In den systemischen Aus- und Weiterbildungen nehme ich ein großes Interesse wahr, beraterisch-therapeutisch Genderspezifika in den Blick bekommen zu wollen. Solch ein Interesse gab es auch schon in den achtziger Jahren. Es entstanden erste Bemühungen, die Familientherapie gendersensibel zu lesen und zu erweitern. Systemikerinnen benannten wichtige Foki für die systemische Arbeit. Im deutschsprachigen Raum erschien 1992 das von Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen herausgegebene Buch „Balanceakte“ (Carl-Auer-Verlag, Online-Ausgabe 2009), in dem damals bedeutsame Aspekte zusammengetragen wurden. Ich stelle hier einige Gedanken aus einem Beitrag von Andrea Ebbecke-Nohlen daraus vor, der meines Erachtens auch heute noch viele Anregungen für gendersensible systemische Beratung und Therapie enthält.
Systemisch schauen wir auf Muster, die sich in Kommunikationen entwickeln und darauf, wie sie von ihrem spezifischen Kontext beeinflusst werden. Dazu gehört auch, Unterschiedskonstruktionen in geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bearbeitbar zu machen. Ausgehend von der These, dass man sich nicht nicht geschlechtsbezogen verhalten kann, könnte man fragen, welches Selbstbild daraus resultiert, ob man sich weiblich, männlich oder non-binär definiert (z.B. Weinen). Daran schließt sich die Frage an, welche Rollen man für wen ausmacht, mag und möchte, und welche Vor- und Nachteile man darin sieht.
Man könnte fragen, welche geschlechtsspezifischen und –neutralen Regeln es in einem System gibt und wofür das (nicht) hilfreich ist. Und: Wer ist wofür zuständig oder entscheidet worüber? Wer bringt den Müll raus, wer entscheidet über welche gemeinsamen Ausgaben …? Wer lebt welche Werte mehr, welche weniger, wer ist z.B. aggressiv, wer zurückhaltend, und wer empfindet und reagiert auf einen „Verstoß“ gegen diese Werte wie? Wenn beispielsweise die Mutter in einer Beziehungskonstellation als anstrengend oder nervig erscheint, weil es scheint, dass sie immer alles bestimmen will: Wozu tut sie das? Wem nützt das wofür?
Eine weitere Frage ist natürlich, wie einE Therapeut_in sich unterschiedlich gegenüber Klient_innen verhält, die sie als weiblich oder männlich identifiziert, und ob und wie die Klient_innen unterschiedlich auf die Berater_in und das Beratungsangebot reagieren. Wenn z.B. eine Person in der Therapie abblockt – was könnte das mit ihrer geschlechtsspezifischen Identifizierung zu tun haben, was will diese Person womöglich schützen und was bewirkt das wiederum bei der anderen Person für ein Verhalten?
Dann wäre da noch der Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede und Ähnlichkeiten von Familienaufträgen und Loyalitäten zu nennen: Wer setzt wie Grenzen und welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gibt es bei Familienaufträgen und Loyalitäten? Wer ist (mehr) für Bindung, wer (mehr) für Individuation zuständig? Wie wird das ausbalanciert?
Die letztgenannten Fragen sind eingebettet in eine weite feministische Diskussion in den achtziger Jahren darüber, wie die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Prägung für Bindung und Individuation die Kommunikation zwischen Männern und Frauen beeinflusst und typische Konflikte befeuert hat.
Luise Eichenbaum und Susie Orbach stellten in ihrem Buch Was wollen die Frauen? Ein psychotherapeutischer Führer durch das Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten in Liebesdingen (Econ 1993) die These auf, dass Männer unabhängiger und selbstsicherer wirkten als Frauen, weil ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung immer schon befriedigt würden, angefangen mit der Mutter als der Haupt-Bezugsperson, bis hin zur Lebenspartnerin, die diese Rolle dann übernehme. Frauen dagegen bekämen diese Bindungssicherheit nicht in dem Maße, da dies als „Frauenarbeit“ gelte und der Mann sich eher dafür zuständig sehe, unabhängig und durchsetzungsfähig in der Außenwelt zu sein. „Gefühlsarbeiter“ zu sein, widerspräche dem gesellschaftlichen Bild von einem „echten Mann“, und daher könne er diese Rolle nicht übernehmen. In den achtziger und neunziger Jahren gab es denn auch das Klischee vom „Softie“, den Frauen ja einerseits wollten, aber andererseits auch unattraktiv fanden. Gerade weil Frauen fortwährend nach dieser Sicherheit suchten, die sie von den Männern nicht bekämen, vermittelten sie Gefühle von Abhängigkeit und Bedürftigkeit, so Eichenbaum und Orbach. Die Zirkularität, die aus dieser Grundprämisse entstehe, sei folgende: Die Frauen äußern Unzufriedenheit, weil ihnen „etwas“ fehlt, die Männer fühlen sich grundlos kritisiert, eingeengt und gegängelt, weswegen sie sich zurückziehen und dann noch weniger für die Frau da sind. Sie klammert / kontrolliert / kritisiert noch mehr, er zieht sich noch mehr zurück …
Dieser Mechanismus werde laut Eichenbaum und Orbach besonders dann deutlich, wenn die Frau sich aus der Beziehung löse, ihre eigene Stärke entdecke und sich selbständig fühle. Solange sie den Mann brauche, gebe sie ihm Sicherheit, denn er könne meinen, jederzeit zu ihr zurückkommen zu können. Verstehe er, dass das nicht mehr möglich sei, werde ihm seine Abhängigkeit bewusst. Dann werde sie womöglich sogar wieder attraktiv für ihn. Die vielen Femizide könnten aber auch dafür sprechen, dass diese Selbständigkeit von Männern als so bedrohlich wahrgenommen wird, dass sie die unabhängig erscheinenden Frauen zerstören.
Für Paare kann die beschriebene Dynamik in ein Dilemma führen: Der Mann soll fürsorglich und verständnisvoll, aber kein „Weichei“ sein. Die Frau soll Heilige und Hure zugleich sein: unerreichbar, aber jederzeit zur Verfügung stehen. Sie gibt ihre eigenen Grenzen auf und steht emotional zur Verfügung, soll aber gleichzeitig „für sich stehen“. Sie soll (will?) omnipotent und zuverlässig sein.
Diese Muster wurden auf die hier dargestellte Art und Weise beschrieben, um sie sichtbar, besprechbar und veränderbar zu machen. Eichenbaum und Orbach hofften, dass Frauen und Männer die Fähigkeit zu Bindung und Individuation gemeinsam entwickeln würden.
Andrea Ebbecke-Nohlen machte die Diskussion über Bindung und Individuation insofern für die systemische Arbeit nutzbringend, als sie sie zu einem Fokus machte: Wie lässt sich Bindung und Distanz so leben, dass es in der jeweiligen geschlechtsspezifischen Prägung bekömmlich ist? Wann werden Grenzziehungen von wem als zu stark oder zu schwach erlebt und was muss passieren, damit alle Teilnehmenden einer Kommunikation sowohl Bindungserfahrungen machen als auch Eigenständigkeit erleben können?
Diesen Fokus halte ich auch heute noch für wichtig. Gerade wenn Beziehungen offen und vielfältig gestaltet werden sollen, ist es hilfreich, auf solche Dynamiken zu achten.