserwartungen sind durch geschlechtsspezifische Unterscheidungen geprägt. Ob sie durchlässiger geworden sind oder im Gegenteil durch neue Unterschiedsbildungen rigider, müsste diskutiert werden.

Polyphonie in der Wunderkammer

von Gila Klindworth.

Die Neuköllner Oper empfängt ihre Gäste auf einem Friedhof an der Berliner Hermannstraße. Sie werden sogleich zwischen den Gräbern zu einer Stelle geführt, an der viele Pilze wachsen. Kaum haben sie sich darum geschart, beginnt es in den Büschen zu singen – ein Kanon.

Eine Pilzforscherin erzählt von der Kommunikation der Pilze untereinander, ohne die es gar keinen belebbaren Planeten geben würde. Dann geht es weiter zu einer anderen Stelle auf dem Friedhof, an der das Publikum ein paar Fledermäuse sieht. Es ist nicht der Tag und die Stunde, um die nach Süden ziehenden Vogelschwärme zu sehen – wir müssen sie uns am dämmrigen Himmel vorstellen. Dann geht es zurück zur Kapelle, in der die Expertin für Pilze, der Experte für Schwarmintelligenz und die Musiker_innen erfahrbar und verstehbar machen, was Vernetzung heißt und wie viel das mit den Menschen zu tun hat, die ohne Vernetzung nicht leben könnten.

Wunderkammer – so nennt die Neuköllner Oper eine Veranstaltunghsreihe, in Anlehnung an die Spiegelkabinette der Wunderkammern in der Renaissance. Und sie knüpft auch an die Musik dieser Epoche an: „Eine vielstimmige Musik – Polyphonie – ist dabei so etwas wie ein Spiegel, eine Erfahrung der Netzwerke und Labyrinthe der Pilze im Hörbaren.“ (https://www.neukoellneroper.de/performance/wunderkammer-iii-pilze/)

Drei Sänger_innen betören das Publikum mit ihren wunderschönen Stimmen, und die Kapelle ist ein guter Klangraum dafür. Wir lernen, dass polyphone Musik einer Musik wich, in der eine Stimme dominiert und von den anderen begleitet wird. Polyphone Musik war seitdem die Ausnahme. Eine dieser Ausnahmen im 20. Jahrhundert waren die Kompositionen Astor Piazzollas, dessen Instrumentalmusik in der Wunderkammer von den Stimmen vertont wird.

Die Pilzforscherin beschreibt die Autopoiesis, wenn sie darüber spricht, wie einzelne Pflanzen sich aus der riesigen Zahl von Pilzen in ihrer Umgebung genau die bis zu zehn aussuchen, die ihnen das geben, was sie brauchen. Der Forscher der Schwarmintelligenz erläutert, wie Vögel und Fische sich immer nur an wenigen anderen in ihrer direkten Umgebung orientieren und wie diejenigen, die am meisten Informationen darüber haben, wo es Futter gibt oder wo Gefahr ist, die Führungsrolle übernehmen, so lange, bis andere neue Informationen haben. Und er berichtet, wie er und seine Kolleg_innen Forschungen darüber anstellen, wie Widerstands-Schwarmintelligenz entsteht, z.B. wenn an Ampeln die ersten Passant_innen bei Rot über die Straße gehen und vorher geprüft haben, ob ein Fahrzeug kommt, während andere ihnen folgen, ohne selber zu schauen, ob die Straße wirklich frei ist.

Der künstlerische Leiter der Neuköllner Oper führt, in eine blaue, haarige Jacke gekleidet, die einer Pilzstruktur gleicht, durch diesen Abend. Er meint, dass die soeben gehörten Erkenntnisse zu einer philosophischen Diskussion darüber führen könnten, ob wir nicht das Denken in und mit Grenzen hinterfragen sollten. Nun ja, denke ich, erkennen tun wir nun mal über Unterschiede, das Verbindende sehen wir eben als systemische Zusammenhänge.

Irgendetwas macht, dass die wenigen Stücke, die die Musiker_innen singen, das Publikum total „flashen“, mich eingeschlossen. Nach jeder Gesangseinlage gibt es begeisterten Applaus. Da gibt es wohl eine unterirdische Vernetzung.

Maria Mies und die Fernsehserien

von Gila Klindworth

„Deine Methoden sind, gelinde gesagt, esoterisch.“ Das war der Kommentar meiner „Doktormutter“ zu meinem methodischen Vorgehen in meiner Dissertation. All die Arbeit, die ich darauf verwandt hatte, es methodologisch zu fundieren, war vergeblich – meine Betreuerin ließ mich nur deshalb gewähren, weil sie das Thema spannend und meine Ergebnisse wohl zumindest als explorative Studie nicht ganz daneben fand.

Feministische Forschung zu Lateinamerika bestand zumindest in der Soziologie bis weit in die achtziger Jahre darin, die Situation der Frauen empirisch-quantitativ zu erforschen und mittels Statistiken zu präsentieren. Standardisierte Vorgehensweisen bei qualitativen Untersuchungen entwickelten sich gerade erst. Doch das kümmerte mich nicht.

Die Initialzündung zu meinem eigenwilligen Vorgehen waren die „Postulate der Frauenforschung“ von Maria Mies, die ich Mitte der achtziger Jahre kennenlernte. Während meines Studiums des Nebenfachs Psychologie (Hauptfach Erziehungswissenschaften) hatte ich mich mit den behavioristischen Ansichtsweisen mehrerer Lehrender (ohne _innen) abgemüht und dachte, das ist überholt und da wird sich bald einiges ändern (wie man sich täuschen kann). Die Thesen von Maria Mies fand ich erfrischend und wegweisend und sie prägten mich sehr für mein Forschungsprojekt, das ich wenige Jahre später in Mexiko durchführte. Zusätzlich nahm ich einige Anregungen aus der Arbeit der Ethnologin Maya Nadig auf (Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Frankfurt a.M. 1986).

Mein Forschungsthema waren die mexikanischen Telenovelas, ein Serienformat, das sich von den Soap Operas erheblich unterscheidet, weil die Geschichten einen Anfang und ein Ende (nach etwa einem halben Jahr) haben, so dass eine ganz andere Dramaturgie möglich wird. Die Telenovelas interessierten mich eigentlich gar nicht so sehr, aber weil sie im Leben von Frauen einen nicht wegzudenken Teil des Alltags darstellten, wollte ich mich mit den Zuschauerinnen über sie unterhalten und auf diese Weise mehr über weibliche Alltagskulturen von Frauen in Mexiko erfahren. Ich hatte vorher in Deutschland meine pädagogische Arbeit mit Frauen und ihrem Älterwerden reflektiert und war gespannt auf die Vergleiche zwischen einem Land, das bereits erhebliche kulturelle Modernisierungen erfahren hatte, und einem Land, das zwar vielen modernen Einflüssen ausgesetzt, in dem die vorherrschende Kultur aber noch sehr traditionell geprägt war.

Die Thesen von Maria Mies waren zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung provokativ. Aus heutiger Sicht mag man sie für überholt und ideologisch halten. Sie selber bezeichnete sie als Anreiz und Einladung zur Methodendiskussion. Und das fand ich anregend.

Sie postulierte bewusste Parteilichkeit und Abschied von Wertfreiheit und Neutralität. Sie forderte die Reflektion der blinden Flecken und der subjektiven Wahrnehmungsverzerrungen im methodischen Vorgehen, um zu einer „wirklich objektiven Erkenntnis“ zu gelangen. Die vertikale Beziehung sollte die Verzerrung der Ergebnisse durch sozial erwünschte Antworten vermeiden, vor allem aber sollte dadurch Forschung ermöglicht werden, die den Beforschten letztendlich zugutekommt, anstatt als Ergebnis womöglich mehr statt weniger Benachteiligung herbeizuführen. Und schließlich postulierte sie eine Aktionsforschung, die sich dessen gewahr ist, dass Forschung immer schon Impulse in das beforschende System gibt durch die bloße Anwesenheit und die Beobachtungen und Fragen der Forschenden. „Um ein Ding kennenzulernen, muss man es verändern.“ Doch darüber hinaus solle die Forschung die Beforschten sehr bewusst befähigen. Der „Forschungsgegenstand“ sei nicht statisch, sondern könne dynamisch und widersprüchlich erfasst werden.

Maya Nadig wie darauf hin, dass sie durch ihre Anwesenheit in einem mexikanischen Dorf Teil des zu beforschenden Systems wurde und Irritationen auslöste, die ihr halfen, Einblicke in die dortige Kultur zu gewinnen. Neben der Beobachtung verstand sie Einfühlung und Identifikation als wichtige Mechanismen zum Verstehen. Sie wies auf ihren eigenen Kulturschock hin, den sie als wichtiges Mittel zur Erkenntnis betrachtete. Sie beschrieb dies als Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur. Schließlich orientierte ich mich an Steger und Berger/Luckmann (Klindworth, G. 1995: Ich hab so schön geweint. Telenovelas in Mexiko. Breitenbach: 35): „Mit der Integration der Äußerungen einer anderen Wirklichkeit in die eigene Sprache wird diese der eigenen Sinnwelt einverleibt und bleibt unerkannt.“ Ich wollte die Kommunikation als eine sehr ungleiche, aber gleichwohl sich gegenseitig bedingende betrachten und wollte untersuchen, wie diese Kommunikation stattfand. Ich hatte es bei meiner Forschung mit einem tief in den Alltag der Frauen verwobenen, unhinterfragtem Erleben zu tun – einer täglichen Kommunikation mit Fernsehgeschichten und ihren Figuren. Ich wollte die Binnenrationalität der Handelnden verstehen und nicht so tun, als könnte ich allein aus der Beobachtung bzw. aus standardisierten Verfahren gewonnene Informationen Beschreibungen von außen mit dem Anspruch einer objektiven Forschung vornehmen.

Bei meinem Aufenthalt in Mexiko realisierte ich verschiedene Vorhaben. Ich führte vor allem Gruppeninterviews mit Frauen durch, zum einen explizit zum Thema Telenovela, zum anderen über ihre Wirklichkeitskonstruktionen vor ihrem spezifischen kulturellen Kontext. Und ich ging sehr bewusst nicht in die Hauptstadt, um nicht dort in migrantischen Kreisen in meiner eigenen Blase zu landen, sondern ich ging in die Provinz, um an dem alltäglichen Umgang mit den Menschen und der unausweichlichen Berührung mit der mexikanischen Alltagskultur Erkenntnisse zu gewinnen. Letztere waren viele Erkenntnisse über mich: Was ich als Deutsche gewohnt bin, was ich brauche, wie ich Äußerungen aus einer anderen Kultur lese und wo ich mit meinen eingeübten Verhaltensweisen und Erwartungen scheitere. „Die ForscherInnen müssen sich so weit auf die Lebenswirklichkeit der fremden Kultur einlassen, daß sie das Risiko eingehen, daß ihr eigner lebensweltlicher Horizont nicht mehr zur Deutung und Abpolsterung ausreicht, sondern zusammenbricht.“ (Klindworth: 35) Und durch die von Maya Nadig beschriebene Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur versuchten meine Gesprächspartnerinnen und ich gemeinsam, Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer kulturellen Hintergründe herauszuarbeiten. Die doppelte Kontingenz von Kommunikation wird reflektierbar gemacht.

Ein verblüffendes Ergebnis meines Forschungsaufenthaltes war dann für mich, wie ich im Grunde genommen durch meine bloße Anwesenheit Impulse auslöste, die einige Leben veränderten. Im einen Fall hatte ich eine mehrtägige Veranstaltung mit einer sehr gemischten Gruppe von Menschen über Telenovelas, in der ich eigentlich sie befragen wollte, doch die Teilnehmenden sagten, sie hätten kaum oder gar keine Erfahrungen mit Telenovelas und wollten mehr darüber erfahren. Also überlegten wir, dass wir eine „klitzekleine Feldforschung“ unternehmen und losgehen könnten, um jeweils selber Zuschauerinnen zu befragen. Nach ein paar Tagen kam eine Teilnehmerin – eine Frau mittleren Alters, die „Hausfrau“ war –euphorisch zurück und berichtete mit leuchtenden Augen, wie sie über die Fragen zu Telenovelas mit völlig fremden Menschen ins Gespräch gekommen war und diese ihr ihr Herz ausgeschüttet hatten.

Eine andere Frau erzählte mir Jahre später, dass ich bzw. die Art, wie ich dort lebte und die Gespräche, die wir miteinander über unterschiedliche Herangehensweisen an Beziehungen führten, ihr den maßgeblichen Impuls gegeben habe, sich aus ihrer unglücklichen Ehe zu lösen.

Was das mit Systemik zu tun hat? In den siebziger und achtziger Jahren wuchs eine Skepsis an der Vorstellung, dass die Forschung Phänomene angemessen beschreiben könne. Maria Mies hat sowohl die methodologischen Probleme thematisiert als auch die Frage, für welche Zwecke eigentlich geforscht wird. Auch wenn nicht von der Kybernetik 2. Ordnung die Rede war, wurden die Beobachterin und ihr Anspruch kritisch beobachtet und hinterfragt. Ich hatte damals die Hoffnung und die Erwartung, dass die Forschenden diese Auffassung zunehmend in ihre Arbeit integrieren würden. Umso erstaunter war ich Jahre später, dass selbst in den von Systemiker_innen vorgenommenen Forschungen die qualitativen Projekte zwar einen Platz bekamen, aber die quantitativen Vorgehensweisen den größten Raum einnahmen und wenig vor dem Hintergrund eines systemischen Blicks auf die Konstruktion von Wirklichkeit diskutiert und hinterfragt wurde und wird. Liegt es „nur“ daran, dass man in der Wissenschaftswelt akzeptiert und ernst genommen werden möchte? Ich habe nicht herausgefunden, wie der systemische Ansatz mit solch einem Forschungsverständnis nachvollziehbar zusammengebracht werden kann.