Feminismus in der Familientherapie Teil 2

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Zunächst habe ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (Hrsg., 1991) vorgestellt und möchte nun auch auf „Frauen und Macht“ von Thelma Jean Goodrich (Hrsg., 1994) verweisen.

Während des Lesens bemerkte ich wieder eine deutliche Aufregung: Wir sind nicht die ersten! Feministische Praxis in der Familientherapie ist nichts Neues und hat ihren Anfang auch sicher nicht erst in den 1990ern genommen. Die Autorinnen der Beiträge beschäftigen sich mit einem vermeintlich unbequemen Thema: Macht. Dabei setzen sie sich im ersten Teil mit Erscheinungsformen, Bedeutungen und Auswirkungen von Macht in einem patriarchalen System auseinander. Es folgen Ausführungen zu „weiblichen“ und „männlichen“ Zugängen zu Macht, Problemkomplexen und Ansätzen in der klinischen Praxis sowie den Auswirkungen auf die persönliche systemische Praxis.

Für einen konkreten Einblick möchte ich einige Autorinnen selbst zu Wort kommen lassen:

„Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage ist nicht nur peinlich, sondern lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

„Wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, einer Frau zu helfen, ihre persönlichen Möglichkeiten stärker einzufordern und wahrzunehmen, sei dasselbe, wie ihr zu helfen Macht zu besitzen. […] Ich halte es für unumgänglich, meine Arbeit mit meinen Klientinnen im Kontext einer patriarchalen Gesellschaft zu sehen und Therapie nicht mit einer Veränderung des Kontexts selbst zu verwechseln. […] Wenn ich den patriarchalen Kontext so verändern will, dass Frauen effektiv Macht besitzen […], muss ich mich außerhalb der Therapie politisch betätigen.“ (J.M. Avis)

„Es scheint klar, dass sich eine Gruppe, die sich als dominanter Teil der Gesellschaft herausgebildet hat, kein Interesse daran hat, ihre Fähigkeiten zur Ermächtigung anderer weiterzuentwickeln. Eine solche Gruppe würde vielleicht nicht einmal zugeben, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Aber es gibt sie. Frauen und einige Männer praktizieren sie seit Jahrtausenden. Vor uns liegt die Aufgabe, Wege zu finden, um diese wertvolle Fähigkeit in eine wechselseitig bereichernde Aktivität zu verwandeln“. (J.B. Miller)

„Das angebliche Leiden der Co-Abhängigkeit brandmarkt Frauen als krankhaft, weil sie genau die Züge aufweisen, die von der Gesellschaft als angemessenes weibliches Verhalten eingestuft werden. Da Frauen in diesem Kulturkreis dazu erzogen werden zu glauben, dass es richtig ist, im Dienste anderer zu leben und falsch selbst im Zentrum ihres Lebens zu stehen, ist es wohl kaum fair, ihnen jetzt zu sagen, dass sie krank seien, weil sie genau das tun, was ihnen antrainiert wurde.“ (C. Rampage)

„Nur wenn der Therapeut oder die Therapeutin die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und biologischen Zwänge, denen das Leben und Verhalten von Frauen unterliegen, wirklich versteht, kann er oder sie ermächtigend wirken.“ (J.M. Avis)

„Wenn Ehetherapie es versäumt, den wirtschaftlichen Kontext der Ehe und ihr Machtgefüge zu ergründen, lässt sie einen wesentlichen Punkt außer Acht, denn dieser bestimmt das Recht, die Bedingungen der Partnerschaft auszuhandeln und die Freiheit, die Beziehung notfalls zu beenden.“ (M. McGoldrick)

„Ich hoffe, dass die Familientherapie zu einer Kraft werden kann, die Männern und Frauen mehr Raum gibt für ihre eigene Art, sich mit ihrem Lebenspartner und ihren Freunden verbunden zu fühlen, wie auch mit ihrer Arbeit, der Gemeinschaft, in der sie leben, und anderen Generation umzugehen.“ (M. McGoldrick)

Feminismus in der Familientherapie Teil 1

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Als erstes möchte ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (1991) kurz vorstellen. Das zweite folgt in einem meiner nächsten Beiträge.

Zu Beginn wird die These aufgestellt, dass die Familientherapie bis heute (und das gilt sicher auch nicht nur für die 90er, sondern darüber hinaus) einer patriarchal bestimmten Perspektive verhaftet bleibt. Untermalt wird diese Hypothese durch Beiträge mehrerer Autor*innen zu verschiedenen Themenbereichen und Fragestellungen:

  • Zur Entwicklung systemischer Konzepte. Dabei wird die Arbeit gewürdigt und gleichzeitig die Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht bzw. Gender kritisch diskutiert.
  • Machtungleichheiten entlang von Klasse, race, Gender und Alter im Sinne von Hierarchien, die im theoretischen systemischen Diskurs unterbetont bleiben
  • Im Rahmen einer Falldarstellung aus feministischer Perspektive
  • Gedanken zu einem feministischen Modell in der systemischen Ausbildung
  • Analyse vermeintlich geschlechtsspezifischer Merkmale im Beratungskontext
  • Und weitere.

Dabei wird deutlich, welche Problematik eine Vernachlässigung dieser Perspektive mit sich bringt: Kontexte, in denen sich Frauen* bewegen, können weder ausreichend verstanden noch gewürdigt werden. Versteckt scheint dieses Hinwegsehen z.B. hinter einem reduzierten Verständnis von Neutralität und Zirkularität.

Außerdem schwingt in den Beiträgen immer wieder die Frage mit, wer Theorie entwickelt und damit auch aus welcher Perspektive. Oft scheint (auch in anderen Zusammenhängen) die (cis-) männliche Perspektive als vermeintlich neutral und objektiv zu gelten. Das gilt es zu hinterfragen und dazu entwickeln die Autor*innen dieser Publikation schon 1991 (!) spannende und inspirierende Zugänge.

Gleichzeitig bleibt beim Lesen und Entdecken dieser vielfältigen und langjährigen feministischen Tradition in der Familientherapie ein bitterer Beigeschmack. Ohne intensive Suche wäre ich nicht auf sie gestoßen und frage mich, warum diese Analysen scheinbar immer noch nicht in dem Maß ernst genommen werden, dass sie im breiten Diskurs ankommen. Im systemischen Sinne: Was braucht es noch…? Wahrscheinlich weiterhin eine kämpferische Haltung und Hartnäckigkeit, da voraussichtlich niemand freiwillig Platz machen wird.

Männer fürs Feine, Frauen für Grobe?

Im Rahmen unseres Interviewprojekts „Pionierinnen des systemischen Ansatzes“[1] führen wir zahlreiche Gespräche mit Frauen über 70 Jahren und älter. Wir gehen u. a. in unseren Gesprächen der Frage nach, wie es dazu kam und auch heute immer noch kommt, dass der überwiegende Teil der Publikationen im systemischen Feld von Männern veröffentlicht wird.

Dabei habe ich immer wieder die gleiche Geschichte gehört. Die Frauen berichten, dass die Arbeit mit Menschen ihnen viel wichtiger war. Das Schreiben war nicht interessant für Sie.

Im Laufe des Gesprächs wurden aber meiner Wahrnehmung nach andere Dynamiken deutlich.

Die eine Interviewpartnerin war Frau eines einflussreichen Mannes, selbst promoviert als Psychologin, war sie doch lange Zeit eher Begleiterin ihres Mannes und Mutter der gemeinsamen Kinder. Sie suchte sich einen Bereich aus, der sich von dem Einflussbereich ihres Mannes unterschied. Er, der Forscher, der sich eher für die wissenschaftliche Weiterentwicklung des systemischen Ansatzes interessierte und gemeinsam mit anderen Männern Konzepte veröffentlichte, Vorträge hielt und Bücher schrieb. Sie spezialisierte sich auf die praktische Entwicklung der Biografie- und Herkunftsarbeit und wurde hierin Expertin.

Eine weitere Interviewpartnerin war ihrerseits auch promoviert und arbeitete an einer Hochschule. Als sie das erste Mal im systemischen Feld einen Artikel veröffentlichen wollte, wurde dieser von einem männlichen Redakteur abgelehnt. Einige Monate später erschien von ihm ein Artikel zu einem ähnlichen Thema. Diese Frau hat in der Folge nichts im systemischen Feld veröffentlicht.

Aus unterschiedlichen verbalen Quellen höre ich häufig ähnliche Geschichten über weitere Frauen. Es wird berichtet, Frauen haben erlebt, ihr Sprachstil sei nicht wissenschaftlich genug, ihre Themen nicht interessant oder relevant genug. So wurde und wird Frauen der Weg versperrt sich zu Wort zu melden und ihr Wissen und Können zur Verfügung zu stellen.

Mir scheint, so entschlossen sich zahlreiche Frauen und wichtige und hochkompetente Familientherapeutinnen, im Hintergrund zu bleiben und „nah am Menschen“ zu sein. Es ist unbenommen, dass sie dort eine inspirierende und für viele Menschen persönlich sehr wichtige Arbeit getan haben. Damit haben sie sich auf ein Terrain begeben, in dem Eigenschaften, die traditionell Frauen zugesprochen werden, wichtig und notwendig sind: ein Gespür für Menschen haben, empathisch und einfühlsam sein, Anteil nehmen, Beziehungszusammenhänge erspüren können, Muster und Dynamiken erkennen und erahnen u. a. Jedoch diese Fähigkeiten lassen sich nur schwer empirisch und randomisiert beforschen. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie ihre Fähigkeiten in den Entwicklungsdiskurs des systemischen Ansatzes hätten einspeisen können. Möglicherweise hätte der systemische Ansatz dann nicht bis vor kurzem den Ruf gehabt, zu stark kognitiv und zu wenig emotional und körperorientiert zu sein. Diese Frauen haben schon immer alle menschlichen Resonanzfelder in ihre Arbeit mit einfließen lassen und dadurch ein ganzheitliches Verstehen von Beziehungen, Eingebundensein und Veränderung ermöglicht!

Noch heute wird für den Diskurs im systemischen Feld nur eine bestimmte kognitive, häufig systemtheoretische (luhmansche) Auseinandersetzung als gehaltvoll und fundiert angesehen. Insbesondere von Frauen wird dies als zu distanziert und als zu wenig mit dem realen Leben zu vereinbarende Perspektive kritisiert. Vermutlich stimmt weder das eine noch das andere. Aus meiner Sicht wäre es systemischer (sowohl-als-auch), wenn der Diskurs von verschiedenen Perspektiven und Protagonist*innen bestimmt würde. Wer den Diskurs bestimmt, hat Macht. Zentralisierte Macht ist ausschließend und verengt Perspektiven, fördert Linearität – wir benötigen aber komplexere und damit ganzheitlichere Denk- und Handlungsweisen.

Ich wünsche mir sehr, dass wir die Arbeit dieser Pionierinnen nicht länger abwerten als emotionale Biografiearbeit im Hinterzimmer und würdigen als das, was sie schon immer war: Die wichtigste Arbeit, die Menschen für sich tun können: Der eigenen Biografie begegnen und sich mit ihr befrieden. Dafür brauchen wir Zugang zu unseren Emotionen und Resonanzen und nicht zu Theorien und Studien.

Tanja Kuhnert  


[1] Das Projekt produziert Audio- und Videointerviews mit Frauen, die den systemischen Ansatz maßgeblich mit entwickelt haben. Sie selbst sind häufig in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung getreten und nur einem überschaubaren Kreis von Menschen bekannt. Heute zum Teil sehr bekannte und wichtige Persönlichkeiten haben bei diesen Frauen gelernt und ihre Ideen und Konzepte in ihre Arbeit einfließen lassen. Das Projekt wird von DGSF e. V. und SG e. V. finanziell unterstützt. Die Ergebnisse werden ab 2024 der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Maria Mies und die Fernsehserien

von Gila Klindworth

„Deine Methoden sind, gelinde gesagt, esoterisch.“ Das war der Kommentar meiner „Doktormutter“ zu meinem methodischen Vorgehen in meiner Dissertation. All die Arbeit, die ich darauf verwandt hatte, es methodologisch zu fundieren, war vergeblich – meine Betreuerin ließ mich nur deshalb gewähren, weil sie das Thema spannend und meine Ergebnisse wohl zumindest als explorative Studie nicht ganz daneben fand.

Feministische Forschung zu Lateinamerika bestand zumindest in der Soziologie bis weit in die achtziger Jahre darin, die Situation der Frauen empirisch-quantitativ zu erforschen und mittels Statistiken zu präsentieren. Standardisierte Vorgehensweisen bei qualitativen Untersuchungen entwickelten sich gerade erst. Doch das kümmerte mich nicht.

Die Initialzündung zu meinem eigenwilligen Vorgehen waren die „Postulate der Frauenforschung“ von Maria Mies, die ich Mitte der achtziger Jahre kennenlernte. Während meines Studiums des Nebenfachs Psychologie (Hauptfach Erziehungswissenschaften) hatte ich mich mit den behavioristischen Ansichtsweisen mehrerer Lehrender (ohne _innen) abgemüht und dachte, das ist überholt und da wird sich bald einiges ändern (wie man sich täuschen kann). Die Thesen von Maria Mies fand ich erfrischend und wegweisend und sie prägten mich sehr für mein Forschungsprojekt, das ich wenige Jahre später in Mexiko durchführte. Zusätzlich nahm ich einige Anregungen aus der Arbeit der Ethnologin Maya Nadig auf (Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Frankfurt a.M. 1986).

Mein Forschungsthema waren die mexikanischen Telenovelas, ein Serienformat, das sich von den Soap Operas erheblich unterscheidet, weil die Geschichten einen Anfang und ein Ende (nach etwa einem halben Jahr) haben, so dass eine ganz andere Dramaturgie möglich wird. Die Telenovelas interessierten mich eigentlich gar nicht so sehr, aber weil sie im Leben von Frauen einen nicht wegzudenken Teil des Alltags darstellten, wollte ich mich mit den Zuschauerinnen über sie unterhalten und auf diese Weise mehr über weibliche Alltagskulturen von Frauen in Mexiko erfahren. Ich hatte vorher in Deutschland meine pädagogische Arbeit mit Frauen und ihrem Älterwerden reflektiert und war gespannt auf die Vergleiche zwischen einem Land, das bereits erhebliche kulturelle Modernisierungen erfahren hatte, und einem Land, das zwar vielen modernen Einflüssen ausgesetzt, in dem die vorherrschende Kultur aber noch sehr traditionell geprägt war.

Die Thesen von Maria Mies waren zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung provokativ. Aus heutiger Sicht mag man sie für überholt und ideologisch halten. Sie selber bezeichnete sie als Anreiz und Einladung zur Methodendiskussion. Und das fand ich anregend.

Sie postulierte bewusste Parteilichkeit und Abschied von Wertfreiheit und Neutralität. Sie forderte die Reflektion der blinden Flecken und der subjektiven Wahrnehmungsverzerrungen im methodischen Vorgehen, um zu einer „wirklich objektiven Erkenntnis“ zu gelangen. Die vertikale Beziehung sollte die Verzerrung der Ergebnisse durch sozial erwünschte Antworten vermeiden, vor allem aber sollte dadurch Forschung ermöglicht werden, die den Beforschten letztendlich zugutekommt, anstatt als Ergebnis womöglich mehr statt weniger Benachteiligung herbeizuführen. Und schließlich postulierte sie eine Aktionsforschung, die sich dessen gewahr ist, dass Forschung immer schon Impulse in das beforschende System gibt durch die bloße Anwesenheit und die Beobachtungen und Fragen der Forschenden. „Um ein Ding kennenzulernen, muss man es verändern.“ Doch darüber hinaus solle die Forschung die Beforschten sehr bewusst befähigen. Der „Forschungsgegenstand“ sei nicht statisch, sondern könne dynamisch und widersprüchlich erfasst werden.

Maya Nadig wie darauf hin, dass sie durch ihre Anwesenheit in einem mexikanischen Dorf Teil des zu beforschenden Systems wurde und Irritationen auslöste, die ihr halfen, Einblicke in die dortige Kultur zu gewinnen. Neben der Beobachtung verstand sie Einfühlung und Identifikation als wichtige Mechanismen zum Verstehen. Sie wies auf ihren eigenen Kulturschock hin, den sie als wichtiges Mittel zur Erkenntnis betrachtete. Sie beschrieb dies als Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur. Schließlich orientierte ich mich an Steger und Berger/Luckmann (Klindworth, G. 1995: Ich hab so schön geweint. Telenovelas in Mexiko. Breitenbach: 35): „Mit der Integration der Äußerungen einer anderen Wirklichkeit in die eigene Sprache wird diese der eigenen Sinnwelt einverleibt und bleibt unerkannt.“ Ich wollte die Kommunikation als eine sehr ungleiche, aber gleichwohl sich gegenseitig bedingende betrachten und wollte untersuchen, wie diese Kommunikation stattfand. Ich hatte es bei meiner Forschung mit einem tief in den Alltag der Frauen verwobenen, unhinterfragtem Erleben zu tun – einer täglichen Kommunikation mit Fernsehgeschichten und ihren Figuren. Ich wollte die Binnenrationalität der Handelnden verstehen und nicht so tun, als könnte ich allein aus der Beobachtung bzw. aus standardisierten Verfahren gewonnene Informationen Beschreibungen von außen mit dem Anspruch einer objektiven Forschung vornehmen.

Bei meinem Aufenthalt in Mexiko realisierte ich verschiedene Vorhaben. Ich führte vor allem Gruppeninterviews mit Frauen durch, zum einen explizit zum Thema Telenovela, zum anderen über ihre Wirklichkeitskonstruktionen vor ihrem spezifischen kulturellen Kontext. Und ich ging sehr bewusst nicht in die Hauptstadt, um nicht dort in migrantischen Kreisen in meiner eigenen Blase zu landen, sondern ich ging in die Provinz, um an dem alltäglichen Umgang mit den Menschen und der unausweichlichen Berührung mit der mexikanischen Alltagskultur Erkenntnisse zu gewinnen. Letztere waren viele Erkenntnisse über mich: Was ich als Deutsche gewohnt bin, was ich brauche, wie ich Äußerungen aus einer anderen Kultur lese und wo ich mit meinen eingeübten Verhaltensweisen und Erwartungen scheitere. „Die ForscherInnen müssen sich so weit auf die Lebenswirklichkeit der fremden Kultur einlassen, daß sie das Risiko eingehen, daß ihr eigner lebensweltlicher Horizont nicht mehr zur Deutung und Abpolsterung ausreicht, sondern zusammenbricht.“ (Klindworth: 35) Und durch die von Maya Nadig beschriebene Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur versuchten meine Gesprächspartnerinnen und ich gemeinsam, Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer kulturellen Hintergründe herauszuarbeiten. Die doppelte Kontingenz von Kommunikation wird reflektierbar gemacht.

Ein verblüffendes Ergebnis meines Forschungsaufenthaltes war dann für mich, wie ich im Grunde genommen durch meine bloße Anwesenheit Impulse auslöste, die einige Leben veränderten. Im einen Fall hatte ich eine mehrtägige Veranstaltung mit einer sehr gemischten Gruppe von Menschen über Telenovelas, in der ich eigentlich sie befragen wollte, doch die Teilnehmenden sagten, sie hätten kaum oder gar keine Erfahrungen mit Telenovelas und wollten mehr darüber erfahren. Also überlegten wir, dass wir eine „klitzekleine Feldforschung“ unternehmen und losgehen könnten, um jeweils selber Zuschauerinnen zu befragen. Nach ein paar Tagen kam eine Teilnehmerin – eine Frau mittleren Alters, die „Hausfrau“ war –euphorisch zurück und berichtete mit leuchtenden Augen, wie sie über die Fragen zu Telenovelas mit völlig fremden Menschen ins Gespräch gekommen war und diese ihr ihr Herz ausgeschüttet hatten.

Eine andere Frau erzählte mir Jahre später, dass ich bzw. die Art, wie ich dort lebte und die Gespräche, die wir miteinander über unterschiedliche Herangehensweisen an Beziehungen führten, ihr den maßgeblichen Impuls gegeben habe, sich aus ihrer unglücklichen Ehe zu lösen.

Was das mit Systemik zu tun hat? In den siebziger und achtziger Jahren wuchs eine Skepsis an der Vorstellung, dass die Forschung Phänomene angemessen beschreiben könne. Maria Mies hat sowohl die methodologischen Probleme thematisiert als auch die Frage, für welche Zwecke eigentlich geforscht wird. Auch wenn nicht von der Kybernetik 2. Ordnung die Rede war, wurden die Beobachterin und ihr Anspruch kritisch beobachtet und hinterfragt. Ich hatte damals die Hoffnung und die Erwartung, dass die Forschenden diese Auffassung zunehmend in ihre Arbeit integrieren würden. Umso erstaunter war ich Jahre später, dass selbst in den von Systemiker_innen vorgenommenen Forschungen die qualitativen Projekte zwar einen Platz bekamen, aber die quantitativen Vorgehensweisen den größten Raum einnahmen und wenig vor dem Hintergrund eines systemischen Blicks auf die Konstruktion von Wirklichkeit diskutiert und hinterfragt wurde und wird. Liegt es „nur“ daran, dass man in der Wissenschaftswelt akzeptiert und ernst genommen werden möchte? Ich habe nicht herausgefunden, wie der systemische Ansatz mit solch einem Forschungsverständnis nachvollziehbar zusammengebracht werden kann.