Der Versuch einer Skizze der westdeutschen Frauenforschung und Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren

Im Sommer 2025 erreichte die Redaktion eine Nachricht von Marie-Luise Conen mit Anmerkungen zu unserer bisherigen Timeline, ganz herzlichen Dank! Daraus ist nicht nur eine neue Rubrik „Geschichte der Systemik“ in unserem Blog entstanden, die unsere Timeline kritisch beleuchten, ergänzen und erweitern soll, sondern auch der vorliegende Beitrag von Frau Conen zur westdeutschen Frauenbewegung und Frauenforschung in der 1970er und 1980er Jahren. Wir freuen uns sehr über diese wertvollen Einblicke und Erläuterungen!

von Marie-Luise Conen

Vorab über mich aus dieser Zeit:

  • 1975-1980 Studium der Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin (1980 integriert in die TU Berlin), 1977/1978 Studium der Gruppendynamik/-beratung an der Temple University, Philadelphia.
  • 1985-1987 Studium der Psychologie an der FU Berlin.
  • 1978-1986 engagiert in der Frauenforschungsbewegung in der DGS und DGfE in Berlin.
  • 1986 Beginn an den Arbeiten an meiner Dissertation (1990).

Zwischen Audrey Lord (1980er Jahre) und der Gründung des 1. Frauenhauses in Berlin (und damit die 1970er Jahre und anfänglichen 1980er Jahre) gibt es weitere wichtige Stationen bzw. Entwicklungen der westdeutschen Frauenforschung/-bewegung. Dazu möchte ich Folgendes erläutern:

Die Etablierung der feministischen Forschung in Berlin:

Ab 1978 kam eine Gruppe von Frauen, die an Frauenforschung und feministischer Theorie in Berlin interessiert waren, mehrmals im Jahr in den Räumen, in denen sich ab 1980 die neu geschaffene Zentraleinrichtung Frauenstudien und -forschung der FU Berlin befand, zusammen. Zu unserer Gruppe, die sich als Teil der DGS – Deutsche Gesellschaft für Soziologie – verstand, gehörten vorwiegend Soziologinnen oder, wie ich, einige Erziehungswissenschaftlerinnen u.ä.m. Sie kamen aus verschiedenen Wissenschaftszusammenhängen, wo sie an Hochschulen oder Forschungseinrichtungen tätig waren, einige kamen auch aus der praktischen Arbeit mit Frauen

Führend in dieser Gruppe war Carol Hagemann-White, die damals bei den Soziologen der FU lehrte und 1976 habilitiert hatte. Auch andere Frauen promovierten entweder oder arbeiteten an ihren Habilitationen – und mussten dabei erhebliche Hindernisse meistern, um einen Lehrstuhl zu „erobern“. In diese Zeit fiel auch Carol Hagemann-Whites wissenschaftliche Begleitung des ersten Berliner Frauenhauses (1977-1980).

Die Berliner DGS-Frauen-Gruppe erwies sich als die einflussreichste und diskussionsfreudigste und ich erinnere gerne unsere Diskussionsrunden, die auch von strategischen Vorgehensweisen, um Fraueninteressen an verschiedenen Stellen einzubringen bzw. durchzusetzen, geprägt waren.

Carol Hagemann-White und auch andere Soziologinnen wie Ute Gerhard (Bremen, später dort Professur), Regina Becker-Schmidt (zunächst Hannover, später Institut für Sozialforschung Frankfurt/Main), Barbara Riedmüller (FU Berlin) und Ursula Beer (zunächst Bielefeld, dann Ruf nach Dortmund), um nur einige Namen zu nennen, trugen wesentlich dazu bei, dass Frauen- und Geschlechterforschung, einschließlich Studiengänge wie „Frauenstudien“ sich an den Hochschulen etablieren konnten.

In diesem Zusammenhang war von großer Bedeutung, dass es schließlich gelang, innerhalb der DGS eine eigene Sektion Frauenforschung (später: Frauen- und Geschlechterforschung) zu gründen, deren Sprecherin Carol Hagemann-White mit Gründung 1981-1983 war.

Kampf gegen Weiblichkeitsideologien und Aufbau der Sektion Frauenforschung:

In meinem Studium lasen wir die konservativen Konzepte zur Geschlechterordnung, in denen die Natur und Biologie das Wesen der Frau bestimmten, und unterzogen diese Ideologien in unseren Seminaren kritischen Analysen und Überlegungen. Die westdeutsche Frauenbewegung musste gegen diese Ideologien argumentieren, denn ihr ging es um die Selbstbestimmung und Autonomie der Frauen. Frauen wurden bis dato vorwiegend über ihre Männer definiert, was auch die Frauen selbst taten, weil sie diese Weiblichkeitsideologien verinnerlicht hatten. Es galt gegen diese Zuschreibungen des „weiblichen Sozialcharakters“ anzugehen, wobei jeder Schritt nach vorn mühsamst gegen das Desinteresse der Gesellschaft an einer Emanzipation von Frauen erkämpft werden musste. Der Rollback dazu begann bereits in den 1980er Jahren – bereits zu dieser Zeit war eine Fortschreibung der „weiblichen Normalbiografie“ zu verzeichnen. Der Frauenbewegung war klar, dass es immer wieder notwendig ist, Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein von Diskriminierung von Frauen zu nehmen, dies zu thematisieren und für Veränderungen zu kämpfen.

Die soziologisch geprägten Diskussionen in der DGS bezogen sich u.a. phasenweise schwerpunktmäßig auf die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben und die Schwierigkeiten der Vereinbarung von Beruf und Privatem; dies erfolgte auf der Ebene von Forschungsfragestellungen und deren Erörterung. Das Leben vieler frauenbewegter Frauen war allerdings mehr von konkreten.

Die „Frauenszene“: Konkrete Lebensbereiche und das Thema Gewalt

Mitte/Ende der 1970er Jahre ging es in der westdeutschen Frauenbewegung weniger um die Erforschung als stärker um die praktische Veränderung in einzelnen Lebensbereichen.

Hier stand neben der „Abtreibungsdiskussion“ vor allem die Gewalt gegenüber Frauen im Mittelpunkt. Frauennotrufe, Walburgisnachtdemonstrationen (Take back the night), Gründung von Frauen-Cafés, Frauenbuchläden, Frauengesundheitszentren u. v. ä. m. bildeten sich überall, oftmals in Berlin (West) zuerst. Alice Schwarzer mit ihrer „Patriachats-Kritik“, aber vor allem mit ihrer Thematisierung von Abtreibungen, wurde zu einer der wichtigsten Frauenbewegerinnen, damals um den Preis als eine der am meisten gehassten Frauen in Deutschland betrachtet zu werden. Die von ihr gegründete Zeitschrift „Emma“ fand große Verbreitung nicht nur unter frauenbewegten Frauen. Sich autonom links-feministisch verstehende Frauen zogen ein Abonnement der Berliner Frauenzeitschrift „Courage“, die von 1976-1984 in –Berlin/West erschien, vor.

Das Tribunal über Gewalt gegen Frauen 1976 in Brüssel spielte in Bezug auf das Thema Gewalt gegen Frauen eine bedeutende Rolle und führte schließlich zur Gründung des ersten Berliner Frauenhauses 1976, das rasch „voll“ war und damit den hohen Bedarf an Angeboten dieser Art für Frauen zeigte.

Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und der Einfluss der „Szene“:

Christina „Tina“ Thürmer-Rohr war ab 1972 Hochschullehrerin an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Sie wurde später eine der einflussreichsten Theoretikerinnen des deutschen Feminismus und galt als unbequeme Denkerin. Sie griff Themen der „Szene“ auf und wirkte in diese Szene vielfach hinein. Sie war es, die ca. 1978 ein Theorie-Praxis-Seminar (TPS) zum Thema „Frauenhausarbeit“ anbot. Dieses Theorie-Praxis-Seminar war im Rahmen des progressiven Studienangebots an der PH Berlin Teil des Diplom-Pädagogik-Studiums und umfasste vier Semester nach dem Vordiplom. Studierende erschlossen sich in dem jeweiligen TPS-Schwerpunkt sowohl theoretisch als auch praktisch Kenntnisse und Erfahrungen. Studentinnen dieses Frauen-TPS waren zunächst ehrenamtlich im ersten Berliner Frauenhaus tätig, später einige davon hauptberuflich.

Ich persönlich – bei aller feministischer Orientierung – konnte mich damals diesem TPS nicht anschließen; die Diskussion, ob man dort mitarbeiten könne oder nicht, wenn man Partnerbeziehungen zu Männern unterhielt, schreckte mich ab. Andere, befreundete Studienkolleginnen, engagierten sich in großem Maße im Frauenhaus.

Diese Szene – Frauenarbeit/Mädchenarbeit – war es, die die konkreten Lebensbedingungen in Berlin und anderen Orten wesentlich zu beeinflussen suchte und dies mehr und mehr gelang. In dieser Frauen- und Mädchenarbeits-Szene, die in vielem ihre Anfänge in Berlin/West nahm, spielten zentrale Rollen Barbara Kavemann, Monika Savier und Carola Wildt, später u. a. in Köln Ursula Enders. Sie trugen mit zur Gründung von Beratungsstellen von sexuell missbrauchten Mädchen und Frauen bei (Wildwasser u. Zartbitter). Monika Saviers und Carola Wildts kleines Buch über „Mädchen zwischen Anpassung und Widerstand“ (1978), war – neben dem Taschenbuch von Ursula Scheu „Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht“ (1977) – damals eine Standardlektüre für jede frauenbewegte Frau.

Wissenschaftliche Verankerung in der DGfE und das Ringen um Anerkennung:

In der Frauen- und Mädchenarbeit gab es auch eine andere Gruppe, der ich ebenfalls eine Reihe von Jahren angehörte und die mich aktiv werden ließ. Denn es waren die Erziehungswissenschaftlerinnen, die sich – im Unterschied zu dem Schwerpunkt der meisten Soziologinnen – mehr mit der Erforschung der konkreten Arbeit mit Frauen und Mädchen beschäftigen wollten und die ebenfalls Wege suchten, sich organisiert als Wissenschaftlerinnen in die männerbeherrschte Hochschullandschaft der Pädagogik und Erziehungswissenschaften einzumischen.

Überregional trug vor allem Hannelore Faulstich-Wieland (später Hochschullehrerin in Frankfurt/Main und Hamburg) dazu bei, dass es schließlich eine Kommission Frauenforschung (später Frauen- und Geschlechterforschung) innerhalb der DGfE (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften) gab. Hannelore Faulstich-Wieland hatte 1980 über „Berufsorientierte Beratung von Mädchen“ habilitiert.

1982 veranstaltete die DGfE-Kommission Frauenforschung ihr erstes Symposium zum Thema „Koedukation“ – denn die Frauenszene diskutierte in den 1970er- und 1980er Jahren auch die Nachteile einer Koedukation für Mädchen (und die Vorteile einer Mädchenpädagogik im Schulwesen). Andere Themen waren Mädchensozialisation und eben auch Gewalt gegen Frauen. In der DGfE waren namhafte Erziehungswissenschaftlerinnen engagiert wie Sigrid Metz-Göckel, die in Dortmund viel zur Gestaltung frauenspezifischer Themen im Lehrangebot beitrug. Ihr gelang es, den ersten Studiengang „Frauenstudien“ aufzubauen.

Des Weiteren waren Hedwig Ortmann (Bremen), Christine Holzkamp (PH Berlin), Gisela –Steppke (Berlin) Renate Thiersch (Tübingen) und Bärbel Schön (später Heidelberg) in der Kommission Frauenforschung engagiert und trugen ebenfalls zur weiteren Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Frauenforschung in Deutschland bei.

Frauen wie Helge Pross und Frigga Haug waren Vorreiterinnen für diese damals neue Frauen-Generation, gehörten aber nicht den o.g. Gruppierungen an. Helge Pross erhielt bereits 1965 einen Ruf als Professorin nach Gießen und fand großen Widerhall in der Öffentlichkeit über ihre Studie zu „Nur-Hausfrauen“. Frigga Haug kam aus der sozialistischen Frauenbewegung (Brot und Rosen). Sie stand der autonomen Frauenbewegung zunächst kritisch gegenüber und vertrat Positionen eines marxistischen Feminismus.

Die Treffen der DGfE-Frauen zeigten immer wieder, wie sehr frau mit den „üblichen“ männlichen Codes bei Bewerbungen auf Hochschulprofessuren zu kämpfen hatten. Nach und nach bildeten zahlreiche Frauen Netzwerke, um Frauen zu unterstützen auch innerhalb des Wissenschaftsbetriebes ihren Platz zu finden. Dies war bedeutend, denn eine Aufnahme in die DGfE konnte nur aufgrund einer Empfehlung eines Mitglieds erfolgen; dies machte auch mir eine Mitgliedschaft in der DGfE möglich.

Inzwischen sind in beiden Fachgesellschaften – Deutsche Gesellschaft für Soziologie und Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften – die Sektion bzw. Kommission „Frauen- und Geschlechterforschung“ nicht mehr wegzudenken, auch wenn man anfänglich dies als nur „vorübergehendes Thema“ betrachtete und daher in der DGfE erst 1991 – nach sieben Jahren Kampf darum – endlich dem Antrag auf Einrichtung einer Kommission Frauenforschung zustimmte.

Fazit: Wechselwirkungen, Errungenschaften und persönliche Umorientierung

Diese drei „Szenen“ – Soziologinnen, Erziehungswissenschaftlerinnen und „Frauenszene“ beeinflussten sich in großem Maße gegenseitig und haben erheblich dazu beigetragen, dass viele Rechte, Einordnungen und Möglichkeiten, die für heute jüngere Frauen selbstverständlich sind, gesellschaftlich stärker ihren Platz finden konnten – jedoch heute wieder bedroht sind.

Ich selbst interessierte mich zunehmend weniger für theoretische Diskurse, sondern mehr für die praktische Arbeit mit Mädchen, hatte ich doch im Rahmen eines Praktikums in einem US-amerikanischen Heim in Philadelphia mit jugendlichen Mädchen deren gewaltvolle Erfahrungen, insbesondere sexuellen Missbrauch mitbekommen. Zurück in Deutschland suchte ich Kontakte zur Frauenszene, die sich mit Mädchenheimerziehung beschäftigte, da ich zunehmend die Ursachen des Weglaufens von zu Hause in ihren Missbrauchserfahrungen sah – 1980 allerdings kein Thema in Deutschland. Von einer Dissertation zu diesem Themenkomplex sah ich dann später ab. Konkurrenzen und Machtkämpfe um Themensetzungen und Förderungen schreckten mich ab und ich beschloss dieses Themenfeld loszulassen.

Ich zog mich aus der Frauenszene zurück, eine Verbindung zwischen Familientherapie – die mich seit meiner Zeit in Philadelphia begeistert hat – und Frauenbewegung schien mir damals nicht (mehr) möglich. Sexuellen Missbrauch als Teil der Familiendynamik zu sehen – und Frauenarbeit schlossen sich für frauenbewegte Kolleginnen gegenseitig aus und damit für mich wichtige Denkweisen.

Späte Annäherung: Geschlechterrollen in der Familientherapie

Als das Buch „Unsichtbare Schlingen – Die Bedeutung der Geschlechterrollen in der Familientherapie“ von Marianne Walters, Betty Carter, Peggy Papp und Olga Silverstein (1991 auf Deutsch) und 1992 „Balanceakte. Familientherapie und Geschlechterrollen“ von Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen erschienen, empfand ich diese als kaum in Bezug zu diesen drei Frauen-Szenen. Ich hatte den Eindruck, dass frau sich sowohl recht spät als auch eher aus einer recht individuumsbezogenen Betrachtung heraus der Geschlechterdiskussion näherte, die wenig, ja kaum Bezüge zu der „Frauenszene/Frauenbewegung“ hatte.

Ich vermute, dass dieser mangelnde Bezug und auch eine fehlende Einbettung in die „Frauendiskussion“ u. a. mit dazu beigetragen haben, dass das Thema seitens der Frauen innerhalb der systemischen Fachverbände „verloren“ ging und von den männlichen Verbandsvertretern ignoriert wurde – obwohl der Anteil der weiblichen Mitglieder so deutlich herausragt – und erst seit kurzem erfreulicherweise Aufwind erfährt.

Neulich in der Gruppentherapie 2

Ich sitze mal wieder in der offenen Gesprächsgruppe in der Psychiatrie, die ich zwei Mal pro Woche alleine oder mit einem Kollegen führe. Heute bin ich allein und freue mich auf die Sitzung. Wir sind eine reine Frauengruppe. Auch wenn gemischte Gruppen ihre ganz eigene interessante Dynamik mit sich bringen, so genieße ich es ab und zu, einfach unter Frauen zu sein. Bzgl. des Alters und des Hintergrundes sind die Teilnehmerinnen sehr unterschiedlich und standen in vergangenen Sitzungen immer wieder vor der Herausforderung, der Lebenswelt der anderen näher zu kommen. 

Eine der jüngeren Teilnehmerinnen ergreift das Wort und berichtet davon, was sie aktuell beschäftigt: Sie bemerke in ihrem Alltag, aber auch in der Gemeinschaft auf Station, dass es ihr schwerfällt, eigene Bedürfnisse bzw. Grenzen zu kommunizieren und damit für sich selbst zu sorgen. Andere Patientinnen melden sich sofort zu Wort. Ihnen gehe es ähnlich, und uns fällt auf, dass es auch in der Gruppe oft besonders harmonisch zugeht. Alle Anwesenden scheinen vorsichtig miteinander, wollen sich nicht auf die Füße treten und stellen eigene Bedürfnisse hintenan. Manchmal entsteht dann eine aufgeladene Stille, in der Dinge möglicherweise ungesagt bleiben.

Die Patientinnen überlegen gemeinsam, welche guten Gründe es für sie geben könnte, sich diesbzgl. zurückzuhalten. In diesem Sammelprozess platzt eine Patientin (die ich bisher als passives Mitglied erlebt und der ich eher konservative Ansichten unterstellt habe) plötzlich etwas lauter als alle anderen heraus: „…na ja, und als Frau!“ Ihr falle auf, dass es Männern leichter zu fallen scheint, für sich zu sorgen und dass an Frauen möglicherweise ganz andere Erwartungen herangetragen werden, die es zusätzlich erschweren, angemessen für sich einzustehen. Die anderen Teilnehmerinnen stimmen ein und berichten von eigenen Erfahrungen. Es entsteht eine belebte Stimmung und auf Anekdoten folgt oft verständnisvolles Lachen. Ein weiteres Gefühl macht sich breit: Wut! „Ja warum nehmen die sich das einfach raus?!“, aber auch „Warum nehmen wir uns das nicht einfach raus?!“

Ich kommentiere die entstanden Atmosphäre, benenne auch die Wut. Daraufhin antwortet die einbringende Patientin: „Das ist hier richtig feministisch!“ Es kommt ein gelöst erscheinendes Lachen auf. Nun wird darüber diskutiert, was es sich vielleicht von Männern abzuschauen lohnt und welche „Nebenwirkungen“ das in den Beziehungen der Patientinnen bringen könnte.

Dann ist es Zeit für die Abschlussrunde und die Teilnehmenden melden zurück, dass sie die Gruppe mit Energie und dem Gefühl von Gemeinschaft verlassen. Auch ich kehre beschwingt in mein Büro zurück. Ich freue mich darüber, dass es den Teilnehmerinnen gelungen ist, sich einerseits verständnisvoll und anerkennend zuzuwenden und sie sich gleichzeitig darin bestärkt haben, aktiv eigene Muster zu hinterfragen. Mich persönlich trägt außerdem ein besonderes Gefühl der Solidarität und Verbundenheit durch den restlichen Tag, die ich bisher nur so mit anderen Frauen erlebe. Außerdem Überraschung und ein selbstkritischer Blick auf meine Vorurteile: Denn einen feministischen Vibe habe ich an diesem Ort in dieser Form nicht erwartet.

Der Elefant im Zimmer

Eigentlich hatte ich vor, in diesem Text einen Konflikt an meinem Arbeitsplatz und meine Beobachtungen zu Interaktionen zwischen Frauen und Männern zu schildern. Doch: nur beim Daran denken verging mir schon die Lust. In mir sperrte sich etwas, mich erneut in den Ärger und das Ohnmachtsgefühl, das mich begleitete und immer noch nicht ganz loslässt, hineinzubegeben. Ich entschied mich letztendlich für einen ressourcenorientierten Zugang und schreibe nun über das, was nützlich war.

Das Buch „Der Elefant im Zimmer“ von Petra Morsbach (empfohlen von einer geschätzten Kollegin) half mir in dieser Situation nicht das erste Mal aus einer inneren Zwickmühle. Die Autorin beschreibt ausführlich drei Fälle, in denen die Beteiligten (im letzten Fall auch sie selbst) mit den „Mächtigen“ in Konflikt gerieten.

Die Idee entstand aus der eigenen Erfahrung sowie dem Austausch mit Kolleg*innen und Bekannten. Während letzterem entstand bei ihr der Eindruck, dass Konflikte mit „Mächtigen“ nach ähnlichen Mustern abzulaufen scheinen:

  1. Angehörige eines Systems wehrten sich gegen eine problematisch Anweisung oder wiesen auf Fehler hin, in der Erwartung von Abhilfe.
  2. Vorgesetzte ignorierten den Hinweis oder ließen diesen nach einer Scheindiskussion versanden.
  3. Nachhaken führte ironischem Entgegenkommen, Spott, Einschüchterungsversuche, Drohungen und Disziplinarmaßnahmen.
  4. Wenn die Kritik am Chef als Kritik an der Institution gesehen wurde, richtete sich die Stimmung der Belegschaft gegen die Kritiker*innen, Solidarität verschwand.
  5.  Korrekturen gab es wenn überhaupt nach schweren Schäden, Skandalen oder Sanktionen.

Morsbach geht mit Hilfe ihrer drei Beispiele von „Widerstand gegen Machtmissbrauch“ auf eine „literarische Erkundungstour“.

Ihre These: Die Verleugnung der Macht (des Elefanten im Raum) ist das Kernproblem.  Liegt bei Personen, die Macht in Institutionen innehaben, eine Kombination aus Machtorientierung (also eines Strebens nach Selbstaufwertung und Anerkennung durch diese Position) UND Machtleugnung, mit der individuelle Verantwortung zurückgewiesen wird („Ich kann da nichts machen.“) vor, entsteht ein Paradoxon, das schwer aufzulösen ist. Weiterhin bemerkt sie, komme erschwerend hinzu, dass jede Person, die das Problem im Verlauf „unwidersprochen hinnimmt, wird zum Komplizen und muss sich angegriffen fühlen, wenn es auf den Tisch kommt.“

Die Autorin legt in ihren Ausführungen den Fokus auf die Dynamiken, die auf die Aufdeckung des Problems folgen, beleuchtet die Sprache, in der die Konflikte geführt wurden, und möchte tiefer liegende (unbewusste) Motive explorieren.

Ihre Frage: Können „Unmächtige“ mit legalen Mitteln Machtmissbrauch praktisch abhelfen? Und wenn ja wie? Ihre Antwort im Nachwort: Jein. „Eigentlich nicht, aber sie sollten es trotzdem versuchen, denn das bewirkt etwas.“

Auch wenn die Konflikte mit „Mächtigen“, in denen ich beteiligt war, nicht ganz diesem Muster entsprachen, erleichterte es mich ungemein, dass es sich anscheinend um eine geteilte Erfahrung handelt. Das Buch gab mir die Chance, sprachliche Muster abzugleichen und in den „Machtkontext“ einzuordnen, auch wenn meine Beispiele in vergleichsweise kleineren Organisationseinheiten stattfanden. Ich fühlte mich dann nicht mehr so ohnmächtig. Eine schöne Erkenntnis war auch, Unterschiede in den Mustern zu entdecken. Ich war zum Glück nie allein als Kritikerin, sondern Teil einer Gruppe und die Solidarität untereinander blieb uns auch erhalten. Es war vor allem eine Solidarität unter Frauen, die sich männlich besetzten Machtstrukturen entgegensetzte.  Und: Auch machte ich die Erfahrung, die die Autorin mit „Eigentlich nein, aber sie wollten es trotzdem versuchen, es bewirkt etwas.“ beschrieb. Ich beobachtete oft kleine, manchmal auch größere Veränderungen, die vielleicht in dieser Dosis und/oder nach etwas verstrichener Zeit für das System verträglich erschienen.

Morsbachs Buch ist für mich einfach gute Unterhaltung, weil die Autorin mich mit ihrem persönlich wirkenden Schreibstil in den Bann gezogen hat. Darüber hinaus gibt sie mit dem Buch die Chance, sich mit bestimmten Mechanismen der Macht vertraut zu machen, und stellt am Ende einen Katalog mit 33 Empfehlungen und Überlegungen zur Verfügung, von denen viele in unterschiedlichsten Konflikten anwendbar erscheinen.

Ich möchte den Text mit einem Gedanken der Autorin beenden, der auf die zirkulären Wirkmechanismen in diesen Konflikten eingeht und mich auch immer wieder etwas demütig werden lässt. Sie kommentiert die Dynamik zwischen den Machausübenden und den Kritiker*innen mit folgenden Fragen: „Sind nicht auch sie in Wechselwirkung aufeinander bezogen? Spielt jeder nur eine Rolle in einem größeren Spiel, das er nicht überblickt? Wer hat recht? Wer entscheidet das? Wer verteilt die Rollen?“

Eindrücke von der „ersten Generation“

Zum Podcast-Interview mit Margarete Hecker

Eine neue Podcast-Folge ist online – das Interview mit Margarete Hecker. Sie war bis 1994 Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt, wo sie zusammen mit Verena Krähenbühl die Weiterbildung in systemischer Familienberatung aufbaute.

Im Podcast erzählt Margarete Hecker zunächst von der Flucht mit ihrer Familie von Pommern nach Wernigerode am Ende des 2. Weltkrieges und von ihrer Flucht ganz allein von Wernigerode in den Westen 4 Jahre später. Das hat ihre Arbeit geprägt. Im Laufe des Interviews betont sie immer wieder, wie wichtig es für sie ist, dass Familientherapie den Kontext und die Geschichte berücksichtigt.

Vieles von diesem Interview findet sich auch in dem Buch Systemik, die … wieder. Im Kontext dieses Buches wird deutlich, dass Margarete Hecker – wie viele Frauen in ihrer Generation – als Startpunkt für ihren Weg zur Familientherapie die Sozialarbeit hatte. Sie wurde zunächst Fürsorgerin (heute Diplom-Sozialarbeiterin), bevor sie dann studierte und promovierte. Dies ist vielleicht die Erklärung dafür, dass sich ihr Fokus von der Sozialarbeit aus auf die Familie und weiter auf die Geschichte der Familie richtete. Denn ich habe mich beim Hören, und auch beim Lesen weiterer Biografien im Buch, gefragt, wieso viele Frauen dieser Generation ihren Schwerpunkt auf die Familienrekonstruktion legten, während andere Systemiker_innen in Deutschland sich dem Konstruktivismus und der Systemtheorie zuwandten. Hecker nennt ihre eigenen sehr prägenden Fluchterfahrungen als einen Grund, und nennt als weiteren Grund ihre Beobachtung, dass Systemiker wie Minuchin durch ihre Fokussierung auf die gegenwärtigen Muster einer Familie Dinge wie Missbrauchserfahrungen und innerfamiliäre Gewalt gar nicht in den Blick bekamen. Und sie beschreibt außerdem, dass die männlichen Systemiker übersahen, wie die familiären Rollen der Frauen unhinterfragt blieben.

Ich frage mich, ob geschlechtsspezifische Aspekte auch eine Rolle dabei gespielt haben, dass ein Unterschied gemacht wurde zwischen den „richtigen Systemikern“ und den Familientherapeut_innen: „… Anfang der neunziger Jahre fand ein Prozess statt, dass die DAF und DFS1 sich auf die Reise machten, ein gemeinsamer Verband zu werden. … Eine ganze Reihe von Mitgliedern der DAF, die eine eher tiefenpsychologisch orientierte Form von Familientherapie vertraten, verließen diesen neuen Verband, sodass der sich stärker auf die systemische Arbeit fokussierte, aber immer noch sehr stark familientherapeutisch geprägt war. Auch die Institute stützten sich in ihrer großen Mehrheit theoretisch-konzeptionell auf den Satir-Ansatz und auf die Arbeit mit Kindern und Familien. Und dann gab es eine ganze Reihe Institute, die … in einen Austausch über systemische Denk- und Arbeitsmodelle treten (wollten) … Dazu gehörten Konzepte der Mailänder Schule, konstruktivistische Modelle, narrative Modelle etc. …“ 2

Glücklicherweise muss man diese verschiedenen Vorgehensweisen heute nicht mehr aus divergierenden Lagern betrachten. Ich frage mich, warum es damals nicht möglich war, sich über die unterschiedlichen Herangehensweisen konstruktiv auseinanderzusetzen, anstatt in ein „Entweder – Oder“ zu kommen. Mir scheint, die Frauen dieser Generation, so wie Margarete Hecker, gingen sehr pragmatisch vor und nahmen sich von der Systemik, was ihnen hilfreich erschien, brachten von sich aus ein, was sie für erforderlich hielten, und ließen andere Vorgehensweisen außen vor. So sagt Hecker im Interview, dass sie sich nicht mit Luhmann befasste, weil seine Schriften sie nicht erreichten und sie nicht betroffen davon war.

Eine andere Frage, die beim Hören des Interviews mit Margarete Hecker auftaucht, ist die der spärlichen Veröffentlichungen seitens der Frauen gegenüber den üppigen der Männer. Sie sieht zwei Gründe. Zum einen hatte sie selber erlebt, wie sie Dinge schrieb, die dann liegengelassen wurden, bis ein Mann dieselben Ideen auf den Büchermarkt brachte. Zum anderen fand sie es schwierig, ihr Vorgehen aufzuschreiben, weil sie sehr intuitiv arbeitete. Sie spricht vom „Sehen des Feldes“, das völlig andere Gespräche als bei männlichen Therapeuten ermöglichte, aber sich methodologisch nicht so leicht in den gängigen Methodenkanon integrieren ließ. Da gibt es heute sicherlich mehr Raum, solche Vorgehensweisen in die fachlichen Diskussionen einzubringen.

  1. DAF: Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie (gegründet 1978), DFS: Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten (gegründet 1987) ↩︎
  2. Tom Hegemann in Klindworth/Kühling (Hg.): Von der Bewegung zur Organisation und wohin weiter? 25 Jahre Systemische Gesellschaft, Göttingen 2018, Seite 18 ↩︎

Frauen in der Wissenschaft

Ein Gastbeitrag von Anne Valler-Lichtenberg.

Durch Zufall habe ich vergangene Woche dieses Interview auf WDR 5 gehört und freue mich nun, Euch und Sie darauf aufmerksam zu machen.

Gesine Born ist Kommunikationsdesignerin und Fotografin. Sie nutzt ihre Profession und KI, um Wissenschaftlerinnen sichtbar zu machen.

Viel zu lange – und vielleicht immer noch – wurden Forschungs- und wissenschaftlichen Erkenntnisse von Frauen durch männliche Kollegen übernommen und/oder veröffentlicht. Dem setzt Gesine Born ihre Bilder und deren Hintergrundgeschichten entgegen. Sie ehrt die Frauen und setzt Reflexion und Veränderung in Gang.

Ein kleiner Teil der Ausstellung „Versäumte Bilder“ ist noch bis zum 31.07. an der Universität Bonn zu sehen.

Ein Beispiel, das mir Mut macht und anregt.

Im Netz finden sich weitere Informationen und Bilder.

https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:section:fff639b904d64705

https://www.hessenschau.de/kultur/neue-ausstellung-in-darmstadt-ki-macht-vergessene-wissenschaftlerinnen-sichtbar-v1,versaeumte-bilder-ausstellung-ki-100.html

https://www.uni-bonn.de/de/neues/055-2025

Köln, 21.07.2025         Anne Valler-Lichtenberg.

Mit Adleraugen

In den systemischen Approbationskursen in denen ich als Lehrende tätig bin, nehme ich ein großes Interesse der Teilnehmenden an genderspezifischen (und generell an diversen) Blicken auf die Systemik wahr. Das Wenige, was ich an Wissen und an Zeit dafür zu bieten habe, würde ich gerne ergänzen durch Hinweise zum Eigenstudium. Und jetzt weiß ich, was ich zukünftig empfehlen werde: Die systemische Timeline von Tanja Kuhnert und Nikola Siller.

Die beiden haben Ende letzten Jahres das Buch Systemik, die – Feministische Perspektiven systemischer Theorie und Praxis herausgegeben und dort einen Teil dieser Timeline grafisch schön gestaltet in der Mitte des Buches präsentiert. Jetzt haben sie eine ausführliche Version in Tabellenform auf diesem Blog veröffentlicht.

In ihrem Buch weisen die Herausgeberinnen darauf hin, dass Geschichtserzählung je nach Beobachtendenperspektive bestimmte Ereignisse auswählt, also Interpunktionen vornimmt, die ein spezifisches Bild erzeugen sollen. Ihr Fokus ist auf weibliche Einflüsse auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes und auf den Kontext dieser Entwicklungen gerichtet. Sie beginnen Mitte des 19. Jahrhunderts mit einigen Ereignissen, welche die Anfänge der Frauenbewegung markieren. In diesem Kontext sehen sie die Entstehung der sozialen Arbeit mit dem Fokus auf die Arbeit mit der ganzen Familie.

Im Kontext finden sich auch politische Ereignisse, die Tanja Kuhnert und Nikola Siller als bedeutsam ansehen für die Entwicklung von sozialer Arbeit, Beratung und Therapie, letztendlich bis hin zur Prägung des heutigen Standes in der Systemischen Therapie. Sie betonen die Subjektivität, die einem solchen Unterfangen zugrunde liegt, und laden dazu ein, Ergänzungen vorzunehmen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich diese Timeline weiterentwickeln wird und auf welche Weise viele unterschiedliche Sichtweisen das daraus entstehende Bild verändern werden.

Was mir aufgefallen ist: Die „klassischen“ Erwähnungen fehlen. Zwar ist die Rede von Virginia Satir , von Lynn Hoffman, von einer Veröffentlichung der Mailänder Schule und davon, dass Margret Mead eine der beiden einzigen Frauen auf der ersten Macy-Konferenz war, doch es findet sich nichts über Gregory Bateson, die männlichen Mitglieder des Mental Research Institutes (MRI), Milton Erikson, Steve der Schazer und Imso Kim Berg oder Helm Stierlin. Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld werden nur am Rande in Bezug auf ihre Flucht in die USA erwähnt. Luhmanns Artikel, in dem er das binäre Geschlechtsmodell hinterfragt, findet Eingang in die Zeittafel. Die üblichen Wissensbestände des systemischen Ansatzes bleiben unerwähnt. Nach einer anfänglichen inneren Reaktion von „Wo sind denn diese für die Entwicklung des systemischen Ansatzes wichtigen Personen und ihre Ideen?“ achte ich darauf, was für ein Bild dadurch bei mir entsteht. Es ist wie ein transparentes Blatt, das über ein anderes Blatt gelegt wird und dieses damit vervollständigt. Ich kann darüber fliegen und einen Adlerblick auf das Ganze werfen.

Bei den Angaben aus der jüngeren Zeit fallen mir zwei Veröffentlichungen auf, die ich gerne weiterempfehlen werde, weil sie ein Anfang sind, um die Lücke zu füllen, welche die Teilnehmenden der Approbationsausbildung beklagen: Christine Weinbachs Dissertation zu Systemtheorie und Gender von 2004 und das erste Buch über Kritisches weiß-Sein in der (systemischen) Beratung von 2022. Ansonsten gilt weiterhin, was ich den Teilnehmenden bisher gesagt habe: Fühlt euch gerne aufgerufen, die wahrgenommenen Lücken zu füllen.

Neulich in der Gruppentherapie

Die Gruppentherapie auf meiner psychiatrischen Station, die ich gemeinsam mit einer Kollegin zwei Mal pro Woche leite, ist eine offene Gesprächsgruppe. Das heißt, es werden keine Themen von den Leitenden vorgegeben, sondern die Teilnehmenden bringen das ein, was sie gerade beschäftigt. Wir führen diese Gruppe angelehnt an die „Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM)“, die zwar die Psychoanalyse im Namen hat, aber mein systemisches Herz definitiv höherschlagen lässt. In der PIM wird die Gruppe als Mehrpersonensystem und soziale Interaktion als Produkt wechselseitiger Kommunikationsprozesse betrachtet. Es wird angenommen, dass sich alles Geschehen in der Gruppe im „Zwischen“ von allen Anwesenden entwickelt und somit auch immer soziale und gesellschaftliche Kontexte berührt. Ausgehend davon kann Verhalten in Beziehungen in der halböffentlichen Therapiegruppe erforscht und mit neuen Verhaltensweisen experimentiert werden (siehe Streeck, 2024).

In einer dieser Gruppen sitze ich nun. Eine Frau und ein Mann Ü50 kommen darüber ins Gespräch, wie schwer es ist, in diesem Alter neue Lohnarbeit zu finden. Sie hätten beide viele Bewerbungen verschickt, jedoch nur Absagen erhalten. Ich bin noch versunken in den Gedanken darüber, was ich gerade in der Gruppe wahrnehme und wie ich mich dazu verhalten möchte, als plötzlich das Gespräch eine neue Richtung einschlägt: „Aber die jungen Leute, die nicht mehr arbeiten wollen, denen wird alles hinterhergetragen!“ Es kommt Leben in die bisher etwas träge Gruppe. Und noch bevor ich selbst meinen plötzlichen Ärger über die Pauschalisierung einer ganzen Generation einordnen kann, geht es weiter: „Und den Ausländern erst…“ „Und den Behinderten…“ folgt darauf. Das Gespräch nimmt Geschwindigkeit auf und hat nun einen deutlich aggressiveren Unterton.

Meine Gedanken rasen ebenfalls. Mein Körper reagiert.  Neben einer für mich normalen Grundanspannung im Gruppensetting, spüre ich, wie mir heiß wird, wahrscheinlich laufe ich auch rot an. Mein Herz schlägt hart und ich spüre mein Blut in den Ohren rauschen.

Wie zur Hölle soll ich jetzt reagieren? Das muss ich auch möglichst schnell tun, damit die Rückmeldung noch passt! Meine Kollegin hat ungünstigerweise den Raum verlassen, weil sie einen Hustenanfall hatte, also muss ich alleine entscheiden. In mir verspüre ich mehrere Impulse: Ich möchte die Gefühle, die entstanden sind, würdigen und meine Patient*innen in ihrer Not ernstnehmen. Gleichzeitig möchte ich unbedingt die abwertenden Äußerungen unterbrechen und mich positionieren. Ich verspüre eine diffuse Angst, die Teilnehmenden vor den Kopf zu stoßen oder der Zensur bezichtigt zu werden, auch mich als „linke Großstädterin“ zu outen. Irgendwie schräg, denk ich.

Ich versuche im Sinne der PIM zu reagieren, stelle ich mich als Interaktionspartnerin zur Verfügung und melde einen Teil meines inneren Dialoges zurück.  Ich schildere meine eigene Ambivalenz zwischen der Einladung, dem Erleben der Anwesenden weiter Raum zu geben und gleichzeitig dem dringenden Impuls, den menschenverachtenden Aussagen Einhalt zu bieten. Die meisten verstehen meinen Wink, ein Teilnehmer schließt jedoch mit einer weiteren herabsetzenden Pauschalisierung an. Ich werde also doch deutlicher und frage den Patienten etwas scherzhaft, ob er meinen Wink mit dem Zaunpfahl mitbekommen hat: Ich möchte nicht, dass diese Art von Aussagen in meiner Gruppe getroffen werden. Er lacht kurz, danach wenden sich die Teilnehmenden thematisch etwas anderem zu.

Nach der Sitzung im Gespräch mit meiner Kollegin versuche ich mit kühlerem Kopf zu verstehen, was möglicherweise gerade passiert ist und welche Fragen für mich daraus folgen. Wie ist diese Interaktion entstanden? Welche Wechselwirkungsprozesse zwischen den Teilnehmen haben möglicherweise eine Rolle gespielt und was habe ich dazu beigetragen? In welchem (inneren) Kontext der Patient*innen ergibt es Sinn, diffuse Aggressionen, die vermutlich im Zusammenhang mit Hilflosigkeit, Kränkung, Trauer und Verzweiflung stehen, gegen bestimmte Menschengruppen zu richten, die nicht für ihr Unglück verantwortlich sind? Von den Gruppenteilnehmenden kam kein Widerspruch zu den Pauschalisierungen. Waren sich tatsächlich alle einig oder blieb etwas ungesagt? Und wenn ja, aus welchen Gründen?

Die Teilnehmenden und damit auch die Themen in unseren Gruppen wechseln meist von Sitzung zu Sitzung, so dass wir in der darauffolgenden Gesprächsrunde nicht mehr anknüpfen. Obwohl mich die Sitzung sehr gefordert hat, wäre ich definitiv neugierig: Welche inneren Reaktionen hatten Patient*innen auf meine Positionierung und auf welche Art könnten wir weiter darüber ins Gespräch kommen?

Mich hinterlässt die Sitzung nachdenklich und berührt. Ich versuche seitdem sensibler dafür zu sein und näher nachzufragen, wenn plötzlich Pauschalisierungen im Raum stehen. Eine Frage, die mich auch beschäftigt: Wie können wir in unserer Arbeit im Kontext der aktuellen politischen Lage einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht? Hinterlasst gern dazu einen Kommentar mit euren Gedanken und kommt mit uns darüber ins Gespräch!

Gedanken zum Podcast-Interview mit Satuila Stierlin

Beim Hören des Interviews mit Satuila Stierlin wird mir deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, aus heutiger Perspektive nachzuvollziehen, wie es Systemikerinnen vor 50 Jahren ergangen ist. Es lässt sich vielleicht indirekt aus den Aussagen von Satuila Stierlin herauslesen. Meine Phantasie ist folgende:

Viele Frauen (und auch Männer), die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, hatten so sehr verinnerlicht, dass „Kinder – Küche – Kirche“ ihre Aufgabe war, dass nur wenige von ihnen auf die Idee kamen, das infrage zu stellen. Wer Anfang des Jahrhunderts geboren wurde, hatte in Deutschland während des Krieges vielleicht schon eher die Erfahrung gemacht, dass sie als Frau außer Haus arbeiten konnte. Aber diese Frauen sollten „zurück an den Herd“. Es gab kaum Vorbilder, die andere Lebensformen zeigten. So verstehe ich Satuila Stierlin, wenn sie im Interview davon spricht, dass sie nach ihrem USA-Aufenthalt in Heidelberg und der sehr mühsamen Suche nach Freundinnen mit diesen erst einmal Ideen entwickeln und ausprobieren musste, wie die klassische Frauenarbeit so reduziert werden konnte, dass genug Raum für Berufstätigkeit blieb. Satuila Stierlin beschreibt es als „rührend“, wie ihr Mann, der Professor, erst lernen musste, wie man einen Küchentisch abwischt. Nur weil er sich Mühe gab und sie darüber im Gespräch blieben, konnten sie einen Weg bahnen, der auch ihr erlaubte, sich für ihre Berufstätigkeit Zeit zu schaffen.

Dann stelle ich mir noch vor, dass Psychotherapie eine absolute Nische für wenige Menschen war. Die „Redekur“ Psychoanalyse war gerade einmal 40 Jahre alt, Familientherapie in den Kinderschuhen.

Erst mit diesen Annahmen entwickelt sich ein Kontext, der sich fundamental von dem unterscheidet, in dem heute Frauen leben. Satuila Stierlin spricht von einer dramatischen Veränderung. In diesem ganz anderen Kontext entwickelte sie ihre Genogrammarbeit, aufbauend auf einigen Ideen von Virginia Satir und Monica McGoldrick.

Für uns sind das alles Selbstverständlichkeiten. Selbst ich, die ich Mitte der achtziger Jahre selber mit Frauen Bildungsarbeit machte, die in den dreißiger Jahren geboren waren, muss mich erst wieder hineindenken in diese andere Selbstverständlichkeit, die in den achtziger Jahren von uns damals jungen Frauen nicht mehr akzeptiert wurde. Es gab die Frauenbewegung, wir hatten „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir und andere Bücher gelesen. Und wir begaben uns Jahre später in „die systemische Welt“, die für uns schon da war und mittlerweile schier unübersichtlicher wurde.

Wir treten ein kostbares Erbe an und werden es hoffentlich würdig weiterentwickeln können.

Frauen in Rot

„Women in Red“ ist ein Schreibprojekt innerhalb der Wikipedia, das sich zum Ziel erklärt hat, (bemerkenswerte) Frauen durch Einträge sichtbarer zu machen und gleichzeitig den Anteil der weiblichen Beitragenden zu erhöhen. Symbolisch sollen „red links“ (Wikipedia-Links, hinter denen noch kein Artikel steckt) in „blue links“ umgewandelt werden. Dafür werden immer wieder Schreibaktionen – „Edit-a-thons“ – in Städten rund um die Welt durchgeführt, um Beitragende auszubilden. Ein Beispiel ist der Art+Feminism Edit-a-thon, der jährlich am 8. März stattfindet, um Beiträge über Frauen in der Kunst hinzuzufügen.

Das Projekt existiert bisher in 32 Sprachen. Der deutschsprachige Teil der „Women in Red“ fokussiert auf die Erstellung von deutschsprachigen Biographien, die schon in anderen Sprachen verfügbar sind.

Bisher können in der Wikipedia (Abruf am 24.08.2024) 170.463 weibliche Biografien (17,93 %), gegenüber 780.165 männlichen (82,0 %) gelesen werden.

Wie ist die Lage bei den Systemikerinnen? Lasst uns in den Kommentaren wissen, welche Systemikerinnen ihr schon gesucht und in der Wikipedia nicht gefunden habt. Vielleicht habt ihr auch Lust, im Sinne der „Women in Red“ einen Beitrag über genau diese bemerkenswerten Frauen zu schreiben.

Was hat die Systemische (Psycho-) Therapie zu bieten?

Ich bin nun schon das zweite Mal bei den Lindauer Psychotherapiewochen (eine traditionell psychodynamisch orientierte Tagung) gewesen und meine schon jetzt einen Unterschied zwischen diesem und letztem Jahr zu bemerken.

2023 war ich beim „Novizentreffen“ für Menschen, die das erste Mal in Lindau sind. Eine Kollegin meldete den vertretenen Veranstalter*innen zurück, dass unter den Hauptvorträgen auffallend wenig Frauen seien und stellte die Frage nach einer moderneren Besetzung. Es gab daraufhin bestätigende Rückmeldungen, aber auch die uns leider bekannten Argumentationslinien.

Positiv überrascht, konnte ich mich dieses Jahr in meinem gewählten Vortragsstrang auf eine diverse Zusammenstellung von Referent*innen freuen. Ein angenehmer Bonus war außerdem, die politische Komponente, die in vielen Vorträgen offen zur Sprache gebracht oder Teil des Themas war. Nichts mit therapeutischer Abstinenz, sondern es wurde zu einer Positionierung eingeladen bzw. sich deutlich positioniert.

Um eine Beispiele zu nennen:

Katharina van Bronswijk sprach zu psychologischen Implikationen des Klimawandels.

Amma Yeboah lud uns ein, uns mit Rassismus und Critical Whiteness in der Therapie auseinanderzusetzen.

Eran Rolnik wurde aus Tel Aviv zugeschaltet und sprach zur ganz unmittelbaren Einflussnahme des Krieges auf den therapeutischen Gestaltungsraum.

Heide Glaesmer referierte zu Unrechterfahrungen in der DDR am Beispiel der Heimerziehung.

Martin Schenk stellte am Beispiel des Bildes von „Brot und Rosen“ den möglichen Einfluss von Armutserfahrungen in der Kindheit auf die psychische Gesundheit aus.

Besonders berührten mich die Vorträge von Nasim Ghaffari und Hadiye Kücükkaragöz, die Unrechtserfahrungen im Iran und in der Türkei lebhaft und ganz konkret mit in den Tagungsraum brachten.

In den meisten dieser Vorträge wurde direkt oder subtil die Machtfrage gestellt und deutliche Unterschiede zwischen den Mächtigen und Ohnmächtigen gezeichnet. Immer wieder waren auch wir als Zuhörer*innen aufgefordert eigene Ressentiments und Positionierungen, die wir mit in die Therapie bringen, zu hinterfragen. Auffällig schien mir die teilweise konkret ausgesprochene Einladung der Referent*innen über den Tellerrand der intrapsychischen Dynamik hinauszuschauen und (gesellschaftliche) strukturelle Bedingungen als Akteur*innen in der Therapie Beachtung zu schenken.

Steckt da nicht eine systemische Grundhaltung drin?

Wir als systemisch Arbeitende wollen uns nicht nur mit den Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen unserer Klient*innen beschäftigen, sondern vor allem auch wie diese in Wechselwirkung mit allen möglichen Kontexten bzw. Umwelten stehen, in denen sich diese Person bewegt.

Als Neuling unter den sozialrechtlich anerkannten Psychotherapieverfahren könnte die systemische Therapie hier einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung und Praxis leisten sowie (auch aus einer Machtperspektive) mehr Raum im psychotherapeutischen Feld einnehmen.

Eine Voraussetzung dafür ist meiner Meinung nach die Aufgabe der Vorstellung von systemischer Therapie als politikfreien Raum. Im Austausch mit Fachkolleg*innen entsteht bisweilen der Eindruck, dass wir unsere systemische Arbeit außerhalb gesellschaftlicher Strukturen sowie deren Machtdynamiken verorten und diese unabhängig davon stattfindet. Das ist ein Trugschluss!

Wir sollten uns mit unserem eigenen Eingebundensein in Gesellschaft und Politik und das Eingebundensein unser Klient*innen auseinandersetzen. Neben der Erweiterung unseres Wirklichkeits- und Möglichkeitsraums in der therapeutischen Arbeit erscheint mir gerade die systemische Therapie dafür geeignet, die Machtfrage theoretisch fundiert in die Psychotherapie einzuführen.

In der systemische Fachliteratur werden dazu schon spannende Ideen diskutiert, siehe z.B.:

Martina Masurek: Die Idee der Gleichgültigkeit im systemischen Arbeiten (systeme, 2023)

Ilja Gold und Jessi Mmari: Macht- und Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe für die systemische Praxis (Familiendynamik, 2024)

Marlen Gnerlich und Anne Gemeinhardt: Soziale Unterschiede, die einen Unterschied machen Zur Bedeutung von Klassismus in systemischen Beratungskontexten (systeme, 2021)