Gendersensibel systemisch arbeiten in Beratung und Therapie

In den systemischen Aus- und Weiterbildungen nehme ich ein großes Interesse wahr, beraterisch-therapeutisch Genderspezifika in den Blick bekommen zu wollen. Solch ein Interesse gab es auch schon in den achtziger Jahren. Es entstanden erste Bemühungen, die Familientherapie gendersensibel zu lesen und zu erweitern. Systemikerinnen benannten wichtige Foki für die systemische Arbeit. Im deutschsprachigen Raum erschien 1992 das von Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen herausgegebene Buch „Balanceakte“ (Carl-Auer-Verlag, Online-Ausgabe 2009), in dem damals bedeutsame Aspekte zusammengetragen wurden. Ich stelle hier einige Gedanken aus einem Beitrag von Andrea Ebbecke-Nohlen daraus vor, der meines Erachtens auch heute noch viele Anregungen für gendersensible systemische Beratung und Therapie enthält.

Systemisch schauen wir auf Muster, die sich in Kommunikationen entwickeln und darauf, wie sie von ihrem spezifischen Kontext beeinflusst werden. Dazu gehört auch, Unterschiedskonstruktionen in geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bearbeitbar zu machen. Ausgehend von der These, dass man sich nicht nicht geschlechtsbezogen verhalten kann, könnte man fragen, welches Selbstbild daraus resultiert, ob man sich weiblich, männlich oder non-binär definiert (z.B. Weinen). Daran schließt sich die Frage an, welche Rollen man für wen ausmacht, mag und möchte, und welche Vor- und Nachteile man darin sieht.

Man könnte fragen, welche geschlechtsspezifischen und –neutralen Regeln es in einem System gibt und wofür das (nicht) hilfreich ist. Und: Wer ist wofür zuständig oder entscheidet worüber? Wer bringt den Müll raus, wer entscheidet über welche gemeinsamen Ausgaben …? Wer lebt welche Werte mehr, welche weniger, wer ist z.B. aggressiv, wer zurückhaltend, und wer empfindet und reagiert auf einen „Verstoß“ gegen diese Werte wie? Wenn beispielsweise die Mutter in einer Beziehungskonstellation als anstrengend oder nervig erscheint, weil es scheint, dass sie immer alles bestimmen will: Wozu tut sie das? Wem nützt das wofür?

Eine weitere Frage ist natürlich, wie einE Therapeut_in sich unterschiedlich gegenüber Klient_innen verhält, die sie als weiblich oder männlich identifiziert, und ob und wie die Klient_innen unterschiedlich auf die Berater_in und das Beratungsangebot reagieren. Wenn z.B. eine Person in der Therapie abblockt – was könnte das mit ihrer geschlechtsspezifischen Identifizierung zu tun haben, was will diese Person womöglich schützen und was bewirkt das wiederum bei der anderen Person für ein Verhalten?

Dann wäre da noch der Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede und Ähnlichkeiten von Familienaufträgen und Loyalitäten zu nennen: Wer setzt wie Grenzen und welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gibt es bei Familienaufträgen und Loyalitäten? Wer ist (mehr) für Bindung, wer (mehr) für Individuation zuständig? Wie wird das ausbalanciert?

Die letztgenannten Fragen sind eingebettet in eine weite feministische Diskussion in den achtziger Jahren darüber, wie die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Prägung für Bindung und Individuation die Kommunikation zwischen Männern und Frauen beeinflusst und typische Konflikte befeuert hat.

Luise Eichenbaum und Susie Orbach stellten in ihrem Buch Was wollen die Frauen? Ein psychotherapeutischer Führer durch das Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten in Liebesdingen (Econ 1993) die These auf, dass Männer unabhängiger und selbstsicherer wirkten als Frauen, weil ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung immer schon befriedigt würden, angefangen mit der Mutter als der Haupt-Bezugsperson, bis hin zur Lebenspartnerin, die diese Rolle dann übernehme. Frauen dagegen bekämen diese Bindungssicherheit nicht in dem Maße, da dies als „Frauenarbeit“ gelte und der Mann sich eher dafür zuständig sehe, unabhängig und durchsetzungsfähig in der Außenwelt zu sein. „Gefühlsarbeiter“ zu sein, widerspräche dem gesellschaftlichen Bild von einem „echten Mann“, und daher könne er diese Rolle nicht übernehmen. In den achtziger und neunziger Jahren gab es denn auch das Klischee vom „Softie“, den Frauen ja einerseits wollten, aber andererseits auch unattraktiv fanden. Gerade weil Frauen fortwährend nach dieser Sicherheit suchten, die sie von den Männern nicht bekämen, vermittelten sie Gefühle von Abhängigkeit und Bedürftigkeit, so Eichenbaum und Orbach. Die Zirkularität, die aus dieser Grundprämisse entstehe, sei folgende: Die Frauen äußern Unzufriedenheit, weil ihnen „etwas“ fehlt, die Männer fühlen sich grundlos kritisiert, eingeengt und gegängelt, weswegen sie sich zurückziehen und dann noch weniger für die Frau da sind. Sie klammert / kontrolliert / kritisiert noch mehr, er zieht sich noch mehr zurück …

Dieser Mechanismus werde laut Eichenbaum und Orbach besonders dann deutlich, wenn die Frau sich aus der Beziehung löse, ihre eigene Stärke entdecke und sich selbständig fühle. Solange sie den Mann brauche, gebe sie ihm Sicherheit, denn er könne meinen, jederzeit zu ihr zurückkommen zu können. Verstehe er, dass das nicht mehr möglich sei, werde ihm seine Abhängigkeit bewusst. Dann werde sie womöglich sogar wieder attraktiv für ihn. Die vielen Femizide könnten aber auch dafür sprechen, dass diese Selbständigkeit von Männern als so bedrohlich wahrgenommen wird, dass sie die unabhängig erscheinenden Frauen zerstören.

Für Paare kann die beschriebene Dynamik in ein Dilemma führen: Der Mann soll fürsorglich und verständnisvoll, aber kein „Weichei“ sein. Die Frau soll Heilige und Hure zugleich sein: unerreichbar, aber jederzeit zur Verfügung stehen. Sie gibt ihre eigenen Grenzen auf und steht emotional zur Verfügung, soll aber gleichzeitig „für sich stehen“. Sie soll (will?) omnipotent und zuverlässig sein.

Diese Muster wurden auf die hier dargestellte Art und Weise beschrieben, um sie sichtbar, besprechbar und veränderbar zu machen. Eichenbaum und Orbach hofften, dass Frauen und Männer die Fähigkeit zu Bindung und Individuation gemeinsam entwickeln würden.

Andrea Ebbecke-Nohlen machte die Diskussion über Bindung und Individuation insofern für die systemische Arbeit nutzbringend, als sie sie zu einem Fokus machte: Wie lässt sich Bindung und Distanz so leben, dass es in der jeweiligen geschlechtsspezifischen Prägung bekömmlich ist? Wann werden Grenzziehungen von wem als zu stark oder zu schwach erlebt und was muss passieren, damit alle Teilnehmenden einer Kommunikation sowohl Bindungserfahrungen machen als auch Eigenständigkeit erleben können?

Diesen Fokus halte ich auch heute noch für wichtig. Gerade wenn Beziehungen offen und vielfältig gestaltet werden sollen, ist es hilfreich, auf solche Dynamiken zu achten.

Wo stehen wir eigentlich mit der Gleichheit in der Kommunikation zwischen den Geschlechtern?

Auf diesem Blog geht es darum, weibliche Perspektiven auf den systemischen Ansatz zu zeigen, und auch darum, zu zeigen, welchen Einfluss die Frauen auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes hatten. Dieser Prozess hat vor Jahrzehnten begonnen, und wir könnten uns fragen, wie weit wir eigentlich gekommen sind, gerade aus therapeutisch-beraterischer Sicht. Als eine, die in den achtziger Jahren begonnen hat, sich mit feministischen Perspektiven zu beschäftigen, interessiert es mich, wie jüngere Frauen das heute sehen. Inwiefern sind die Herangehensweisen von Frauen damals für sie relevant, was ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, welche Themen bleiben aktuell und herausfordernd, und welche werden heute ganz anders gesehen? Und welche weiblichen Perspektiven sind heute im Alltag des systemischen Arbeitens gang und gäbe? Welche gilt es, neu zu diskutieren, für welche sollten wir uns neu sensibilisieren?

Zunächst zur Frage, wie sich die Beziehungen und die Kommunikation zwischen den Geschlechtern bis heute entwickelt haben. Überwunden scheint die alleinige Zuständigkeit und Rolle der Frauen als „nur Hausfrau und Mutter“ und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom alleinverdienenden Ehemann. Doch wie weit ist es damit gediehen, die Fürsorge- und Erziehungs- sowie Hausarbeit mit anderen zu teilen? Und was heißt es, dass die Rollen sich angeglichen haben? „Irgendwie“ scheinen wir zu wissen, dass es noch einiges zu klären gibt in Bezug auf geschlechtsstereotype Verhaltensmuster, auch wenn sie nicht mehr so eindeutig auf männlich oder weiblich definierte oder gelesene Menschen zutreffen.

Da zeigt sich im Zusammenleben, dass die eher männlich sozialisierten Menschen sich stärker dafür verantwortlich fühlen, das finanzielle Wohlergehen zu sichern, und dass sie (wie ist es nur dazu gekommen?) die lukrativeren Jobs haben und deshalb keine Elternpause einlegen, zumal es im Berufsleben immer noch nicht selbstverständlich ist, dass Männer genau wie Frauen eine Familienpause machen. Und die eher weiblich sozialisierten Menschen haben mehr im Blick, was getan werden muss, damit der Haushalt reibungslos läuft und die Kinder zu den jahreszeitlichen Anlässen oder zum Geburtstag die richtigen Dinge mitnehmen.

Womöglich sind auch in den Auseinandersetzungen des Zusammenlebens verdächtig „typische“ Verhaltensmuster oder Missverständnisse zu sehen, z.B.: „Sie“ fühlt sich nicht gesehen, „er“ hat das Gefühl, dass er ständig kritisiert wird. „Er“ mauert, „sie“ nervt. Und im Beratungskontext: „Sie“ ist den Beratenden unsympathisch, weil sie sich einmischt, fordert, den Profis sagen will, wie sie ihre Arbeit machen sollen, während „er“ sich eher im Hintergrund hält – was erst einmal ganz angenehm ist. Und dann fragt man sich, was „sein“ Anteil an der Beziehungsdynamik eigentlich ist.

Zahlen zeigen, dass Frauen immer noch viel öfter Therapie aufsuchen oder über die Therapien als „depressiv“ definiert werden, während Männer vielfach versuchen, ihren Depressionen zu entkommen durch übersteigerten Aktionismus und Suchtverhalten (s. z.B. https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/depressionen-maenner-100.html).

In öffentlichen Auseinandersetzungen hat sich viel verändert, doch es finden sich auch viele alte Muster wieder bzw. weiterhin: Frauen fühlen sich von Dingen, die Männer sagen und tun, diskriminiert und kritisieren heftig. Männer reagieren darauf mit dem Vorwurf, es „fehle Sachlichkeit“ und die Kritik werde zu emotional vorgetragen, so dass sie sich dann nicht mehr mit den Inhalten der Kritik auseinandersetzen wollen. Zuerst sollen die Frauen von ihrer Art, zu kritisieren, Abstand nehmen und sich auf die von den Männern definierten Regeln der Auseinandersetzung einlassen (s. auch ausführlich: https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/anstrengend-sein/).

Sich an die Spielregeln anpassen – das taten Frauen auch, als sie in den achtziger und neunziger Jahren ihr Verhältnis zur Macht thematisierten und versuchten, sich Macht anzueignen, um Unabhängigkeit zu erreichen. Mittlerweile versuchen Frauen häufig, flexibel mit „Kampfangeboten“ umzugehen: sich da auf die von Männern definierten Spielregeln einlassen, wo es sein muss, um sich durchzusetzen, dann aber andere Kulturen des Umgangs etablieren. Im beruflichen Bereich haben sich Machtverhältnisse verschoben, und für effektives Arbeiten wird eher nach anderen Formen der Zusammenarbeit gesucht, wie die Trends zu „New Work“ (z.B. Agilität) zeigen. Dafür sind weiblich sozialisierte Menschen oft viel besser aufgestellt, wenn sie auf den Einsatz von Macht verzichten. Hier tun sich gerade interessante Entwicklungen im Miteinander auf: Wo bleibt die Macht, wer setzt sie wie ein und welche alternativen Verhaltensweisen haben welche Auswirkungen?

Nach meinem Dafürhalten wäre es an der Zeit, eine Diskussion darüber zu führen, welche Verhaltensweisen unser Miteinander nach wie vor auf eine Weise bestimmen, dass eine genderspezifische Zirkularität entsteht? Wir könnten Kommunikation daraufhin untersuchen: Wer nervt hier wen aufgrund welchen Verhaltens, und was hat das mit unserer geschlechtsspezifischen Sozialisation zu tun? Wer ist (kommunikativ) wofür zuständig? Wofür ist genderspezifisches Verhalten eine Lösung? Mal angenommen, wir würden unsere Gefühle und Verhaltensweisen tauschen, wer wäre worüber überrascht / erfreut / beängstigt / empört? Wir können ja nicht einfach entscheiden, uns nicht geschlechtsspezifisch oder andersgeschlechtlich zu verhalten. Dafür müssen wir erst einmal genau anschauen, wo und wie wir das tun, und welcher Kontext zu welchem geschlechtsspezifischen Verhalten einlädt. Im nächsten Beitrag werde ich darauf detailliert eingehen.

Aus systemischer Sicht eine Antwort zum Gastbeitrag von Lisa-Maria Walther: Schuld und Scham

Als ich Lisas Gastbeitrag zum ersten Mal las, wurde mir unmittelbar bewusst, wie tief ihre Worte mich berührt haben. Nicht nur als Mensch, sondern auch in meiner Rolle als Therapeutin. Der Artikel ist kraftvoll und unbequem – und genau deshalb so wertvoll. Er erinnert mich daran, dass ich als Therapeutin oft nur ein begrenztes Verständnis von der Lebensrealität meiner Klient*innen habe. Erfahrungsberichte wie Lisas sind eine wichtige Quelle für mein eigenes Lernen und Handeln.

Was nehme ich als Therapeutin aus diesem Beitrag mit?

1. Sensibilisierung und Raum für Wut
Lisas Artikel zeigt, wie wichtig es ist, marginalisierten Gruppen Raum für starke Emotionen wie Wut zu geben. In meiner Arbeit schaffe ich geschützte Räume, in denen solche Gefühle Platz haben dürfen, gerade in einer Gesellschaft, die Frauen* oft das Recht auf Wut abspricht.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, was systemisch mit Wut erreicht werden kann. Wut, die destruktiv genutzt wird, wie es in bestimmten Bewegungen geschieht, kann Ängste und Nöte verstärken. In meiner Praxis geht es daher nicht nur darum, Wut zuzulassen, sondern zu überlegen, wie sie zu einer Kraft werden kann, die Selbstbewusstsein und Veränderung ermöglicht.

2. Die Rolle der Betroffenenperspektive

Lisa erinnert uns daran, dass diejenigen, die von gesellschaftlicher Marginalisierung betroffen sind, oft ein Wissen haben, das uns als Therapeut*innen fehlt. Diese Erfahrungsberichte sind nicht nur wertvoll, sie sind unverzichtbar. Sie ermahnen mich, immer wieder den Blick zu weiten, zu fragen und zuzuhören.

Im systemischen Verständnis geht es jedoch nicht darum, die Erlebnisse unserer Klient*innen zu interpretieren. Vielmehr liegt unser Fokus darauf, ihre Lösungsversuche zu würdigen, selbst wenn sie mit Leiden verbunden sind. Denn die Lebensrealitäten unserer Klient*innen können wir nie vollständig erfassen – jede*r von uns schafft aus ähnlichen Erfahrungen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen. Die Klient*innen bleiben die Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt, und es ist unsere Aufgabe, diese Realität ernst zu nehmen und zu unterstützen, ohne sie zu hinterfragen.

3. Betroffenheit als Therapeutin zulassen

In meinem therapeutischen Prozess ermutige ich Klient*innen, ihre Betroffenheit zu zeigen – sei es durch Wut, Trauer oder Schmerz. Dabei ist es wichtig, auch mir als Therapeutin zu erlauben, betroffen zu sein. Lisas Geschichte hat mich nicht nur berührt, sie hat mich auch wütend gemacht. Diese Emotionen zuzulassen, hilft mir, authentisch zu bleiben und mich in die emotionale Welt meiner Klient*innen einzufühlen.

Gleichzeitig ist es meine Aufgabe, aus dieser Betroffenheit wieder herauszutreten, um hilfreich sein zu können. Es geht nicht darum, die Wut der Klient*innen zu bestätigen, sondern sie zu begleiten und zu reflektieren, wie diese Emotion sie beeinflusst und welche neuen Möglichkeiten daraus entstehen können. Diese Nähe zu den Gefühlen der Klient*innen schafft Raum für Veränderung – sie bietet die Chance, Emotionen zu verstehen und gemeinsam Wege zu finden, sie konstruktiv zu nutzen.

4. Über den Therapieprozess hinaus*

Lisas Beitrag hat mich zudem daran erinnert, dass mein Engagement nicht an den Türen meines Praxisraumes enden darf. Es geht nicht nur darum, während der Arbeit aufmerksam zu sein, sondern auch in meinem Alltag wachsam zu bleiben für Diskriminierung, Anfeindungen und Ungerechtigkeiten. Es ist meine Verantwortung, nicht wegzusehen, sondern aktiv Position zu beziehen – sowohl für meine Klient*innen als auch für Menschen, die nicht gehört werden.

5. Verantwortung und Selbstwert hinterfragen 

Lisas Beitrag wirft ein scharfes Licht auf die Schuldzuweisungen, die oft auf den Einzelnen abgewälzt werden, ohne die komplexen gesellschaftlichen Strukturen zu berücksichtigen, die zu diesen Situationen beitragen. In meiner Arbeit als Therapeutin ist es mir wichtig, die systemischen Einflüsse auf das Leben meiner Klient*innen anzuerkennen. Dabei geht es nicht nur um die Beachtung des Kontextes, sondern um die Frage, wie diese Einflüsse auf das Selbstwertgefühl wirken.

In einer systemischen Haltung spielt Schuld keine zentrale Rolle, da sie den Blick auf die Allparteilichkeit einschränken würde. Statt nach einem „Schuldigen“ zu suchen, geht es darum, aus der Opfer-Täter-Dynamik herauszutreten und den Klient*innen eine neue, befreiende Sichtweise zu eröffnen. Dadurch wird es möglich, sich von Schuldzuweisungen zu lösen und den Fokus auf die Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten zu richten, die zur Selbstwirksamkeit führen können.

6. Scham und die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Idealen
Lisa beschreibt eindrücklich, wie tief Scham durch äußere Erwartungen und Normen in die Selbstwahrnehmung eingebettet werden kann. Diese Verinnerlichung von gesellschaftlichen Idealen – insbesondere in Bezug auf Körperbild und Leistung – begegnet mir häufig in der therapeutischen Arbeit. Aus ihrem Beitrag nehme ich mit, dass es essenziell ist, diesen Mechanismus offenzulegen und zu hinterfragen. Es geht darum, Klient*innen zu helfen, diese internalisierten Erwartungen zu dekonstruieren und sich selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen.

Dass wir uns mit Erwartungen und deren Verinnerlichung beschäftigen, ist eine grundlegende Praxis in der systemischen Arbeit. Es mag für Systemiker*innen selbstverständlich erscheinen, aber es ist wichtig, diesen Mechanismus immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, gerade weil er oft unbemerkt bleibt. Anhand von Lisas Beispiel zeigt sich, wie bedeutsam es ist, solche Verinnerlichungen im therapeutischen Prozess zu thematisieren und sichtbar zu machen.

7. Repräsentation und Inklusion

Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Lisa anspricht, ist die fehlende Repräsentation von diversen Körperbildern und Lebensrealitäten in unserer Gesellschaft. Dies lässt sich auch auf den therapeutischen Kontext übertragen: Als Therapeut*innen müssen wir dafür sensibilisiert sein, wie eingeschränkt und normativ unser Verständnis von „Normalität“ oft ist.

Auch wenn wir als Systemiker*innen nicht mit einem festen Konzept von „Normalität“ arbeiten, sind wir dennoch alle von gesellschaftlichen Bildern davon geprägt. Diese Vorstellungen werden uns immer wieder suggeriert, und sie prägen unbewusst unseren Umgang mit uns selbst und anderen. In meiner Arbeit bemühe ich mich, diese Bilder von „Normalität“ bewusst zu hinterfragen, aufzubrechen und alternative Sichtweisen zu fördern. Lisas Beitrag erinnert mich daran, wie wichtig es ist, Raum für vielfältige Identitäten und Körperbilder zu schaffen – nicht nur im therapeutischen Setting, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung.

8. Systemische Betrachtung von Gesundheit
Lisas Ausführungen über den Umgang mit Gewicht im medizinischen Kontext verdeutlichen, wie häufig Gesundheitsfragen auf eine einzige Variable reduziert werden, anstatt das gesamte System des Menschen zu betrachten. In der systemischen Therapie ist es entscheidend, Gesundheit nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. Es geht dabei um den Menschen als System, das von vielfältigen Einflüssen geprägt ist – und nicht nur um einzelne Aspekte wie Gewicht oder eine spezifische Diagnose.

„Sie haben kein Problem!“ – Die Missachtung der subjektiven Erfahrung: Eine Kritik an der Entwertung persönlicher Probleme

In meiner Praxis als systemische Therapeutin begegne ich immer wieder Klient*innen, die tief verunsichert sind, weil ihnen von Professionellen gesagt wurde: „Sie haben kein Problem.“ Diese Aussage ist nicht nur eine grobe Simplifizierung komplexer menschlicher Erfahrungen, sondern auch ein Akt der Entwertung, der ernsthafte Folgen für das Wohlbefinden der Betroffenen haben kann. Besonders Frauen, die häufig mit zusätzlichen gesellschaftlichen und sozialen Erwartungen konfrontiert sind, können durch eine solche Haltung besonders verletzt werden. 

Professionelle, die die Aussage „Sie haben kein Problem“ treffen, tun dies oft aus einer bestimmten Perspektive oder einem bestimmten Paradigma heraus. Manchmal kann dies aus einem klinischen, diagnostischen Ansatz resultieren, bei dem Probleme nur dann als real anerkannt werden, wenn sie in eine bestimmte Kategorie oder Diagnose passen. Diese Sichtweise ignoriert jedoch die subjektive Erfahrung der Klient*innen und reduziert komplexe emotionale Zustände auf einfache Schubladen. Ein weiteres Motiv könnte eine unzureichende Ausbildung oder gar Haltung in empathischer Kommunikation sein, wodurch Fachkräfte die emotionalen Nöte ihrer Klient*innen nicht angemessen würdigen.

Besonders für Frauen ist die Aussage „Sie haben kein Problem“ oft doppelt belastend. Frauen werden in unserer Gesellschaft häufig mit zusätzlichen Erwartungen und Verantwortungen konfrontiert. Sie tragen oft die Hauptlast der emotionalen und sozialen Arbeit in Familien und Gemeinschaften, was ihre eigenen Bedürfnisse und Probleme in den Hintergrund drängt. Viele Frauen übernehmen sowohl berufliche als auch private Rollen, die mit hohen Erwartungen verbunden sind, wie die Pflege von Familienmitgliedern, die Organisation des Haushalts und die emotionale Unterstützung von Partnern und Kindern. Diese Aufgaben sind oft unsichtbar und werden als selbstverständlich angesehen, wodurch der Eindruck entsteht, dass Frauen „natürlich“ mit diesen Herausforderungen umgehen können.

Wenn dann noch von einer professionellen Person ihre Probleme abgesprochen werden, verstärkt dies das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und keine Stimme zu haben. Frauen hören oft, dass ihre Sorgen und Probleme „normal“ oder „Teil des Lebens“ sind, was ihre eigenen Empfindungen entwertet und sie in ihrem Schmerz allein lässt. Diese Entwertung kann dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Bedürfnisse und Belastungen noch weniger ernst nehmen und sich schämen, Hilfe zu suchen. Das Gefühl, keine Stimme zu haben, kann tiefgreifende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die psychische Gesundheit haben. Frauen, die ständig hören, dass ihre Probleme unwichtig sind, könnten beginnen, ihre eigene Wahrnehmung und ihre Gefühle in Frage zu stellen, was zu einem Teufelskreis der Selbstzweifel und Isolation führt.

Aus einer weiblich systemischen Perspektive ist es besonders wichtig, diese Dynamiken zu erkennen und anzusprechen. Weibliche Systemikerinnen bringen oft eine besondere Sensibilität für die subtilen und oft unsichtbaren Belastungen mit, die Frauen tragen. Sie verstehen, wie gesellschaftliche Normen und Erwartungen das individuelle Erleben von Problemen beeinflussen können und sind daher besonders darauf bedacht, die subjektiven Erfahrungen ihrer Klientinnen zu validieren und zu unterstützen.

Die Aussage „Sie haben kein Problem“ ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Sie kann die Selbstwahrnehmung der Person untergraben und die Suche nach Hilfe erschweren. Als systemische Therapeut*innen ist es unsere Aufgabe, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem unsere Klientinnen ihre Gedanken und Gefühle frei ausdrücken können. 

Wir müssen die individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen unserer Klient*innen anerkennen und würdigen, um einen wahrhaft unterstützenden Rahmen zu bieten.

Alles in beste Ordnung bringen

2021 lief der Film „Alles in bester Ordnung“ von Natja Brunckhorst in den Kinos, nun ist er in der ARD-Mediathek (bis 1.8.24) zu sehen. Er handelt von Marlen und Fynn. Während Fynn versucht, mit möglichst wenig Dingen auszukommen, hat Marlen im Laufe der Jahre so viel angesammelt, dass es schwierig ist, sich in ihrer Wohnung zu bewegen.* Da Fynn wegen eines Wasserschadens gerade keine Bleibe hat, strandet er bei Marlen. Die versucht, das Chaos in ihrer Wohnung vor der Außenwelt geheim zu halten. Sie lebt deshalb ein recht isoliertes Leben, und so lässt sie auch Fynn nur sehr widerwillig in ihr kleines, chaotisches Reich. Und es kostet sie Überwindung, ihm gegenüber einzugestehen, dass sie mit dem Zustand in ihrer Wohnung ein Problem hat. Denn eigentlich liebt sie Dinge, und mit vielen davon verbindet sie auch wichtige Erinnerungen. Viele andere Dinge hält sie für zu schade zum Wegwerfen. – Was ja durchaus zum Gedanken der Nachhaltigkeit passt. Doch die Unordnung wächst ihr über den Kopf. Fynn fühlt sich berufen, Marlen zu helfen, sich von Dingen zu trennen. Grundsätzlich begrüßt Marlen das, bei der Umsetzung jedoch kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Verschiedene Herangehensweisen scheitern, bis Fynn sie irgendwann einlädt, mit ihr auf eine Leiter zu steigen und von oben auf ihre mit Dingen vollgestellte Wohnung zu schauen. Und von dort oben entdeckt Marlen ein Ordnungsprinzip, nach dem sie und Fynn die Dinge dann in der Wohnung anordnen. Von dieser Ordnung aus kann sie die Dinge nach und nach loslassen und sich auf Beziehungen zu anderen Menschen einlassen.

Was für ein schönes Bild für systemische Beratung und Therapie! Wenn wir Beratung als soziales System verstehen, können wir sagen, wir bieten verschiedene Sinndeutungsmöglichkeiten an und laden zur Beobachtungsperspektive 2. Ordnung ein. Der Film versinnbildlicht das, wenn Fynn Marlen einlädt, mit ihm auf die Leiter zu steigen und ihr Chaos von oben anzuschauen, um zu sehen, was sie nicht sieht, wenn sie sich mittendrin bewegt. Beratung und Therapie wirkt, systemtheoretisch gesprochen, dadurch, dass das psychische System der Klient_innen vor dem Horizont verschiedener Möglichkeiten auswählt, indem sich die Psyche der Klient_in entscheidet, was für die eigene Handlungsfähigkeit relevant ist. Das psychische System sucht sich eine neue Ordnungsform. Wiederum mit der Filmmetapher gesprochen: Es geht nicht darum, andere dazu zu bewegen, sich von etwas zu trennen, sondern es in eine neue Ordnung zu bringen. Im Film geht das Loslassen dann auf einmal ganz leicht.

Ein anderer Aspekt des Films weist auf die weibliche Brille der Filmemacherin hin. Natja Brunckhorst geht sehr liebevoll mit der Motivation der Protagonistin für die Hortung der Dinge um. Für jede Bindung an einen Gegenstand gibt es mindestens einen guten Grund. Hier wird ein weiblicher Blick sichtbar, der nicht achtlos mit Dingen umgeht, sondern darauf trainiert ist, Gegenstände sehr bewusst wahrzunehmen. Die Sozialisation als Mütter und Hausfrauen ist zwar schon längst nicht mehr Teil des weiblichen Selbstverständnisses, und Männer können als Väter und Hausmänner diesen Blick ebenfalls anwenden. Der weibliche Blick wird jedoch weiter in dieser Tradition geprägt, wenn auch nicht mehr explizit. Anfang der achtziger Jahre beschrieb Thomas Ziehe diesen so trainierten weiblichen Blick mit dem Satz: „Die Liebesarbeit der Mutter muß durchs Nadelöhr der Hausarbeit, die Arbeit am Subjekt drückt sich aus in dem Dienst an den Dingen.“*

Aus systemischer Sicht lässt sich das dergestalt reframen, dass ein weiblicher Blick auf die Dinge (den Männer und Menschen anderer Geschlechtsdefinitionen natürlich auch haben und nutzen können) mit einem ästhetischen Anspruch und der Beibehaltung einer gewissen Ordnung auf bereichernde Weise eingesetzt werden kann.

*Thomas Ziehe: Zugriffsweisen mütterlicher Macht. in: Gehrke, C., Treusch-Dieter, G. u.a. (Hg.) 1984: Frauen Macht. Konkursbuchverlag. S. 45-53

Sich erreichen, berühren, verändern

Am 30.10.1993 wurde die Systemische Gesellschaft (SG) gegründet, und im Juni diesen Jahres feierte die SG ihren 30. Geburtstag mit einer Jubiläumstagung. Diese wurde zu Ehren Kristina Hahns veranstaltet. Kristina war langjähriges SG-Mitglied und mehrere Jahre im Vorstand der SG engagiert. Das Gebaren der Männer im Verband beobachtete und kommentierte sie aus feministischer Perspektive und brachte selber eigene Akzente im Verband ein. Im Frühjahr 2020 starb Kristina Hahn viel zu früh. Sie ermöglichte der SG die Finanzierung verschiedener Projekte, u.a. den Kristina-Hahn-Preis*, der in diesem Jahr an vier Gruppen ging, die sich mit spannenden Aktionen zur Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter engagieren. Und Kristina Hahn wünschte sich eine inspirierende Tagung.

Es begann mit einem Vortrag von Hartmut Rosa zum Tagungsthema „Resonanzen“. Rosa definiert Resonanz als Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Objekt gegenseitig erreichen, berühren und verändern. Er bezeichnet Resonanz als Urform der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Das Subjekt wird berührt (affiziert) und antwortet (à E-motion). Resonanz ist nicht kontrollierbar. Das steht im Widerspruch zur Moderne, die auf Verfügbarmachung und Kontrolle als Grundmodus basiert. Der wachsende Zwang zur Beschleunigung macht den Menschen Angst und produziert schuldige Subjekte, weil wir es nie schaffen, den Ansprüchen von außen gerecht zu werden.

Rosa stellt die Frage, ob Krankheit als Verlust der Resonanzfähigkeit angesehen werden kann. So ließen sich Essstörungen als Weltbeziehungsstörungen bezeichnen: Anorexie (Magersucht) als Versuch, Weltberührung zu vermeiden, Adipositas (Fettleibigkeit) als einseitige, sich steigernde Weltaneignung, Bulimie (Ess-Brechsucht) als Aneignung ohne Anverwandlung und Orthorexie (Angst, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden) als Angst vor Unverfügbarkeit, also als Angst, über etwas nicht verfügen zu können.

An dieser Stelle wäre eine geschlechtsspezifische Differenzierung interessant gewesen. Zwar steigt die Zahl männlich gelesener Personen mit Essstörungen, doch sind sie immer noch sehr viel häufiger bei (jungen bzw. sich entwickelnden) Frauen verbreitet.** Hier könnte man verschiedene Hypothesen diskutieren: Scheitern Heranwachsende, die sich in ihrer Identitätsfindung mit weiblichen Stereotypen auseinandersetzen, besonders häufig an der Erfüllung dieser vermuteten Erwartungen (z.B. „Schönheits“-Idealen)? Oder werden bei der Sozialisierung in Richtung männlicher Stereotype andere Modelle gelebt, die einen gestörten Weltbezug zum Ausdruck bringen, wie z.B. über Computerspiele oder Gewaltphantasien? …

Für Beratung und Therapie hält Rosa die Herstellung von Resonanz für wichtig und die Fähigkeit dazu bezeichnet er als therapeutische Kompetenz. Das passt zu dem, was Sarah Walther im letzten Beitrag dieses Blogs geschrieben hat (https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/die-kraft-von-duempelsitzungen/), und zu den Forschungsergebnissen, die deutlich machen, dass die Herstellung einer guten Beziehung schulenübergreifend einen wichtigen Faktor für das Gelingen von Therapie darstellt. Laut Rosa kann in Beratung und Therapie gegen die Verdinglichung von Beziehungen durch Digitalisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Automatisierung über Resonanzen wieder Weltbeziehung hergestellt werden.

Ein großartiger Prozess ergab sich auf der Tagung aus einem Workshop mit der Kunsttherapeutin Franziska Janker. Wir hielten uns ein Blatt Papier vors Gesicht und malten darauf die Umrisse: Augen, Nase, Mund und Außengrenzen des Gesichts. Dieses Blatt gaben wir unserer/m Partner_in, die/der die Umrisse mit dem füllten, was sie/er im Gesicht des Gegenübers sah. Die/der Besitzer_in des Gesichts erhielt das Blatt zurück und markierte auf einem darüber gelegten, transparenten Papier das, was ihr/ihm wichtig erschien. Aus dem anschließenden Gespräch darüber ergaben sich in meinem Duo spannende Erkenntnisse: Nicht das, was mir mein Gegenüber vermittelt, sondern das, was ich aus dem lese, wie mein Gegenüber mich beschreibt, erfahre ich Neues über mich und mein Verhalten. Und es wurde erfahrbar, wie ähnliche (Lebens-) Erfahrungen in Beziehungen als Resonanz spürbar werden und eine Nähe, Offenheit … schaffen, auch wenn dies nicht bewusst wahrnehmbar wird. Dies muss nicht immer eine positive Erfahrung sein. Wir erörterten das in unserem Duo am Beispiel Gewaltbeziehungen. Es entstehen zwar negative, aber solche Resonanzen, die womöglich als vertraut wahrgenommen werden. In Beratungsprozessen dieser Resonanz nachzugehen, könnte hilfreich sein. Man könnte fragen, auf welche Weise Gewalterfahrungen auf beiden Seiten so utilisiert werden können, dass eine Resonanz herbeigeführt wird, die von Gewaltanwendung wegführt.

Hauptredner auf der Tagung waren – wie fast immer – Männer. Aber das Abschlusspanel war wie schon auf der SG-Tagung 2019 ausschließlich mit Frauen besetzt: Yasmine M´Barek, Journalistin, Autorin und Podcasterin, Ulrike Borst, Systemische Psychotherapeutin & Supervisorin, Angelika Ivanov, Pressereferentin bei der GLS Bank, Emily M. Engelhardt, Systemische Beraterin und Supervisorin und Professorin für „Digitale Transformation in sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft“, Shary Cheyenne Reeves, Moderatorin, Schauspielerin, Autorin, sowie Cordula Stratmann, Systemische Familientherapeutin und Komikerin. Bevor die Podiumsdiskussion begann, hatten die Frauen sich schon getroffen, wurden von der Moderatorin und systeme-Redakteurin Tanja Kuhnert gut gebrieft und diskutierten miteinander. Sie kamen also „warmgemacht“ wie man beim Sport sagen würde, auf die Bühne, schon sehr gut in Resonanz miteinander, wie die Tagungsteilnehmenden das vermutlich beschreiben würden. So brachten sie jede Menge Energie auf das Podium. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Zeit musste Moderatorin Tanja Kuhnert sich auf wenige Fragen beschränken, um die sechs Frauen alle zu Wort kommen zu lassen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten die Frauen, welche Resonanzen sie in ihrer Welt besonders wahrnehmen. Es entstand ein sehr lebendiger Austausch über aktuelle gesellschaftliche Phänomene und darüber, welche Impulse wir geben können, um gute Resonanzen entstehen zu lassen. Wie es eben mit Resonanzen so ist, steckten sich die Frauen gegenseitig mit ihrer Leidenschaft und Lebendigkeit an. Shary Cheyenne Reeves brachte es so auf den Punkt: „Wir schieben so viel Energie vor uns her, lasst uns die doch gemeinsam nutzen“!

*https://systemische-gesellschaft.de/service/auszeichnung/kristina-hahn-preis-2023/

**Laut der Barmer Krankenkasse gibt es sehr unterschiedlich Zahlen dazu. Einer Schätzung zufolge kommen auf 61 Frauen 18 Männer. s. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/essstoerungen-1055178#Wie_hu00E4ufig_sind_Essstu00F6rungen-1055178

Die Kraft von ‚Dümpelsitzungen‘

Ich sehe mich noch heute, als wäre es gestern gewesen, in meiner Weiterbildung im Seminar „Paartherapie“ sitzen. Der Trainer stellte einen detaillierten Ablauf für aufeinander aufbauende Sitzungen vor – von der ersten bis zur zehnten – vollgepackt mit Methoden.

„Als Klientin wäre ich vollkommen erschlagen und mir wäre das zu viel“, dachte ich und äußerte dies auch gegenüber dem Trainer. „Ist es nicht auch wichtig, Gespräche zu führen, indem wir zuhören und Raum geben?“, fügte ich hinzu.

Seine Antwort lautete: „Das kann man machen, aber das sind dann Dümpelsitzungen.“

Diese Bemerkung irritierte und verunsicherte mich, denn genau so hatte ich bis dahin mit meinen Klient*innen gearbeitet.

Auch in meiner Arbeit mit Studierenden begegne ich oft dem Wunsch, möglichst viele Methoden zu erlernen, fast als ob die Anzahl der Techniken ein Maßstab für Kompetenz wäre. Doch die bloße Kenntnis vieler Methoden macht noch lange keine kompetente Beratungsperson aus. Viel wichtiger sind grundlegende Fähigkeiten wie aktives Zuhören und das Schaffen von Stille und Raum in Gesprächen. Diese Techniken erscheinen auf den ersten Blick simpel, erfordern jedoch Übung und Hingabe, um sie wirklich effektiv anzuwenden.

Es ist oft überraschend, wie wenig Beachtung diesen essentiellen Fähigkeiten geschenkt wird, obwohl sie den Kern einer erfolgreichen therapeutischen Arbeit ausmachen. Wirklich hinhören und präsent sein ist eine Kunst, die weit über das bloße Anwenden von Techniken hinausgeht.

Die Anzahl der Methoden und Techniken, die wir in unserem Repertoire haben, sagt noch lange nichts über unsere Kompetenz und vor allem nichts über unsere Empathie, unser Feingefühl und unsere Intuition aus. Es geht darum, Methoden und Interventionen gezielt einzusetzen, um das System in Bewegung zu bringen und neue Perspektiven aufzuzeigen – aber eben mit Bedacht und nicht unentwegt. 

Gerade die wichtigsten und wertvollsten Methoden sind das aufmerksame Zuhören, das Geben von Raum, das Zurücknehmen der eigenen Person sowie das Schaffen einer beruhigenden und sicheren Atmosphäre. Diese Qualitäten, die oft als „weiblich“ angesehen werden, spielen eine zentrale Rolle in meiner Arbeit. Sie schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens, die für die therapeutische Beziehung essentiell ist.

Heute kann ich sagen: „Dümpelsitzungen“ sind mein wichtigstes Werkzeug! Denn daraus entstehen vertrauensvolle und sichere Arbeitsbeziehungen. Und nicht, indem ich meine Klient*innen von einer Methode zur nächsten jage.

Gerade in einer Zeit, in der Effizienz und Produktivität hoch im Kurs stehen, ist es wichtig, auch die „weibliche Seite“ der Systemik zu betonen – die Seite, die für Achtsamkeit, Empathie und das Schaffen eines sicheren Raumes steht. Diese Elemente sind nicht nur Methoden, sondern Ausdruck einer Haltung, die in der therapeutischen Arbeit von unschätzbarem Wert ist.

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Weiblicher Blick in der Beratung

Worauf schaue ich zuerst, wenn ich als Beraterin eine Sitzung beginne? Sehen Männer dasselbe? Was schießt mir durch den Kopf? Will ich das gerade sehen oder hindert es mich womöglich, mich auf das zu konzentrieren, was ich mir vorgenommen habe? Und wie lasse ich das, was ich da wahrnehme, in die Beratung einfließen – oder auch nicht? Was davon kann sehr wichtig für den Beratungsprozess sein? Nehme ich meine Wahrnehmungen ernst genug, um das einfließen zu lassen?
Welche Erfahrungen habt ihr in Bezug auf die Einbeziehung eurer Beobachtungen und Wahrnehmungen in der Beratung gemacht?