Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21

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