Beim Hören des Interviews mit Satuila Stierlin wird mir deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, aus heutiger Perspektive nachzuvollziehen, wie es Systemikerinnen vor 50 Jahren ergangen ist. Es lässt sich vielleicht indirekt aus den Aussagen von Satuila Stierlin herauslesen. Meine Phantasie ist folgende:
Viele Frauen (und auch Männer), die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, hatten so sehr verinnerlicht, dass „Kinder – Küche – Kirche“ ihre Aufgabe war, dass nur wenige von ihnen auf die Idee kamen, das infrage zu stellen. Wer Anfang des Jahrhunderts geboren wurde, hatte in Deutschland während des Krieges vielleicht schon eher die Erfahrung gemacht, dass sie als Frau außer Haus arbeiten konnte. Aber diese Frauen sollten „zurück an den Herd“. Es gab kaum Vorbilder, die andere Lebensformen zeigten. So verstehe ich Satuila Stierlin, wenn sie im Interview davon spricht, dass sie nach ihrem USA-Aufenthalt in Heidelberg und der sehr mühsamen Suche nach Freundinnen mit diesen erst einmal Ideen entwickeln und ausprobieren musste, wie die klassische Frauenarbeit so reduziert werden konnte, dass genug Raum für Berufstätigkeit blieb. Satuila Stierlin beschreibt es als „rührend“, wie ihr Mann, der Professor, erst lernen musste, wie man einen Küchentisch abwischt. Nur weil er sich Mühe gab und sie darüber im Gespräch blieben, konnten sie einen Weg bahnen, der auch ihr erlaubte, sich für ihre Berufstätigkeit Zeit zu schaffen.
Dann stelle ich mir noch vor, dass Psychotherapie eine absolute Nische für wenige Menschen war. Die „Redekur“ Psychoanalyse war gerade einmal 40 Jahre alt, Familientherapie in den Kinderschuhen.
Erst mit diesen Annahmen entwickelt sich ein Kontext, der sich fundamental von dem unterscheidet, in dem heute Frauen leben. Satuila Stierlin spricht von einer dramatischen Veränderung. In diesem ganz anderen Kontext entwickelte sie ihre Genogrammarbeit, aufbauend auf einigen Ideen von Virginia Satir und Monica McGoldrick.
Für uns sind das alles Selbstverständlichkeiten. Selbst ich, die ich Mitte der achtziger Jahre selber mit Frauen Bildungsarbeit machte, die in den dreißiger Jahren geboren waren, muss mich erst wieder hineindenken in diese andere Selbstverständlichkeit, die in den achtziger Jahren von uns damals jungen Frauen nicht mehr akzeptiert wurde. Es gab die Frauenbewegung, wir hatten „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir und andere Bücher gelesen. Und wir begaben uns Jahre später in „die systemische Welt“, die für uns schon da war und mittlerweile schier unübersichtlicher wurde.
Wir treten ein kostbares Erbe an und werden es hoffentlich würdig weiterentwickeln können.