Liebe Systemik, ich muss dir widersprechen!

Zunächst möchte ich betonen, dass ich als Systemikerin grundsätzlich von der Wirksamkeit und Effektivität des systemischen Ansatzes überzeugt bin. Ich bin leidenschaftliche Systemikerin durch und durch. Insbesondere die Fokussierung auf Ressourcen und Stärken der Klient*innen, anstatt ausschließlich auf Probleme und Defizite zu blicken, hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen.

Doch in letzter Zeit muss ich der Systemik widersprechen: Sie ist mir phasenweise zu lösungs- und ressourcenorientiert.

Es gibt Zeiten, in denen alles schwierig und unübersichtlich ist und in denen Lösungen nicht sofort ersichtlich sind. In solchen Momenten kann es für die Klient*innen und auch für mich als Therapeutin verlockend sein, schnell nach Lösungen zu suchen, um das Unbehagen zu lindern.

Doch kommen wir damit nicht auf ein gesamtgesellschaftliches Thema zu sprechen? Nämlich dem, uns selbst und anderen gegenüber einen enormen Druck auszuüben, stets effizient und produktiv zu sein. 

In unserer Gesellschaft wird Erfolg oft mit Produktivität und Effizienz gleichgesetzt. Es wird erwartet, dass wir jederzeit unsere Arbeit schnell und fehlerfrei erledigen, unsere Ziele konsequent verfolgen und im Leben vorankommen. Diese Mentalität führt dazu, dass wir unsere Emotionen unterdrücken oder ihnen nicht genügend Raum geben. Emotionen werden oft als störend und unproduktiv betrachtet und es wird angenommen, dass sie uns von unseren Zielen abbringen.

Dieses Denken ist jedoch problematisch, da Emotionen Teil unseres menschlichen Seins sind und uns dabei helfen, unsere Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen. Wenn wir unsere Emotionen ignorieren oder unterdrücken, können sie uns innerlich belasten und möglicherweise zu körperlichen oder psychischen Erkrankungen führen.

Zu schnell verfallen wir als professionelle Systemiker*innen in die Haltung, immer wieder zu reflektieren, neue Perspektiven aufzuzeigen oder Ressourcen hervorzuheben. Das mag in manchen Fällen eine hilfreiche Methode sein, um den Klient*innen neue Wege aufzuzeigen, kann jedoch auch zu einer Distanz der eigentlichen Themen und Problemen führen.

Zudem liegt der Fokus somit sehr auf der Handlungsebene und die zugrundeliegenden emotionalen Prozesse werden nicht ausreichend berücksichtigt. Klient*innen unterdrücken oder ignorieren Emotionen, um schnellstmöglich zu einer Lösung zu gelangen.

In unserem hektischen Alltag und unserer schnelllebigen Gesellschaft ist es oft schwer, Raum für Emotionen zu schaffen und diese zuzulassen. 

Gerade wir als professionelle Systemiker*innen sollten eine Raum schaffen, in dem Emotionen willkommen sind und nicht als störend oder unnütz betrachtet werden. 

Wir sollten Sorge dafür tragen, dass unsere Klient*innen die Chance haben, sich auch mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen und eine gesunde Haltung zu diesen zu entwickeln. 

Wie siehst du das? Hinterlass es uns gern in den Kommentaren – wir sind gespannt!

Wann werden sie verstehen?

Viele Frauen lauschen auf einem Kongress dem Vortrag eines Mannes, der Einfluss hat auf Veränderungsprozesse in Organisationen und der weiß, dass er gerade vor 180 Frauen spricht. Er meint, viele von den Zuhörerinnen hätten davon vielleicht noch nichts mitbekommen, aber es gebe da so Entwicklungen in der IT … Eine Zuhörerin macht deutlich, dass sie an ihrem Arbeitsplatz schon sehr viel weiter sind als bei dem Stand, den er gerade geschildert hat. Viele andere nicken.

Der Redner lobt gerade den Veränderungsprozess einer Organisation, als eine Frau sich zu Wort meldet, die von genau diesem Prozess eine Menge mitbekommen hat. Sie beklagt, dass die Belange von Frauen darin überhaupt keine Berücksichtigung fanden. „Ach ja“, sagt er, „so ist das, wenn man ein neues Auto baut. Da kommen dann Leute und wollen ein fünftes Rad und man muss dann sehen, wie man all die Räder noch in das neue Auto integriert.“ – Soso, Frauenbelange sind also das fünfte Rad am Wagen. Klarer lässt sich männliches Denken nicht zum Ausdruck bringen. Aber es geht noch weiter.

Er zeigt den Frauen das Bild eines heute gängigen Autos (keine Ahnung, was das für eins ist, ich habe überhaupt nicht darauf geachtet). Damit will er deutlich machen, dass wir uns mental noch in einem Zustand befinden, der sich für ihn am besten mit dem Fahren eines Autos mit dem heute üblichen technischen Standard vergleichen lässt. Man ist auf die herkömmlichen Armaturen eingestellt und geht davon aus, dass diese so bleiben werden. Und da müsse sich in den Köpfen noch einiges verändern. Meine Sitznachbarin und ich schauen uns vielsagend an. Wir können uns nicht vorstellen, dass die anderen 180 Frauen in diesem Raum sagen: „Ach, stimmt, ich muss mich wohl auf ein neues Auto-Cockpit einlassen. Ich werde mein heiß geliebtes Auto-Armaturenbrett sicher sehr vermissen.“

Immerhin ist es für die Frauen keine Selbstverständlichkeit mehr, dass sie mit dieser männlichen Ignoranz konfrontiert werden: Immer mehr Teilnehmerinnen stehen auf und gehen kurz raus oder unterhalten sich. Aber dass diese Sorte Männlichkeit, die sich weiterhin in den verantwortlichen Positionen breit macht, ausstirbt, darauf werden wir wohl noch lange warten müssen.