Was hat die Systemische (Psycho-) Therapie zu bieten?

Ich bin nun schon das zweite Mal bei den Lindauer Psychotherapiewochen (eine traditionell psychodynamisch orientierte Tagung) gewesen und meine schon jetzt einen Unterschied zwischen diesem und letztem Jahr zu bemerken.

2023 war ich beim „Novizentreffen“ für Menschen, die das erste Mal in Lindau sind. Eine Kollegin meldete den vertretenen Veranstalter*innen zurück, dass unter den Hauptvorträgen auffallend wenig Frauen seien und stellte die Frage nach einer moderneren Besetzung. Es gab daraufhin bestätigende Rückmeldungen, aber auch die uns leider bekannten Argumentationslinien.

Positiv überrascht, konnte ich mich dieses Jahr in meinem gewählten Vortragsstrang auf eine diverse Zusammenstellung von Referent*innen freuen. Ein angenehmer Bonus war außerdem, die politische Komponente, die in vielen Vorträgen offen zur Sprache gebracht oder Teil des Themas war. Nichts mit therapeutischer Abstinenz, sondern es wurde zu einer Positionierung eingeladen bzw. sich deutlich positioniert.

Um eine Beispiele zu nennen:

Katharina van Bronswijk sprach zu psychologischen Implikationen des Klimawandels.

Amma Yeboah lud uns ein, uns mit Rassismus und Critical Whiteness in der Therapie auseinanderzusetzen.

Eran Rolnik wurde aus Tel Aviv zugeschaltet und sprach zur ganz unmittelbaren Einflussnahme des Krieges auf den therapeutischen Gestaltungsraum.

Heide Glaesmer referierte zu Unrechterfahrungen in der DDR am Beispiel der Heimerziehung.

Martin Schenk stellte am Beispiel des Bildes von „Brot und Rosen“ den möglichen Einfluss von Armutserfahrungen in der Kindheit auf die psychische Gesundheit aus.

Besonders berührten mich die Vorträge von Nasim Ghaffari und Hadiye Kücükkaragöz, die Unrechtserfahrungen im Iran und in der Türkei lebhaft und ganz konkret mit in den Tagungsraum brachten.

In den meisten dieser Vorträge wurde direkt oder subtil die Machtfrage gestellt und deutliche Unterschiede zwischen den Mächtigen und Ohnmächtigen gezeichnet. Immer wieder waren auch wir als Zuhörer*innen aufgefordert eigene Ressentiments und Positionierungen, die wir mit in die Therapie bringen, zu hinterfragen. Auffällig schien mir die teilweise konkret ausgesprochene Einladung der Referent*innen über den Tellerrand der intrapsychischen Dynamik hinauszuschauen und (gesellschaftliche) strukturelle Bedingungen als Akteur*innen in der Therapie Beachtung zu schenken.

Steckt da nicht eine systemische Grundhaltung drin?

Wir als systemisch Arbeitende wollen uns nicht nur mit den Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen unserer Klient*innen beschäftigen, sondern vor allem auch wie diese in Wechselwirkung mit allen möglichen Kontexten bzw. Umwelten stehen, in denen sich diese Person bewegt.

Als Neuling unter den sozialrechtlich anerkannten Psychotherapieverfahren könnte die systemische Therapie hier einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung und Praxis leisten sowie (auch aus einer Machtperspektive) mehr Raum im psychotherapeutischen Feld einnehmen.

Eine Voraussetzung dafür ist meiner Meinung nach die Aufgabe der Vorstellung von systemischer Therapie als politikfreien Raum. Im Austausch mit Fachkolleg*innen entsteht bisweilen der Eindruck, dass wir unsere systemische Arbeit außerhalb gesellschaftlicher Strukturen sowie deren Machtdynamiken verorten und diese unabhängig davon stattfindet. Das ist ein Trugschluss!

Wir sollten uns mit unserem eigenen Eingebundensein in Gesellschaft und Politik und das Eingebundensein unser Klient*innen auseinandersetzen. Neben der Erweiterung unseres Wirklichkeits- und Möglichkeitsraums in der therapeutischen Arbeit erscheint mir gerade die systemische Therapie dafür geeignet, die Machtfrage theoretisch fundiert in die Psychotherapie einzuführen.

In der systemische Fachliteratur werden dazu schon spannende Ideen diskutiert, siehe z.B.:

Martina Masurek: Die Idee der Gleichgültigkeit im systemischen Arbeiten (systeme, 2023)

Ilja Gold und Jessi Mmari: Macht- und Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe für die systemische Praxis (Familiendynamik, 2024)

Marlen Gnerlich und Anne Gemeinhardt: Soziale Unterschiede, die einen Unterschied machen Zur Bedeutung von Klassismus in systemischen Beratungskontexten (systeme, 2021)

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