Sexualisierte Gewalt und Familientherapie

Anlässlich des Tages gegen Gewalt gegen Frauen* am 25. November ein Vorab-Auszug aus dem Buch Systemik, die – Feministische Perspektiven systemischer Theorie und Praxis, Kuhnert und Siller, 2025, Vandenhoeck und Ruprecht, S. 277-280.

»Unsere These ist, daß Familientherapie die herrschenden sozialen Geschlechterrollen akzeptiert und dabei ignoriert, daß diese die Frauen unterdrücken; sie hat ein traditionelles Familienmodell übernommen und dabei übersehen, daß es die Frauen benachteiligt. Diese Unfähigkeit zur Erkenntnis hat zu
einer Theorie, Praxis und Ausbildung geführt, die die Frauen unterdrückt.
«
(Goodrich, Rampage, Ellman u. Halstead, 1991, S. 32)

Die Themen Missbrauch und sexualisierte Gewalt waren lange Zeit nicht im Blick der Familientherapeut*innen. Insbesondere männliche Therapeuten taten sich anscheinend schwer damit, diese Themen zu sehen bzw. therapeutisch anzusprechen. Margarete Hecker schildert dazu ihre Erfahrungen, die sie in den USA machte.

Prof. Dr. Margarete Hecker über den Umgang mit Missbrauch in der frühen Familientherapie
Tanja Kuhnert: ≫Und was haben Sie für sich mitgenommen aus der Zeit in den USA, oder was haben Sie besonders mit hier hinübergebracht?≪
Margarete Hecker: ≫Ich habe in der Philadelphia Child Guidance Clinic bei Salvador
Minuchin strukturelle Familientherapie gelernt, mit dem Hintergrund, dass ich vorher bereits in Deutschland bei Carole Gammer und Martin Kirschbaum Kurse belegt hatte. Carole Gammer hat mir sogar empfohlen, zu Minuchin zu gehen. Sie sagte, mit den Obdachlosenfamilien, die du beschreibst, habe ich keine Erfahrung. Dazu musst du zu Minuchin gehen. Diese Familien sprechen auf deep feeling work, wie ich es mache, nicht an. Ich habe da ein Video von Minuchin gesehen, indem er sagt, dass ›past history‹, also Geschichte, fur ihn überhaupt keine Rolle spielt. Er wollte die familiäre ›Struktur‹ aus dem Hier und Jetzt allein erkennen. Ich wusste aber damals schon, dass das nicht geht und nicht genügt.
Und sexuellen Missbrauch hat er dadurch ja auch übersehen. Denn wenn er nicht
genau hinguckt und wenn er die Geschichte nicht abfragt, dann kann er manches
nicht sehen. Interessant ist ja, dass erst die Frauen, die Mitarbeiterinnen der Klinik, die sind auf das Thema Missbrauch gekommen. Sie haben ihn dann drauf gestosen. Aber er sagte immer: Es ist ja egal, wen ich konfrontiere, wenn nachher die Ehe besser lauft. Aber er hat die Frauen [Klientinnen, Anm. der Interv.] immer unter Druck gesetzt, weil die besser ansprechen [auf Interventionen, Anm. d. Interv.], als wenn man die Manner unter Druck setzt. Wenn man die Manner konfrontiert, dann verliert man das Paar aus der Therapie.≪
Tanja Kuhnert: ≫Das heißt, man konnte sagen, er hat damit auch ein Muster unterstützt?≪
Margarete Hecker: ≫Ja, er hat das gesellschaftliche Muster unterstutzt und hat es nicht versucht, andersherum auch mal zu probieren. Aber er war ein Meister, ein Könner. Es ist ihm sehr vieles gelungen, wo man gedacht hat, das ist unmöglich.
[…] Darüber habe ich ja auch das Buch fur Sie, Frau Kuhnert, von den Feministinnen
[siehe ≫Die Furchtlosen Vier – The Women’s Project≪ (New York) S. 306 ff. in
diesem Buch, Anm. d. Interv.], die beschreiben das ja auch. Diese haben ja auch damit einen sehr wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Familientherapie geleistet. Auch das Aufspüren von sexueller Gewalt und dem Vertuschen sexuellen Missbrauchs in Familien, der so häufig ist; das kam ja in den 1980er Jahren. Da wurde das ja zuerst wirklich angesprochen. Das war vorher ja auch in meiner Ausbildung nicht so ausführlich Thema. Überhaupt war Missbrauch damals kein Thema.≪
(Prof. Dr. Margarete Hecker im Interview mit Tanja Kuhnert, 2023)

Im Jahr 1990 veröffentlichte Cloé Madanes, eine US-amerikanische Familientherapeutin, das Buch »Sex, love and violence: Strategies for transformation«. Sie stellte hier ihr Konzept strategischer Familientherapie vor, indem sie mit dem gesamten Familiensystemen arbeitet, in denen Missbrauch verübt wurde – auch die Täter*innen nehmen demnach an den Sitzungen teil. Ein bis heute revolutionäres Konzept. 1997 erschien das Buch unter dem Titel »Sex, Liebe und Gewalt: Therapeutische Konzepte zur Veränderung« auf Deutsch. Heute wird es nicht mehr verlegt.

MeToo und die systemische Szene?

Überall wo Macht zwischen Männern und Frauen verhandelt wird, ist das Thema sexuelle Übergriffe und sexualisierte Gewalt leider nicht weit. So auch in der systemischen Szene. Es gibt Gerüchte, es wird gemunkelt und immer wieder wurde und wird unter Frauen auch darüber gesprochen, dass es (z. T. namhafte) Männer gibt, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.
Im Jahr 2021 erschien das Buch »Irgendwann muss doch mal Ruhe sein! Institutionelles Ringen um Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch an einem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« von Peter Caspari, Helga Dill, Cornelia Caspari und Gerhard Hackenschmied. Gegenstand des Buches ist dieAufarbeitungder Auswirkungen von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt gegenüber
Ausbildungsteilnehmerinnen an einem analytischen Ausbildungsinstitut in Heidelberg durch einen langjährigen Leiter in den Jahren 1975 bis 1993. Noch dreißig Jahre später sind in diesem Institut die Auswirkungen zu spüren und zu erleben. Das veranlasste die Mitgliederversammlung des zugehörigen Vereins dazu, externe Beraterinnen zu beauftragen, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Das Buch beinhaltet die Dokumentation dieses Prozesses. Am Ende stellen die Autorinnen Handlungsempfehlungen vor.
Wir nennen das Beispiel hier, um deutlich zu machen, dass Beraterinnen und Therapeut*innen nicht weniger davon betroffen sind, Übergriffe zu erleben oder sich selbst grenzverletzend zu verhalten, als andere Berufsgruppen. In unseren Interviews sind uns somit auch Erzählungen begegnet, die sexuell übergriffiges Verhalten/sexualisierte Gewalt in der systemischen Welt zum Thema hatten.

Dr. Marie-Luise Conen über sexuelle Belästigung in Weiterbildungen
Marie-Luise Conen: ≫Ich hatte mich wegen einer Weiterbildung erst für ein anderes Institut interessiert. Aber da hat mir nach einem Einführungsseminar der
Dozent nicht zugesagt. Das war einer, bei dem man sich als Frau unwohl fühlte. Einer der dich auszieht, wenn er dich anschaut. Ich weiß nicht, ob du weißt, was ich damit meine. Aber es war da, ständig wurden wir drei attraktive Frauen in sein Spiel gezogen. Da war klar, wenn der die Gruppe macht, dann mache ich bei dem Institut nicht die Weiterbildung. Und hab mich dann gegen dieses Institut entschieden und bin zu einem anderen Institut gegangen. Aber nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass eine nach der anderen der gutaussehenden Frauen wegblieb, und bei der vierten habe ich zu meinen zwei Freundinnen, die ich inzwischen in dem Kurs gefunden hatte, gesagt: ›Hier stimmt was nicht‹. Später fanden wir unsere Annahme bestätigt. Ich habe einen der Dozenten gefragt, wieso dieser Leiter eigentlich immer noch eingeladen wurde. Und dann hat er doch echt zu mir gesagt: ›Ja, wir passen jetzt immer auf ihn auf. Er wird jetzt nur noch privat untergebracht, nicht mehr im Hotel, da haben wir ihn unter Aufsicht‹ […].≪ (Dr. Marie-Luise Conen im Interview mit Petra Lahrkamp und Nikola Siller, 2022).

Die Themen sexualisierte Gewalt, Übergriffigkeit und Machtmissbrauch sind bisher innerhalb der systemischen Community nie aufgearbeitet worden.
Die systemischen Dachverbände haben zwar eine Beschwerdestruktur entwickelt
und Ethik-Räte eingerichtet. Trotzdem gelangen sehr wenige solcher Vorfälle in diese
Strukturen. Das Gleiche gilt für Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Auch
diese Erlebnisse werden nicht öffentlich gemacht. In persönlichen Kontakten erklären verschiedene Menschen, die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen machen, immer wieder, dass sie befürchten, nicht ernst genommen zu werden, Vertreterinnen in diesen Gremien sie vermutlich nicht verstehen und dadurch ihre Situation eher schlimmer wird. Und natürlich darf nicht vergessen werden, dass es hier auch immer um Macht geht. Wenn mächtige Menschen übergriffig werden, fällt es den weniger mächtigen Menschen, die ja hier sehr deutlich Ohnmacht erleben, nicht leicht, diese vielleicht sogar prominenten Menschen anzuzeigen, sich zu beschweren und diese zu beschuldigen. Deswegen benötigen wir zum einen Netzwerke, an die sich Menschen, die Übergriffe erleben, wenden können. Zum anderen benötigen wir eine Awareness-Kultur: Die systemische Gemeinschaft muss die eigenen Tabus deutlich benennen und sich nicht allein auf Grundlage von Ethik-Richtlinien gegen Grenzverletzungen aussprechen. Es geht auch darum, darüber zu sprechen, dass es diese Geschehnisse tatsächlich gibt und im täglichen Miteinander dafür zu sorgen, dass diese nicht passieren. Auch haben wir als Lehrende Verantwortung gegenüber den Teilnehmenden in Weiterbildungen und Ausbildungen, die teilweise ihre Praxisstunden freiberuflich anbieten und in den sozialen Medien für sich und ihre Dienstleistung werben. In Seminaren müssen Räume angelegt und geöffnet werden, in denen Sorgen vor Grenzverletzungen und Erleben von Übergriffigkeit besprochen werden können. Dazu braucht es einen sicheren Rahmen und Gendersensitivity [1] – und sicherlich keine zusätzliche sexualisierte Belästigung durch »flirtiges Verhalten« von Dozenten. Die Rolle der Coachin oder Berater*in sowie die Möglichkeiten und Techniken der Abgrenzung und Selbstsorge müssen erlernt werden. Insbesondere
Menschen, die weiblich sozialisiert wurden und damit oft auch eine introjizierte Erwartung von »Gefälligkeit« mitbringen, brauchen Empowerment; die systemische Community benötigt eine gemeinsame und klare Problembeschreibung. Es ist sehr wichtig, für grenzachtenden Umgang zu sensibilisieren und Schutztechniken zu kennen.

[1] “Der Begriff ≫Gender sensitivity≪ stammt von der US-amerikanischen feministischen Familientherapeutin Betty Carter. 1987 auf einem Familienkongress am Weinheimer Institut hielt sie dazu einen Vortrag (Rücker-Embden-Jonasch u. Ebbecke-Nohlen, 1992, S. 10. )“ zitiert nach Kuhnert u. Siller, 2025 S. 257.

Tanja Kuhnert und Nikola Siller

Es ist vollbracht!

Unser Podcast geht online!

Mit diesem Podcast möchten wir Frauen würdigen, die einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des systemischen Ansatzes geleistet haben, aber zum Teil bis heute nur wenigen Menschen bekannt sind. Wir präsentieren auch prominente Frauen, die darüber sprechen, wie es ihnen gelungen ist, ihren eigenen Weg zu gehen und Karriere zu machen.

Hierüber geht es zum Podcast!

Ein Buch kommt in die Welt.

Es war im Jahr 2018 als Nikola Siller und ich uns gegenseitig die Frage stellten, über welche Frauen wir als Lehrende in systemischen Weiterbildungen sprechen, wenn es um die Anfänge der Familientherapie in Deutschland und die Entwicklung des Systemischen Ansatzes geht.

Uns fielen nicht viele Frauen ein: Virginia Satir, Mara Selvini Palazzoli, Insoo Kim Berg…. Wir gingen unzufrieden mit unseren eigenen Antworten in die Welt und befragten Kolleg*innen. Auch da gab es keine wirklich weiterführenden Antworten.  In Gesprächen mit weiblichen Kolleginnen wurde deutlich, dass es eine allgemeine Unzufriedenheit mit dieser Geschichtserzählung zum systemischen Ansatz gibt. Über 80% der Teilnehmenden in systemischen Weiterbildungen sind weiblich oder divers. Über 80 % der Mitglieder in systemischen Verbänden sind weiblich oder divers. Ein sehr großer Teil der systemischen Praktiker*innen sind weiblich oder divers. Ein Blick in die systemische Standardliteratur zeigt, dass diese überwiegend von Männern geschrieben wird und darin sich auch überwiegend auf Männer als Protagonisten der systemischen Entwicklung bezogen wird.

Diese Erkenntnis spornte uns an, auf die Suche nach den Frauen in der systemischen Welt zu gehen. Wir starteten mit der Suche nach der weiblichen Seite der Systemik. Daraus wurde ein umfangreiches Projekt mit vielen verschiedenen Bausteinen.

Im Jahr 2022 entstand dieser Blog. Er möchte eine Möglichkeit bieten, weiblich gelesene Personen aus der systemischen Welt sichtbarer zu machen. Daneben möchte das Redaktionsteam, Perspektiven auf die Welt, das Leben, systemische Diskurse und beraterisch/therapeutische Arbeit aufzeigen stellen, die wir als andere Lesarten zur Verfügung stellen möchte. Wir definieren diese in der Regel als weiblich und sparen aber dabei weiblich-intersektionale Perspektiven nicht aus.

Es entstand ein weiblich-systemisches Netzwerk: Das Rote Sofa. Über 30 Systemikerinnen aus dem deutschsprachigen Raum, zwischen 30 und über 70 Jahren, aus verschiedenen systemischen Arbeitsfeldern, mit unterschiedliche Biografien, Berufen und Bildungswege treffen sich regelmäßig zum Austausch und zur Vernetzung. Wir verstehen uns als Mentoring und Empowerment  Kreis, der sich auch politisch engagiert.

Im Laufe der Auseinandersetzung mit unseren oben genannten Fragen entstand das Bedürfnis, Pionierinnen persönlich zu interviewen. Wir wollten Erzählungen und damit Zeugnisse sichern und insbesondere jüngeren Generationen zugänglich machen. Die beiden systemischen Verbände DGSF e. V. und SG e. V. unterstützen uns dabei, dies möglich zu machen. Daraus entsteht gerade ein Podcast, der ab November 2024 hier auf diesem Blog veröffentlich werden wird. Acht Kolleginnen konnten wir bereits interviewen.

Die einzige Idee, die wir noch nicht weiterverfolgen konnten, ist es die Sichtbarkeit von Systemikerinnen auf Wikipedia zu erhöhen. Siehe hierzu Artikel von Anne Gemeinhardt vom 30.08.2024 auf diesem Blog.

Der Rahmen für all diese Bausteine bildet das Buchprojekt, an dem wir seit 2019 arbeiten. Günter Presting und Sandra Englisch vom Vandenhoeck und Ruprecht Verlag unterstützten von Anfang an unsere Idee zur weiblichen Geschichte der Systemik und ermutigten uns dazu, das Buch zu schreiben. In der Folge sprachen wir Mit-Autor*innen an, recherchierten nach Pionierinnen, führten Gespräche und Interviews und begannen selbst zu schreiben. Nun befinden wir uns in der finalen Phase! Zum Ende diesen Jahres wird das Buch im Vandenhoeck und Ruprecht Verlag erscheinen. Schon lange ist es nicht mehr ein Buch, welches allein die Geschichte der Systemik um die Beiträge von Frauen ergänzt. Es ist ein feministisches Buch geworden. Wir verstehen Feminismus heute als

„(…) kritisches Wissen über die gesellschaftliche Realität von Frauen, Mädchen und von der Geschlechterordnung marginalisierter Menschen über die Barrieren, mit denen sie konfrontiert sind, mit denen wir konfrontiert sind und auch über Strategien, wie diese Barrieren überwunden worden sind in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Feminismus besteht für [uns] deswegen auch im Wesentlichen aus kollektiv abgestimmten, kollektiv entworfenen Handlungsstrategien aus Praxen der Freiheit und der Selbstbestimmung. Und zum Schluss besteht für [uns] Feminismus aus solidarischem Handeln, nämlich ein Handeln, was darauf ausgerichtet ist, andere Mädchen, junge Frauen, von der Geschlechterordnung marginalisierte Menschen zu schützen und ihnen die Verfügung und die Selbstbestimmung über ihr Leben und ihren Körper zu ermöglichen. (…) Feminismus besteht für [uns] aus einer intersektionalen Rassismus-Kritik, einer intersektionalen Sexismus-Kritik, einer intersektionalen Klassismus-Kritik und einer intersektionalen Ableismus-Kritik (Auma, 2024)“.

In diesem Sinne ist das Buch Systemik, die – Feministische Perspektiven Systemischer Theorie und Praxis, ein Buch, welches einerseits einen intensiven Blick in die systemische Geschichtserzählung wirft und dabei Frauen in den Fokus der Entwicklung des Ansatzes stellt. Das Buch knüpft aber auch an frühere feministisch-intersektionale systemische Diskurse der 1970er bis 90er Jahren an und führt diese zu aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen weiter. Das Buch bietet theoretisch fundierte und praxisorientierte Auseinandersetzungen zu aktuellen beraterisch/therapeutischen Themen an:  Unter anderem zu Gendersensibilität in der Paartherapie, in der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie und im Berufswegcoaching, in der Beratung im Kontext von Migration und im klinischen Kontext; es werden intersektionale Fragen in Beratung und Therapie, Trans- Inter- Realitäten in systemischer Weiterbildung sowie Rassismus in der Systemischen Beratung und noch vieles mehr thematisiert. Das Buch setzt sich mit dem Patriachat als stabilem Ordnungsmuster unserer Gesellschaft auseinander und zeigt psychosoziale Phänomene auf, die es hervorbringt und begünstigt und die auch in der Systemischen Beratung und Therapie spürbar und sichtbar sind. Daneben erwartet die Leser*innen wiederentdeckte und neue praktische Ansätze für eine feministisch-intersektionale Systemische Beratung sowie Modelle und Übungen für eine machtsensible Praxis. Das Buch ist eine kritische Auseinandersetzung mit theoretischen systemischen Diskursen und bietet einen fundierten und anregenden Einblick in eine intersektionale systemische Praxis und zugleich eine durch Interviewsequenzen lebendig werdende, zum Teil sehr persönliche Reise in die Vergangenheit des systemischen Ansatzes.

Wir danken allen Unterstützer*innen, den Interviewpartnerinnen und Autor*innen sowie dem Verlag! Ohne euch alle hätten wir dieses Werk nicht erschaffen können!

Der Link zum Buch: https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/detail/index/sArticle/59194

Quellen:
Prof. Dr. Maisha Auma, Gastprofessorin für Intersektionale Diversitätsstudien an der Technischen Universität Berlin am 01.03.2024 via Bundeszentrale für politische Bildung im Interview zum Black History Month 2024 via Instagram.

Feminismus in der Familientherapie Teil 2

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Zunächst habe ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (Hrsg., 1991) vorgestellt und möchte nun auch auf „Frauen und Macht“ von Thelma Jean Goodrich (Hrsg., 1994) verweisen.

Während des Lesens bemerkte ich wieder eine deutliche Aufregung: Wir sind nicht die ersten! Feministische Praxis in der Familientherapie ist nichts Neues und hat ihren Anfang auch sicher nicht erst in den 1990ern genommen. Die Autorinnen der Beiträge beschäftigen sich mit einem vermeintlich unbequemen Thema: Macht. Dabei setzen sie sich im ersten Teil mit Erscheinungsformen, Bedeutungen und Auswirkungen von Macht in einem patriarchalen System auseinander. Es folgen Ausführungen zu „weiblichen“ und „männlichen“ Zugängen zu Macht, Problemkomplexen und Ansätzen in der klinischen Praxis sowie den Auswirkungen auf die persönliche systemische Praxis.

Für einen konkreten Einblick möchte ich einige Autorinnen selbst zu Wort kommen lassen:

„Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage ist nicht nur peinlich, sondern lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

„Wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, einer Frau zu helfen, ihre persönlichen Möglichkeiten stärker einzufordern und wahrzunehmen, sei dasselbe, wie ihr zu helfen Macht zu besitzen. […] Ich halte es für unumgänglich, meine Arbeit mit meinen Klientinnen im Kontext einer patriarchalen Gesellschaft zu sehen und Therapie nicht mit einer Veränderung des Kontexts selbst zu verwechseln. […] Wenn ich den patriarchalen Kontext so verändern will, dass Frauen effektiv Macht besitzen […], muss ich mich außerhalb der Therapie politisch betätigen.“ (J.M. Avis)

„Es scheint klar, dass sich eine Gruppe, die sich als dominanter Teil der Gesellschaft herausgebildet hat, kein Interesse daran hat, ihre Fähigkeiten zur Ermächtigung anderer weiterzuentwickeln. Eine solche Gruppe würde vielleicht nicht einmal zugeben, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt. Aber es gibt sie. Frauen und einige Männer praktizieren sie seit Jahrtausenden. Vor uns liegt die Aufgabe, Wege zu finden, um diese wertvolle Fähigkeit in eine wechselseitig bereichernde Aktivität zu verwandeln“. (J.B. Miller)

„Das angebliche Leiden der Co-Abhängigkeit brandmarkt Frauen als krankhaft, weil sie genau die Züge aufweisen, die von der Gesellschaft als angemessenes weibliches Verhalten eingestuft werden. Da Frauen in diesem Kulturkreis dazu erzogen werden zu glauben, dass es richtig ist, im Dienste anderer zu leben und falsch selbst im Zentrum ihres Lebens zu stehen, ist es wohl kaum fair, ihnen jetzt zu sagen, dass sie krank seien, weil sie genau das tun, was ihnen antrainiert wurde.“ (C. Rampage)

„Nur wenn der Therapeut oder die Therapeutin die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und biologischen Zwänge, denen das Leben und Verhalten von Frauen unterliegen, wirklich versteht, kann er oder sie ermächtigend wirken.“ (J.M. Avis)

„Wenn Ehetherapie es versäumt, den wirtschaftlichen Kontext der Ehe und ihr Machtgefüge zu ergründen, lässt sie einen wesentlichen Punkt außer Acht, denn dieser bestimmt das Recht, die Bedingungen der Partnerschaft auszuhandeln und die Freiheit, die Beziehung notfalls zu beenden.“ (M. McGoldrick)

„Ich hoffe, dass die Familientherapie zu einer Kraft werden kann, die Männern und Frauen mehr Raum gibt für ihre eigene Art, sich mit ihrem Lebenspartner und ihren Freunden verbunden zu fühlen, wie auch mit ihrer Arbeit, der Gemeinschaft, in der sie leben, und anderen Generation umzugehen.“ (M. McGoldrick)

Feminismus in der Familientherapie Teil 1

Auf der Suche nach kritischer Auseinandersetzung mit systemischen Konzepten bin ich auf zwei interessante Bücher gestoßen, die ich als emanzipatorische Praxis innerhalb der systemischen Therapie und Beratung interpretiere.

Als erstes möchte ich „Feministische Familientherapie in Theorie und Praxis“ von McGoldrick, Anderson und Walsh (1991) kurz vorstellen. Das zweite folgt in einem meiner nächsten Beiträge.

Zu Beginn wird die These aufgestellt, dass die Familientherapie bis heute (und das gilt sicher auch nicht nur für die 90er, sondern darüber hinaus) einer patriarchal bestimmten Perspektive verhaftet bleibt. Untermalt wird diese Hypothese durch Beiträge mehrerer Autor*innen zu verschiedenen Themenbereichen und Fragestellungen:

  • Zur Entwicklung systemischer Konzepte. Dabei wird die Arbeit gewürdigt und gleichzeitig die Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht bzw. Gender kritisch diskutiert.
  • Machtungleichheiten entlang von Klasse, race, Gender und Alter im Sinne von Hierarchien, die im theoretischen systemischen Diskurs unterbetont bleiben
  • Im Rahmen einer Falldarstellung aus feministischer Perspektive
  • Gedanken zu einem feministischen Modell in der systemischen Ausbildung
  • Analyse vermeintlich geschlechtsspezifischer Merkmale im Beratungskontext
  • Und weitere.

Dabei wird deutlich, welche Problematik eine Vernachlässigung dieser Perspektive mit sich bringt: Kontexte, in denen sich Frauen* bewegen, können weder ausreichend verstanden noch gewürdigt werden. Versteckt scheint dieses Hinwegsehen z.B. hinter einem reduzierten Verständnis von Neutralität und Zirkularität.

Außerdem schwingt in den Beiträgen immer wieder die Frage mit, wer Theorie entwickelt und damit auch aus welcher Perspektive. Oft scheint (auch in anderen Zusammenhängen) die (cis-) männliche Perspektive als vermeintlich neutral und objektiv zu gelten. Das gilt es zu hinterfragen und dazu entwickeln die Autor*innen dieser Publikation schon 1991 (!) spannende und inspirierende Zugänge.

Gleichzeitig bleibt beim Lesen und Entdecken dieser vielfältigen und langjährigen feministischen Tradition in der Familientherapie ein bitterer Beigeschmack. Ohne intensive Suche wäre ich nicht auf sie gestoßen und frage mich, warum diese Analysen scheinbar immer noch nicht in dem Maß ernst genommen werden, dass sie im breiten Diskurs ankommen. Im systemischen Sinne: Was braucht es noch…? Wahrscheinlich weiterhin eine kämpferische Haltung und Hartnäckigkeit, da voraussichtlich niemand freiwillig Platz machen wird.

Männer fürs Feine, Frauen für Grobe?

Im Rahmen unseres Interviewprojekts „Pionierinnen des systemischen Ansatzes“[1] führen wir zahlreiche Gespräche mit Frauen über 70 Jahren und älter. Wir gehen u. a. in unseren Gesprächen der Frage nach, wie es dazu kam und auch heute immer noch kommt, dass der überwiegende Teil der Publikationen im systemischen Feld von Männern veröffentlicht wird.

Dabei habe ich immer wieder die gleiche Geschichte gehört. Die Frauen berichten, dass die Arbeit mit Menschen ihnen viel wichtiger war. Das Schreiben war nicht interessant für Sie.

Im Laufe des Gesprächs wurden aber meiner Wahrnehmung nach andere Dynamiken deutlich.

Die eine Interviewpartnerin war Frau eines einflussreichen Mannes, selbst promoviert als Psychologin, war sie doch lange Zeit eher Begleiterin ihres Mannes und Mutter der gemeinsamen Kinder. Sie suchte sich einen Bereich aus, der sich von dem Einflussbereich ihres Mannes unterschied. Er, der Forscher, der sich eher für die wissenschaftliche Weiterentwicklung des systemischen Ansatzes interessierte und gemeinsam mit anderen Männern Konzepte veröffentlichte, Vorträge hielt und Bücher schrieb. Sie spezialisierte sich auf die praktische Entwicklung der Biografie- und Herkunftsarbeit und wurde hierin Expertin.

Eine weitere Interviewpartnerin war ihrerseits auch promoviert und arbeitete an einer Hochschule. Als sie das erste Mal im systemischen Feld einen Artikel veröffentlichen wollte, wurde dieser von einem männlichen Redakteur abgelehnt. Einige Monate später erschien von ihm ein Artikel zu einem ähnlichen Thema. Diese Frau hat in der Folge nichts im systemischen Feld veröffentlicht.

Aus unterschiedlichen verbalen Quellen höre ich häufig ähnliche Geschichten über weitere Frauen. Es wird berichtet, Frauen haben erlebt, ihr Sprachstil sei nicht wissenschaftlich genug, ihre Themen nicht interessant oder relevant genug. So wurde und wird Frauen der Weg versperrt sich zu Wort zu melden und ihr Wissen und Können zur Verfügung zu stellen.

Mir scheint, so entschlossen sich zahlreiche Frauen und wichtige und hochkompetente Familientherapeutinnen, im Hintergrund zu bleiben und „nah am Menschen“ zu sein. Es ist unbenommen, dass sie dort eine inspirierende und für viele Menschen persönlich sehr wichtige Arbeit getan haben. Damit haben sie sich auf ein Terrain begeben, in dem Eigenschaften, die traditionell Frauen zugesprochen werden, wichtig und notwendig sind: ein Gespür für Menschen haben, empathisch und einfühlsam sein, Anteil nehmen, Beziehungszusammenhänge erspüren können, Muster und Dynamiken erkennen und erahnen u. a. Jedoch diese Fähigkeiten lassen sich nur schwer empirisch und randomisiert beforschen. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie ihre Fähigkeiten in den Entwicklungsdiskurs des systemischen Ansatzes hätten einspeisen können. Möglicherweise hätte der systemische Ansatz dann nicht bis vor kurzem den Ruf gehabt, zu stark kognitiv und zu wenig emotional und körperorientiert zu sein. Diese Frauen haben schon immer alle menschlichen Resonanzfelder in ihre Arbeit mit einfließen lassen und dadurch ein ganzheitliches Verstehen von Beziehungen, Eingebundensein und Veränderung ermöglicht!

Noch heute wird für den Diskurs im systemischen Feld nur eine bestimmte kognitive, häufig systemtheoretische (luhmansche) Auseinandersetzung als gehaltvoll und fundiert angesehen. Insbesondere von Frauen wird dies als zu distanziert und als zu wenig mit dem realen Leben zu vereinbarende Perspektive kritisiert. Vermutlich stimmt weder das eine noch das andere. Aus meiner Sicht wäre es systemischer (sowohl-als-auch), wenn der Diskurs von verschiedenen Perspektiven und Protagonist*innen bestimmt würde. Wer den Diskurs bestimmt, hat Macht. Zentralisierte Macht ist ausschließend und verengt Perspektiven, fördert Linearität – wir benötigen aber komplexere und damit ganzheitlichere Denk- und Handlungsweisen.

Ich wünsche mir sehr, dass wir die Arbeit dieser Pionierinnen nicht länger abwerten als emotionale Biografiearbeit im Hinterzimmer und würdigen als das, was sie schon immer war: Die wichtigste Arbeit, die Menschen für sich tun können: Der eigenen Biografie begegnen und sich mit ihr befrieden. Dafür brauchen wir Zugang zu unseren Emotionen und Resonanzen und nicht zu Theorien und Studien.

Tanja Kuhnert  


[1] Das Projekt produziert Audio- und Videointerviews mit Frauen, die den systemischen Ansatz maßgeblich mit entwickelt haben. Sie selbst sind häufig in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung getreten und nur einem überschaubaren Kreis von Menschen bekannt. Heute zum Teil sehr bekannte und wichtige Persönlichkeiten haben bei diesen Frauen gelernt und ihre Ideen und Konzepte in ihre Arbeit einfließen lassen. Das Projekt wird von DGSF e. V. und SG e. V. finanziell unterstützt. Die Ergebnisse werden ab 2024 der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Maria Mies und die Fernsehserien

von Gila Klindworth

„Deine Methoden sind, gelinde gesagt, esoterisch.“ Das war der Kommentar meiner „Doktormutter“ zu meinem methodischen Vorgehen in meiner Dissertation. All die Arbeit, die ich darauf verwandt hatte, es methodologisch zu fundieren, war vergeblich – meine Betreuerin ließ mich nur deshalb gewähren, weil sie das Thema spannend und meine Ergebnisse wohl zumindest als explorative Studie nicht ganz daneben fand.

Feministische Forschung zu Lateinamerika bestand zumindest in der Soziologie bis weit in die achtziger Jahre darin, die Situation der Frauen empirisch-quantitativ zu erforschen und mittels Statistiken zu präsentieren. Standardisierte Vorgehensweisen bei qualitativen Untersuchungen entwickelten sich gerade erst. Doch das kümmerte mich nicht.

Die Initialzündung zu meinem eigenwilligen Vorgehen waren die „Postulate der Frauenforschung“ von Maria Mies, die ich Mitte der achtziger Jahre kennenlernte. Während meines Studiums des Nebenfachs Psychologie (Hauptfach Erziehungswissenschaften) hatte ich mich mit den behavioristischen Ansichtsweisen mehrerer Lehrender (ohne _innen) abgemüht und dachte, das ist überholt und da wird sich bald einiges ändern (wie man sich täuschen kann). Die Thesen von Maria Mies fand ich erfrischend und wegweisend und sie prägten mich sehr für mein Forschungsprojekt, das ich wenige Jahre später in Mexiko durchführte. Zusätzlich nahm ich einige Anregungen aus der Arbeit der Ethnologin Maya Nadig auf (Die verborgene Kultur der Frau. Ethnopsychoanalytische Gespräche mit Bäuerinnen in Mexiko. Frankfurt a.M. 1986).

Mein Forschungsthema waren die mexikanischen Telenovelas, ein Serienformat, das sich von den Soap Operas erheblich unterscheidet, weil die Geschichten einen Anfang und ein Ende (nach etwa einem halben Jahr) haben, so dass eine ganz andere Dramaturgie möglich wird. Die Telenovelas interessierten mich eigentlich gar nicht so sehr, aber weil sie im Leben von Frauen einen nicht wegzudenken Teil des Alltags darstellten, wollte ich mich mit den Zuschauerinnen über sie unterhalten und auf diese Weise mehr über weibliche Alltagskulturen von Frauen in Mexiko erfahren. Ich hatte vorher in Deutschland meine pädagogische Arbeit mit Frauen und ihrem Älterwerden reflektiert und war gespannt auf die Vergleiche zwischen einem Land, das bereits erhebliche kulturelle Modernisierungen erfahren hatte, und einem Land, das zwar vielen modernen Einflüssen ausgesetzt, in dem die vorherrschende Kultur aber noch sehr traditionell geprägt war.

Die Thesen von Maria Mies waren zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung provokativ. Aus heutiger Sicht mag man sie für überholt und ideologisch halten. Sie selber bezeichnete sie als Anreiz und Einladung zur Methodendiskussion. Und das fand ich anregend.

Sie postulierte bewusste Parteilichkeit und Abschied von Wertfreiheit und Neutralität. Sie forderte die Reflektion der blinden Flecken und der subjektiven Wahrnehmungsverzerrungen im methodischen Vorgehen, um zu einer „wirklich objektiven Erkenntnis“ zu gelangen. Die vertikale Beziehung sollte die Verzerrung der Ergebnisse durch sozial erwünschte Antworten vermeiden, vor allem aber sollte dadurch Forschung ermöglicht werden, die den Beforschten letztendlich zugutekommt, anstatt als Ergebnis womöglich mehr statt weniger Benachteiligung herbeizuführen. Und schließlich postulierte sie eine Aktionsforschung, die sich dessen gewahr ist, dass Forschung immer schon Impulse in das beforschende System gibt durch die bloße Anwesenheit und die Beobachtungen und Fragen der Forschenden. „Um ein Ding kennenzulernen, muss man es verändern.“ Doch darüber hinaus solle die Forschung die Beforschten sehr bewusst befähigen. Der „Forschungsgegenstand“ sei nicht statisch, sondern könne dynamisch und widersprüchlich erfasst werden.

Maya Nadig wie darauf hin, dass sie durch ihre Anwesenheit in einem mexikanischen Dorf Teil des zu beforschenden Systems wurde und Irritationen auslöste, die ihr halfen, Einblicke in die dortige Kultur zu gewinnen. Neben der Beobachtung verstand sie Einfühlung und Identifikation als wichtige Mechanismen zum Verstehen. Sie wies auf ihren eigenen Kulturschock hin, den sie als wichtiges Mittel zur Erkenntnis betrachtete. Sie beschrieb dies als Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur. Schließlich orientierte ich mich an Steger und Berger/Luckmann (Klindworth, G. 1995: Ich hab so schön geweint. Telenovelas in Mexiko. Breitenbach: 35): „Mit der Integration der Äußerungen einer anderen Wirklichkeit in die eigene Sprache wird diese der eigenen Sinnwelt einverleibt und bleibt unerkannt.“ Ich wollte die Kommunikation als eine sehr ungleiche, aber gleichwohl sich gegenseitig bedingende betrachten und wollte untersuchen, wie diese Kommunikation stattfand. Ich hatte es bei meiner Forschung mit einem tief in den Alltag der Frauen verwobenen, unhinterfragtem Erleben zu tun – einer täglichen Kommunikation mit Fernsehgeschichten und ihren Figuren. Ich wollte die Binnenrationalität der Handelnden verstehen und nicht so tun, als könnte ich allein aus der Beobachtung bzw. aus standardisierten Verfahren gewonnene Informationen Beschreibungen von außen mit dem Anspruch einer objektiven Forschung vornehmen.

Bei meinem Aufenthalt in Mexiko realisierte ich verschiedene Vorhaben. Ich führte vor allem Gruppeninterviews mit Frauen durch, zum einen explizit zum Thema Telenovela, zum anderen über ihre Wirklichkeitskonstruktionen vor ihrem spezifischen kulturellen Kontext. Und ich ging sehr bewusst nicht in die Hauptstadt, um nicht dort in migrantischen Kreisen in meiner eigenen Blase zu landen, sondern ich ging in die Provinz, um an dem alltäglichen Umgang mit den Menschen und der unausweichlichen Berührung mit der mexikanischen Alltagskultur Erkenntnisse zu gewinnen. Letztere waren viele Erkenntnisse über mich: Was ich als Deutsche gewohnt bin, was ich brauche, wie ich Äußerungen aus einer anderen Kultur lese und wo ich mit meinen eingeübten Verhaltensweisen und Erwartungen scheitere. „Die ForscherInnen müssen sich so weit auf die Lebenswirklichkeit der fremden Kultur einlassen, daß sie das Risiko eingehen, daß ihr eigner lebensweltlicher Horizont nicht mehr zur Deutung und Abpolsterung ausreicht, sondern zusammenbricht.“ (Klindworth: 35) Und durch die von Maya Nadig beschriebene Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur versuchten meine Gesprächspartnerinnen und ich gemeinsam, Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer kulturellen Hintergründe herauszuarbeiten. Die doppelte Kontingenz von Kommunikation wird reflektierbar gemacht.

Ein verblüffendes Ergebnis meines Forschungsaufenthaltes war dann für mich, wie ich im Grunde genommen durch meine bloße Anwesenheit Impulse auslöste, die einige Leben veränderten. Im einen Fall hatte ich eine mehrtägige Veranstaltung mit einer sehr gemischten Gruppe von Menschen über Telenovelas, in der ich eigentlich sie befragen wollte, doch die Teilnehmenden sagten, sie hätten kaum oder gar keine Erfahrungen mit Telenovelas und wollten mehr darüber erfahren. Also überlegten wir, dass wir eine „klitzekleine Feldforschung“ unternehmen und losgehen könnten, um jeweils selber Zuschauerinnen zu befragen. Nach ein paar Tagen kam eine Teilnehmerin – eine Frau mittleren Alters, die „Hausfrau“ war –euphorisch zurück und berichtete mit leuchtenden Augen, wie sie über die Fragen zu Telenovelas mit völlig fremden Menschen ins Gespräch gekommen war und diese ihr ihr Herz ausgeschüttet hatten.

Eine andere Frau erzählte mir Jahre später, dass ich bzw. die Art, wie ich dort lebte und die Gespräche, die wir miteinander über unterschiedliche Herangehensweisen an Beziehungen führten, ihr den maßgeblichen Impuls gegeben habe, sich aus ihrer unglücklichen Ehe zu lösen.

Was das mit Systemik zu tun hat? In den siebziger und achtziger Jahren wuchs eine Skepsis an der Vorstellung, dass die Forschung Phänomene angemessen beschreiben könne. Maria Mies hat sowohl die methodologischen Probleme thematisiert als auch die Frage, für welche Zwecke eigentlich geforscht wird. Auch wenn nicht von der Kybernetik 2. Ordnung die Rede war, wurden die Beobachterin und ihr Anspruch kritisch beobachtet und hinterfragt. Ich hatte damals die Hoffnung und die Erwartung, dass die Forschenden diese Auffassung zunehmend in ihre Arbeit integrieren würden. Umso erstaunter war ich Jahre später, dass selbst in den von Systemiker_innen vorgenommenen Forschungen die qualitativen Projekte zwar einen Platz bekamen, aber die quantitativen Vorgehensweisen den größten Raum einnahmen und wenig vor dem Hintergrund eines systemischen Blicks auf die Konstruktion von Wirklichkeit diskutiert und hinterfragt wurde und wird. Liegt es „nur“ daran, dass man in der Wissenschaftswelt akzeptiert und ernst genommen werden möchte? Ich habe nicht herausgefunden, wie der systemische Ansatz mit solch einem Forschungsverständnis nachvollziehbar zusammengebracht werden kann.