Ich sitze mal wieder in der offenen Gesprächsgruppe in der Psychiatrie, die ich zwei Mal pro Woche alleine oder mit einem Kollegen führe. Heute bin ich allein und freue mich auf die Sitzung. Wir sind eine reine Frauengruppe. Auch wenn gemischte Gruppen ihre ganz eigene interessante Dynamik mit sich bringen, so genieße ich es ab und zu, einfach unter Frauen zu sein. Bzgl. des Alters und des Hintergrundes sind die Teilnehmerinnen sehr unterschiedlich und standen in vergangenen Sitzungen immer wieder vor der Herausforderung, der Lebenswelt der anderen näher zu kommen.
Eine der jüngeren Teilnehmerinnen ergreift das Wort und berichtet davon, was sie aktuell beschäftigt: Sie bemerke in ihrem Alltag, aber auch in der Gemeinschaft auf Station, dass es ihr schwerfällt, eigene Bedürfnisse bzw. Grenzen zu kommunizieren und damit für sich selbst zu sorgen. Andere Patientinnen melden sich sofort zu Wort. Ihnen gehe es ähnlich, und uns fällt auf, dass es auch in der Gruppe oft besonders harmonisch zugeht. Alle Anwesenden scheinen vorsichtig miteinander, wollen sich nicht auf die Füße treten und stellen eigene Bedürfnisse hintenan. Manchmal entsteht dann eine aufgeladene Stille, in der Dinge möglicherweise ungesagt bleiben.
Die Patientinnen überlegen gemeinsam, welche guten Gründe es für sie geben könnte, sich diesbzgl. zurückzuhalten. In diesem Sammelprozess platzt eine Patientin (die ich bisher als passives Mitglied erlebt und der ich eher konservative Ansichten unterstellt habe) plötzlich etwas lauter als alle anderen heraus: „…na ja, und als Frau!“ Ihr falle auf, dass es Männern leichter zu fallen scheint, für sich zu sorgen und dass an Frauen möglicherweise ganz andere Erwartungen herangetragen werden, die es zusätzlich erschweren, angemessen für sich einzustehen. Die anderen Teilnehmerinnen stimmen ein und berichten von eigenen Erfahrungen. Es entsteht eine belebte Stimmung und auf Anekdoten folgt oft verständnisvolles Lachen. Ein weiteres Gefühl macht sich breit: Wut! „Ja warum nehmen die sich das einfach raus?!“, aber auch „Warum nehmen wir uns das nicht einfach raus?!“
Ich kommentiere die entstanden Atmosphäre, benenne auch die Wut. Daraufhin antwortet die einbringende Patientin: „Das ist hier richtig feministisch!“ Es kommt ein gelöst erscheinendes Lachen auf. Nun wird darüber diskutiert, was es sich vielleicht von Männern abzuschauen lohnt und welche „Nebenwirkungen“ das in den Beziehungen der Patientinnen bringen könnte.
Dann ist es Zeit für die Abschlussrunde und die Teilnehmenden melden zurück, dass sie die Gruppe mit Energie und dem Gefühl von Gemeinschaft verlassen. Auch ich kehre beschwingt in mein Büro zurück. Ich freue mich darüber, dass es den Teilnehmerinnen gelungen ist, sich einerseits verständnisvoll und anerkennend zuzuwenden und sie sich gleichzeitig darin bestärkt haben, aktiv eigene Muster zu hinterfragen. Mich persönlich trägt außerdem ein besonderes Gefühl der Solidarität und Verbundenheit durch den restlichen Tag, die ich bisher nur so mit anderen Frauen erlebe. Außerdem Überraschung und ein selbstkritischer Blick auf meine Vorurteile: Denn einen feministischen Vibe habe ich an diesem Ort in dieser Form nicht erwartet.
