Schuld und Scham – ein Gastbeitrag von Lisa-Maria Walther

Systemisches Vorwort von Sarah Walther

Ich freue mich sehr, dass Lisa einen Gastbeitrag für unseren Blog geschrieben hat und möchte ihr für ihre Offenheit, Authentizität und die investierte Mühe herzlich danken.

Lisa und ich sind uns das erste Mal für meinen Podcast „Wer wir sind“ begegnet. Unser Gespräch hat bei mir viele Gedanken angestoßen und mich nachhaltig beeindruckt. Das Gespräch kannst du hier hören: https://www.sarahwalther.com/podcast/episode/db6fd3c8/wer-wir-sind-folge-55-mit-lisa

Mir wurde erneut bewusst, wie wertvoll das Wissen von Menschen mit eigenen Erfahrungen ist – ein Wissen, das wir als Therapeut*innen oft nicht in gleichem Maße besitzen. Die Berichte von Erfahrenden sollten wir als wichtiges Werkzeug für unsere Weiterbildung, als Lernquelle und als Schlüssel zur Entwicklung von echtem Verständnis betrachten.

Nachdem ich Lisas Artikel gelesen hatte, war mein erster Impuls: „Das können wir so nicht veröffentlichen!“ Warum? Weil ich den Auswirkungen meiner Sozialisierung als Frau erlag: Es darf nicht zu laut, zu wütend, zu aggressiv, zu anklagend und auf gar keinen Fall zu viel sein.

Mein erster Gedanke war, Lisa zu bitten, ihre Ausdrucksweise und Aussagen zu mildern – bis mir bewusst wurde, wie sehr mich dieser Gedanke selbst erschreckt. Als Therapeutin würde ich niemals auf die Idee kommen, meine Klient*innen zu bitten, sich anzupassen. Das entspricht weder meiner Haltung als Therapeutin, noch ist es mein Verständnis von Systemik! Im Gegenteil: Ich ermutige Frauen* in einem geschützten Raum ausdrücklich dazu laut, wütend und aggressiv zu sein.

Es ist ein Irrglaube zu denken, dass wütende, aggressive oder laute Botschaften weniger Gehalt haben. Gerade Frauen wird oft vermittelt, dass solches Verhalten unangebracht sei und ihnen dadurch weniger Gehör verschaffe. Doch die Geschichte lehrt uns, dass es genau diese lauten, wütenden und aggressiven Stimmen waren, die Veränderungen vorangetrieben haben. Ohne den Mut, laut und unbequem zu sein, wären wir heute nicht da, wo wir sind. Manchmal ist es genau diese Kraft, die uns endlich gehört werden lässt.

Lisas Artikel ist genau das – und das ist gut so!

Lisas Beitrag hat mich in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken gebracht und mich ermutigt, meine eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Ich hoffe, dass auch ihr beim Lesen ähnliche Erkenntnisse gewinnt und inspiriert werdet.

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Mai 2024, Lisa-Maria Walter

„Nimm doch einfach ab.“ Ein Satz, den ich als übergewichtige, weiblich gelesene Person zu oft gehört habe, als dass ich noch darauf reagiere, denn sie haben ja recht, oder? Nun reiß dich mal zusammen. Andere schaffen es doch auch. Wir, die Steuerzahler, baden das dann aus. Du denkst wohl, du bist was Besonderes und darfst dich gehen lassen? Mich gehen lassen. Klingt schön. Mich endlich gehen lassen. Nicht mehr 24/7 über mein Gewicht und das nachdenken, was ich esse? Aber es bestimmt meinen Alltag, meine Planung und mein Selbstbild. Wie oft ich durch meine Essstörung getrieben phasenweise annähernd nichts gegessen habe und deshalb sogar mehrmals ohnmächtig wurde. Kann halt nicht alles nach deinem Kopf gehen. Das war oft die Reaktion, wenn ich mich über jegliche Nachteile beschwert habe, die mir wegen meines Übergewichts widerfahren sind. Verständnis oder gar Empathie waren vor allem in meiner Jugend unvorstellbar. Ich sollte still sein, mich schämen und den Ball flach halten. Unter dieser Message habe ich lange gelitten und erst durch viel Therapie und meine Kunst verstanden, dass ich sehr wohl den Mund aufmachen darf. Sowohl zum Essen als auch zum Reden.

„Nimm ab.“ Oder: Du nimmst zu viel Raum ein. Du brauchst immer eine Extra-Wurst. Die bekam ich allerdings selten. Zum Beispiel als ich in meiner Gardetanzgruppe irgendwann nicht mehr in die traditionellen Kostüme passte und deshalb aufhören musste. Wenn ich meine Schulklasse beim Wandertag aufhielt und alle auf mich warten mussten und ich deshalb zum nächsten Ausflug nicht mehr mitdurfte. Oder weil sie mich im Sportunterricht nicht richtig zu bewerten wussten und ich alleine in die „Mukkibude“ sollte, dem fensterlosen Abstellraum mit ein paar Gewichten. Du willst doch nur Aufmerksamkeit. Dabei wollte ich doch nur im Boden versinken. Wenn ich mal wieder von allen Seiten abschätzig belächelt wurde, weil die Armlehnen der schicken Stühle mir Beine und Bauch einquetschten, oder wenn ich im Flieger nach einer Gurtverlängerung rufen musste oder wenn ich in der Achterbahn den Sitz vor aller Augen mit jemandem tauschen musste, weil Reihe 4 für die Fetten gedacht ist und nicht Reihe 11.

„Einfach“. Weil so schwer kanns doch nicht sein. Dein Leidensdruck ist anscheinend noch nicht groß genug. Du bist faul und undiszipliniert. Wenn du es wirklich willst, dann schaffst du es auch. Spuck es doch gleich wieder aus… oder geh einfach kotzen. Ich esse einfach die Hälfte… oder gar nichts, das geht noch schneller. Ich muss ja auch mal an meine Gesundheit denken. Nur noch Wasser – ja genau. Und dann jeden Tag drei Stunden Sport. Easy! Nur: wieso schaff ich das nicht dauerhaft? Wieso habe ich schon zweimal das Gewicht eines erwachsenen Menschen abgenommen und wieder alles draufgefuttert?

Im Wartezimmer bei meinem Arzt las ich mal, dass 93% der Diäten scheitern und zu Essstörungen führen können. Bei der Routineuntersuchung wurde ich dann grundlos gewogen und mir eine Diät empfohlen. Vielleicht meinte er die wunderbare 1500kcal Diät, auf welche ich jedes Mal ungefragt bei Krankenhausaufenthalten gesetzt wurde, obwohl hierbei sogar der Grundumsatz unterboten wird, was den seit Jahren schon bekannten Jojo-Effekt hervorruft. Oder als sie mir zu einem Magenbypass rieten, als ich grade volljährig geworden meine Mutter an den Krebs verloren hatte und Hilfe suchte. Oder als die Endokrinologin meinen Blutzucker augenzwinkernd falsch interpretieren wollte, um mir die Ozempic- Spritze zu verschreiben. Ein Diabetesmedikament, mit Gewichtsverlust als Nebenwirkung. Oder als mich mein Zahnarzt mitten in der Behandlung wegschickte, weil ihm nach zehn Jahren auffiel, dass ich für seine Behandlungsstühle zu schwer sei. Oder die Gynäkologin, die mir aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit eine zu niedrig dosierte Pille bei meinem Gewicht verschrieben hat. Glück gehabt, dass man als dick_fette Person eh weniger fruchtbar ist. Oder die vielen anderen Ärzte, die mir trotz ungeklärter Schmerzen „Nimm ab!“ rieten und mir dann doch irgendwann Rheuma diagnostiziert wurde.

Jeden Tag gehe ich da raus und muss mich wappnen. Manchmal sind es ungefragte Tipps aus dem Nichts, wie es damals in der Schwimmbaddusche die Frau mit dem Kohlsuppenrezept ja nur gut meinte. Oder als der Typ mit Bierbauch mir Soja-Eis empfohlen hat, wegen der Dehnungsstreifen. Oder die Frau, die mich

penetrant auf meinem Arbeitsweg von dieser OP überzeugen wollte. Oder der katholische Priester, der meinte, mich zu trösten, weil ich ja zumindest ein schönes Gesicht hätte. Nur schade um den Rest. Wenn ich mich im öffentlichen Raum bewege, bin ich eine Zielscheibe. Wenn mir HAHA, das arme Fahrrad! im Kopf dröhnt oder ich mich mit einer rollenden Straßenbahn vergleichen lassen muss, beeinflusst das meinen ganzen Tag. Wenn mich Leute wegen meines bauchfreien Tops bis zu meiner Haustüre verfolgen und beleidigen, dann macht mein innerer Saboteur weiter: Verschwinde! Du gehörst hier nicht her. Du sprengst das Raster, bist nicht willkommen. Nicht so wie du bist. Manchmal sind es aber nicht nur Übergriffigkeiten und Beleidigungen, die mich aus dem Nichts treffen, sondern auch mal eine Faust, die mir ein Jogger im Vorbeirennen, warum auch immer, ins Gesicht geschlagen hat.

Eigentlich müsste mich das alles doch entsetzen, was mir widerfahren ist, oder? Das Ding ist: In jeder dieser Situationen dachte ich als erstes: Ich habe es ja verdient. Es ist ja meine eigene Schuld, dass ich fett bin. Aber inwiefern trifft mich diese Schuld realistisch gesehen alleine? Was ist mit den ganzen weiteren Einflüssen, wie meinen Genen und meinem Hormonhaushalt, wie meiner Erziehung und Sozialisierung in einer mediengeprägten Leistungsgesellschaft, wie dem patriarchalen Schönheitswahn, der auf Flinta* Personen lastet, wie der falschen und folgenschweren medizinischen Beratung und deren schlichten Unwissenheit auf Grund fehlender Forschungen, wie der Nahrungsmittelindustrie mit ihrem Verkaufswunder Zucker und dem billigen Fast-Food, wie der steigenden, vereinfachten Verfügbarkeit und durch permanente Werbung angepriesenen Befriedigung der Triebe als Ausgleich zum Leiden unter dem ständigen Wettbewerbsdruck oder auch dem psychischen Aspekt des Mobbings und Beschämens an sich. Treffen diese vielschichtigen Umstände keine Schuld? Sogar, wenn mich alle Schuld träfe, inwieweit haben andere Menschen dadurch das Recht, mich deshalb so fies zu behandeln? Mein Wert berechnet sich weder an meiner Gesundheit oder meinem Äußeren noch an meiner Leistungsfähigkeit. Ich bin Mensch und meine Würde deshalb laut Gesetz unantastbar, oder?

Was will ich denn eigentlich? Was ist es, das ich brauche, um zu heilen? Ich will fair und gleichberechtigt behandelt werden. Ich will mit meinen Problemen, Ängsten und Wünschen ernst genommen und gehört werden. Es stimmt. Ich will Aufmerksamkeit dafür, dass hier ein Unrecht geschieht. Ich will, dass Hasskommentare und fettphobische Diskriminierung als Straftat behandelt werden. Ich will, dass anerkannt wird, dass dick_fette Menschen mit unzähligen Hürden im Alltag, im Berufsleben und in der Medizin zu kämpfen haben und ihr Wunsch nach Barrierefreiheit und Inklusion, genau wie bei behinderten Menschen, gehört werden muss, wenn wir behaupten, in einer offenen, sozialen und inklusiven Gesellschaft zu leben. Ich will, dass Vorurteile abgebaut werden und es eine repräsentative Darstellung von diversen Körperbildern in den Medien und der Politik geben muss. Ich will eine großangelegte Aufklärungskampagne auf Landesebene in Schulen, Universitäten und Ämtern und schlicht und ergreifend die Aufnahme des Faktors Gewicht ins Antidiskriminierungsgesetz.

Es geht nicht um mich als Einzelperson, sondern um die Gesellschaft. Mich machen diese Schuldvorwürfe mittlerweile nur noch wütend und Wut ist ein Motor, still bleiben keine Option mehr! Wegen fettphobischem Verhalten leiden und quälen sich Menschen. Essstörungen sind nur ein Aspekt der Folgen und selbst dabei wird die Dringlichkeit und Schwere der Erkrankung sortiert nach Gewicht, weil angenommen wird, dass dick_fette Personen nicht magersüchtig oder bulimisch sein können. Selbstverletzendes Verhalten bis hin zum Suizid als Folge dessen, weil man nicht dem unerreichbaren Ideal entspricht. Wieso machen wir es uns gegenseitig noch schwerer, als es eh schon ist?

Liebe Hater, ich sehe euch. Ich weiß, es geht euch nicht gut. Aber es wird euch nicht besser gehen dadurch, dass es anderen schlechter geht. Ihr wollt mir meine Stimme wegnehmen durch dieses degradierende Verhalten, weil ihr um eure eigene Macht besorgt seid. Aber genau wie ihr auch will ich toleriert, akzeptiert und respektiert werden. Können wir diese Spirale aus Angst vor Verletzung unserer Würde nicht zusammen durchbrechen? Ein Deal oder ein Pakt? Ich nehme euch ernst und ihr mich? Dass wir uns gegenseitig unterstützen und aufbauen und dadurch alle gemeinsam wachsen und gesehen und gehört werden. Wäre das nicht herrlich?

Frauen in Rot

„Women in Red“ ist ein Schreibprojekt innerhalb der Wikipedia, das sich zum Ziel erklärt hat, (bemerkenswerte) Frauen durch Einträge sichtbarer zu machen und gleichzeitig den Anteil der weiblichen Beitragenden zu erhöhen. Symbolisch sollen „red links“ (Wikipedia-Links, hinter denen noch kein Artikel steckt) in „blue links“ umgewandelt werden. Dafür werden immer wieder Schreibaktionen – „Edit-a-thons“ – in Städten rund um die Welt durchgeführt, um Beitragende auszubilden. Ein Beispiel ist der Art+Feminism Edit-a-thon, der jährlich am 8. März stattfindet, um Beiträge über Frauen in der Kunst hinzuzufügen.

Das Projekt existiert bisher in 32 Sprachen. Der deutschsprachige Teil der „Women in Red“ fokussiert auf die Erstellung von deutschsprachigen Biographien, die schon in anderen Sprachen verfügbar sind.

Bisher können in der Wikipedia (Abruf am 24.08.2024) 170.463 weibliche Biografien (17,93 %), gegenüber 780.165 männlichen (82,0 %) gelesen werden.

Wie ist die Lage bei den Systemikerinnen? Lasst uns in den Kommentaren wissen, welche Systemikerinnen ihr schon gesucht und in der Wikipedia nicht gefunden habt. Vielleicht habt ihr auch Lust, im Sinne der „Women in Red“ einen Beitrag über genau diese bemerkenswerten Frauen zu schreiben.

Sich erreichen, berühren, verändern

Am 30.10.1993 wurde die Systemische Gesellschaft (SG) gegründet, und im Juni diesen Jahres feierte die SG ihren 30. Geburtstag mit einer Jubiläumstagung. Diese wurde zu Ehren Kristina Hahns veranstaltet. Kristina war langjähriges SG-Mitglied und mehrere Jahre im Vorstand der SG engagiert. Das Gebaren der Männer im Verband beobachtete und kommentierte sie aus feministischer Perspektive und brachte selber eigene Akzente im Verband ein. Im Frühjahr 2020 starb Kristina Hahn viel zu früh. Sie ermöglichte der SG die Finanzierung verschiedener Projekte, u.a. den Kristina-Hahn-Preis*, der in diesem Jahr an vier Gruppen ging, die sich mit spannenden Aktionen zur Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter engagieren. Und Kristina Hahn wünschte sich eine inspirierende Tagung.

Es begann mit einem Vortrag von Hartmut Rosa zum Tagungsthema „Resonanzen“. Rosa definiert Resonanz als Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Objekt gegenseitig erreichen, berühren und verändern. Er bezeichnet Resonanz als Urform der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Das Subjekt wird berührt (affiziert) und antwortet (à E-motion). Resonanz ist nicht kontrollierbar. Das steht im Widerspruch zur Moderne, die auf Verfügbarmachung und Kontrolle als Grundmodus basiert. Der wachsende Zwang zur Beschleunigung macht den Menschen Angst und produziert schuldige Subjekte, weil wir es nie schaffen, den Ansprüchen von außen gerecht zu werden.

Rosa stellt die Frage, ob Krankheit als Verlust der Resonanzfähigkeit angesehen werden kann. So ließen sich Essstörungen als Weltbeziehungsstörungen bezeichnen: Anorexie (Magersucht) als Versuch, Weltberührung zu vermeiden, Adipositas (Fettleibigkeit) als einseitige, sich steigernde Weltaneignung, Bulimie (Ess-Brechsucht) als Aneignung ohne Anverwandlung und Orthorexie (Angst, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden) als Angst vor Unverfügbarkeit, also als Angst, über etwas nicht verfügen zu können.

An dieser Stelle wäre eine geschlechtsspezifische Differenzierung interessant gewesen. Zwar steigt die Zahl männlich gelesener Personen mit Essstörungen, doch sind sie immer noch sehr viel häufiger bei (jungen bzw. sich entwickelnden) Frauen verbreitet.** Hier könnte man verschiedene Hypothesen diskutieren: Scheitern Heranwachsende, die sich in ihrer Identitätsfindung mit weiblichen Stereotypen auseinandersetzen, besonders häufig an der Erfüllung dieser vermuteten Erwartungen (z.B. „Schönheits“-Idealen)? Oder werden bei der Sozialisierung in Richtung männlicher Stereotype andere Modelle gelebt, die einen gestörten Weltbezug zum Ausdruck bringen, wie z.B. über Computerspiele oder Gewaltphantasien? …

Für Beratung und Therapie hält Rosa die Herstellung von Resonanz für wichtig und die Fähigkeit dazu bezeichnet er als therapeutische Kompetenz. Das passt zu dem, was Sarah Walther im letzten Beitrag dieses Blogs geschrieben hat (https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/die-kraft-von-duempelsitzungen/), und zu den Forschungsergebnissen, die deutlich machen, dass die Herstellung einer guten Beziehung schulenübergreifend einen wichtigen Faktor für das Gelingen von Therapie darstellt. Laut Rosa kann in Beratung und Therapie gegen die Verdinglichung von Beziehungen durch Digitalisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Automatisierung über Resonanzen wieder Weltbeziehung hergestellt werden.

Ein großartiger Prozess ergab sich auf der Tagung aus einem Workshop mit der Kunsttherapeutin Franziska Janker. Wir hielten uns ein Blatt Papier vors Gesicht und malten darauf die Umrisse: Augen, Nase, Mund und Außengrenzen des Gesichts. Dieses Blatt gaben wir unserer/m Partner_in, die/der die Umrisse mit dem füllten, was sie/er im Gesicht des Gegenübers sah. Die/der Besitzer_in des Gesichts erhielt das Blatt zurück und markierte auf einem darüber gelegten, transparenten Papier das, was ihr/ihm wichtig erschien. Aus dem anschließenden Gespräch darüber ergaben sich in meinem Duo spannende Erkenntnisse: Nicht das, was mir mein Gegenüber vermittelt, sondern das, was ich aus dem lese, wie mein Gegenüber mich beschreibt, erfahre ich Neues über mich und mein Verhalten. Und es wurde erfahrbar, wie ähnliche (Lebens-) Erfahrungen in Beziehungen als Resonanz spürbar werden und eine Nähe, Offenheit … schaffen, auch wenn dies nicht bewusst wahrnehmbar wird. Dies muss nicht immer eine positive Erfahrung sein. Wir erörterten das in unserem Duo am Beispiel Gewaltbeziehungen. Es entstehen zwar negative, aber solche Resonanzen, die womöglich als vertraut wahrgenommen werden. In Beratungsprozessen dieser Resonanz nachzugehen, könnte hilfreich sein. Man könnte fragen, auf welche Weise Gewalterfahrungen auf beiden Seiten so utilisiert werden können, dass eine Resonanz herbeigeführt wird, die von Gewaltanwendung wegführt.

Hauptredner auf der Tagung waren – wie fast immer – Männer. Aber das Abschlusspanel war wie schon auf der SG-Tagung 2019 ausschließlich mit Frauen besetzt: Yasmine M´Barek, Journalistin, Autorin und Podcasterin, Ulrike Borst, Systemische Psychotherapeutin & Supervisorin, Angelika Ivanov, Pressereferentin bei der GLS Bank, Emily M. Engelhardt, Systemische Beraterin und Supervisorin und Professorin für „Digitale Transformation in sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft“, Shary Cheyenne Reeves, Moderatorin, Schauspielerin, Autorin, sowie Cordula Stratmann, Systemische Familientherapeutin und Komikerin. Bevor die Podiumsdiskussion begann, hatten die Frauen sich schon getroffen, wurden von der Moderatorin und systeme-Redakteurin Tanja Kuhnert gut gebrieft und diskutierten miteinander. Sie kamen also „warmgemacht“ wie man beim Sport sagen würde, auf die Bühne, schon sehr gut in Resonanz miteinander, wie die Tagungsteilnehmenden das vermutlich beschreiben würden. So brachten sie jede Menge Energie auf das Podium. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Zeit musste Moderatorin Tanja Kuhnert sich auf wenige Fragen beschränken, um die sechs Frauen alle zu Wort kommen zu lassen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten die Frauen, welche Resonanzen sie in ihrer Welt besonders wahrnehmen. Es entstand ein sehr lebendiger Austausch über aktuelle gesellschaftliche Phänomene und darüber, welche Impulse wir geben können, um gute Resonanzen entstehen zu lassen. Wie es eben mit Resonanzen so ist, steckten sich die Frauen gegenseitig mit ihrer Leidenschaft und Lebendigkeit an. Shary Cheyenne Reeves brachte es so auf den Punkt: „Wir schieben so viel Energie vor uns her, lasst uns die doch gemeinsam nutzen“!

*https://systemische-gesellschaft.de/service/auszeichnung/kristina-hahn-preis-2023/

**Laut der Barmer Krankenkasse gibt es sehr unterschiedlich Zahlen dazu. Einer Schätzung zufolge kommen auf 61 Frauen 18 Männer. s. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/essstoerungen-1055178#Wie_hu00E4ufig_sind_Essstu00F6rungen-1055178

Was hat die Systemische (Psycho-) Therapie zu bieten?

Ich bin nun schon das zweite Mal bei den Lindauer Psychotherapiewochen (eine traditionell psychodynamisch orientierte Tagung) gewesen und meine schon jetzt einen Unterschied zwischen diesem und letztem Jahr zu bemerken.

2023 war ich beim „Novizentreffen“ für Menschen, die das erste Mal in Lindau sind. Eine Kollegin meldete den vertretenen Veranstalter*innen zurück, dass unter den Hauptvorträgen auffallend wenig Frauen seien und stellte die Frage nach einer moderneren Besetzung. Es gab daraufhin bestätigende Rückmeldungen, aber auch die uns leider bekannten Argumentationslinien.

Positiv überrascht, konnte ich mich dieses Jahr in meinem gewählten Vortragsstrang auf eine diverse Zusammenstellung von Referent*innen freuen. Ein angenehmer Bonus war außerdem, die politische Komponente, die in vielen Vorträgen offen zur Sprache gebracht oder Teil des Themas war. Nichts mit therapeutischer Abstinenz, sondern es wurde zu einer Positionierung eingeladen bzw. sich deutlich positioniert.

Um eine Beispiele zu nennen:

Katharina van Bronswijk sprach zu psychologischen Implikationen des Klimawandels.

Amma Yeboah lud uns ein, uns mit Rassismus und Critical Whiteness in der Therapie auseinanderzusetzen.

Eran Rolnik wurde aus Tel Aviv zugeschaltet und sprach zur ganz unmittelbaren Einflussnahme des Krieges auf den therapeutischen Gestaltungsraum.

Heide Glaesmer referierte zu Unrechterfahrungen in der DDR am Beispiel der Heimerziehung.

Martin Schenk stellte am Beispiel des Bildes von „Brot und Rosen“ den möglichen Einfluss von Armutserfahrungen in der Kindheit auf die psychische Gesundheit aus.

Besonders berührten mich die Vorträge von Nasim Ghaffari und Hadiye Kücükkaragöz, die Unrechtserfahrungen im Iran und in der Türkei lebhaft und ganz konkret mit in den Tagungsraum brachten.

In den meisten dieser Vorträge wurde direkt oder subtil die Machtfrage gestellt und deutliche Unterschiede zwischen den Mächtigen und Ohnmächtigen gezeichnet. Immer wieder waren auch wir als Zuhörer*innen aufgefordert eigene Ressentiments und Positionierungen, die wir mit in die Therapie bringen, zu hinterfragen. Auffällig schien mir die teilweise konkret ausgesprochene Einladung der Referent*innen über den Tellerrand der intrapsychischen Dynamik hinauszuschauen und (gesellschaftliche) strukturelle Bedingungen als Akteur*innen in der Therapie Beachtung zu schenken.

Steckt da nicht eine systemische Grundhaltung drin?

Wir als systemisch Arbeitende wollen uns nicht nur mit den Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen unserer Klient*innen beschäftigen, sondern vor allem auch wie diese in Wechselwirkung mit allen möglichen Kontexten bzw. Umwelten stehen, in denen sich diese Person bewegt.

Als Neuling unter den sozialrechtlich anerkannten Psychotherapieverfahren könnte die systemische Therapie hier einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung und Praxis leisten sowie (auch aus einer Machtperspektive) mehr Raum im psychotherapeutischen Feld einnehmen.

Eine Voraussetzung dafür ist meiner Meinung nach die Aufgabe der Vorstellung von systemischer Therapie als politikfreien Raum. Im Austausch mit Fachkolleg*innen entsteht bisweilen der Eindruck, dass wir unsere systemische Arbeit außerhalb gesellschaftlicher Strukturen sowie deren Machtdynamiken verorten und diese unabhängig davon stattfindet. Das ist ein Trugschluss!

Wir sollten uns mit unserem eigenen Eingebundensein in Gesellschaft und Politik und das Eingebundensein unser Klient*innen auseinandersetzen. Neben der Erweiterung unseres Wirklichkeits- und Möglichkeitsraums in der therapeutischen Arbeit erscheint mir gerade die systemische Therapie dafür geeignet, die Machtfrage theoretisch fundiert in die Psychotherapie einzuführen.

In der systemische Fachliteratur werden dazu schon spannende Ideen diskutiert, siehe z.B.:

Martina Masurek: Die Idee der Gleichgültigkeit im systemischen Arbeiten (systeme, 2023)

Ilja Gold und Jessi Mmari: Macht- und Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe für die systemische Praxis (Familiendynamik, 2024)

Marlen Gnerlich und Anne Gemeinhardt: Soziale Unterschiede, die einen Unterschied machen Zur Bedeutung von Klassismus in systemischen Beratungskontexten (systeme, 2021)

(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Anstrengend sein

In meiner therapeutischen Arbeit spreche ich mit meinen Klient*innen oft über Wut. In den Gesprächen mit Frauen geht es meistens darum, diese Emotion überhaupt anzuerkennen und in das Selbstbild zu integrieren. Oft wird Wut negativ bewertet, als unangenehm markiert. Andere könnten mit Abgrenzung und Abwertung reagieren, deswegen wird der Ärger eher unterdrückt oder geschluckt, anstatt ihn als Hinweis für die eigenen Grenzen zu interpretieren.

Dabei kann weibliche Wut aus Unterdrückung, Ungerechtigkeit oder Diskriminierung resultieren und hat die Kraft, diese Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Gleichzeitig oder gerade deswegen gelten wütende Frauen als abstoßend, dramatisch, nicht weiblich und verrückt. Wütende Frauen sind hässliche Frauen. Wütende Frauen werden als weniger kompetent eingeschätzt.

Auch ich habe sowohl in privaten als auch beruflichen Beziehungen die Erfahrung gemacht, dass mein geäußerter Ärger, z.B. nur in Form einer kritischen Rückmeldung, in manchen Kontexten bagatellisiert, lächerlich gemacht, pathologisiert bzw. mir meine Wahrnehmung abgesprochen wird. Dabei scheinen die Strategien einem bestimmten Muster zu folgen. Angesprochene Personen fokussieren auf die Emotion, die transportiert wird, und gehen nicht auf inhaltliche Komponenten ein. Gleichzeitig wird der Vorwurf zurückgegeben, dass der gewählte Ton nicht angemessen sei. Damit tauschen sich plötzlich die Rollen zwischen der kritisierenden und kritisierten Person. Das verwirrt und macht zunächst sprachlos. Bleibe ich dann mit meiner inhaltlichen Position hartnäckig, gelte ich schnell als anstrengend und erschöpfend.

Und wieder drängt sich die kollektive Erfahrung von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen auf, die sich einfach nur in andere Worte als noch vor 100 Jahren kleidet. Wir sind eben nicht mehr hysterisch, sondern zu emotional und anstrengend. Ein klassisches Ablenkungsmanöver von berechtigter Kritik.

Auch oder gerade im systemischen Kontext mache ich diese Erfahrung. Unmut zu äußern scheint an sich schon verpönt, nicht Ressourcen- und Lösungsorientiert genug. Kritik trifft auf Rechtfertigungen und vermeintlich neutrale Äußerungen, die sich letztlich doch als Positionierungen lesen lassen. Nämlich für einen Status quo, der von strukturell verankerter Ignoranz von bestimmten Stimmen profitiert.

Aus systemischer Perspektive könnte ich mich nun fragen, worum geht es eigentlich? Was steckt hinter den Positionen, die schnell sehr vehement vertreten werden? Ein als besonders stark interpretierter Gefühlsausdruck, deutliche, wütende Worte können möglicherweise Ausdruck für eine ganze Kette von Unterdrückungserfahrungen stehen, die sich in diesem Moment entladen. Vielleicht wurde vorher schon so viel nicht gehört, dass die einzige Option ein Aufstampfen und Aufschreien zu sein scheint.

Und wozu könnte die Bagatellisierung und Rollenumkehr dienen? Machterhalt wäre meine Hypothese. Denn: Ist Macht das, was Frauen wollen? […] Die Frage […] lässt zudem den Gedanken aufkommen, dass die Untergebenen sich ebenfalls nach Macht sehnen könnten, und das löst damit bei Männern Angst und Bestürzung und bei Frauen Angst und Verlegenheit aus.“ (T.J. Goodrich)

In einem solchen Ringen um Gestaltungsfreiraum und Deutungshoheit lässt es sich schön festbeißen und abarbeiten. Denn wie in Goodrichs Zitat werden bei allen Beteiligten verschiedene verinnerlichte Muster (sexistische wie natürlich auch anderer biografisch und kontextbezogene Wechselwirkungen) mit dazugehörigen Gefühlen und Abwehr aktiviert. Das strengt an und bei fehlender Reflexion dieser Mechanismen aller Beteiligten, ist der Weg zu einer konstruktiven Betrachtung zunächst versperrt.

Wie navigiere ich also am besten in dieser Gemengelage? Ich denke es ist wichtig, Positionen klar zu vertreten, hartnäckig und unbequem zu sein. Doch wenn ich merke, dass sich ein Teil von mir dazu eingeladen fühlt, in dieser (natürlich zirkulär funktionierenden) Dynamik in die Rolle zu rutschen, die mir zugeschrieben wird, trete ich einen Schritt zurück.
Ich distanziere mich also, beobachte den Prozess und wäge die Optionen ab. Wenn ich mit dem gleichen nicht weitergekommen bin, dann sollte ich im systemischen Sinne etwas anderes probieren. Für mich heißt das manchmal, an anderer Stelle weiterzumachen, die mir beweglicher erscheint. Manchmal heißt es für mich auch, klare Konsequenzen zu ziehen und die Beziehungen auf andere Weise zu gestalten.
Denn auch wenn ich kein Gehör finde, muss ich mich nicht mit dem Status quo zufriedengeben und die Gewalt, die darin steckt, akzeptieren. Ich erlaube mir, meine Grenzen zu setzen und versuche darauf zu pfeifen, dass mich mein Gegenüber für anstrengend und schwierig hält.

Inspiriert auch durch: https://www.emotion.de/leben-arbeit/weibliche-wut

Der stille Kampf mit dem Spiegelbild

Am 27.12.2023 ich sitze völlig aufgelöst und weinend im Urlaub auf dem Bett. Ich fühle mich unwohl in meinem Körper, nein, ich bin verzweifelt und unzufrieden. Vielleicht habe ich 2-3 Kilo zugenommen, aber es ist mehr als das. Mein Körper und mein Kopf sind in einem Strudel der Unzufriedenheit gefangen.

Diese Situation ist mir nicht fremd. Ich kenne sie und das schon sehr lange – sie begleiten mich schon ein Leben lang. 

Dabei bin ich mir sicher, dass viele Frauen ganz genau wissen, wovon ich spreche. 

Innerlich spüre ich immer wieder die Zerrissenheit: Ich will mich nicht fertig machen. Ich möchte einen gesunden Bezug zu meinem Körper haben, und mit ‚gesund‘ meine ich nicht schlank oder dünn. Denn ein schlanker Körper ist nicht zwangsläufig ein gesunder Körper. Aber genau diese Überzeugung hat sich mir eingebrannt, wie so vieles, wenn es um den Körper der Frau geht. Es ist belastend, manchmal so stark, dass es mich erdrückt.

„Die Erschöpfung der Frauen“: Ein tiefgehender Einblick in die Körperscham

Das Buch „Erschöpfung der Frauen“ widmet ein ganzes Kapitel dem Thema Körperscham. Es enthüllt, wie Frauen durchschnittlich alle dreißig Sekunden ihr Aussehen überprüfen. Dies geschieht jedoch nicht aus einem liebevollen, sondern aus einem ängstlichen, strengen und oft selbstkritischen Blickwinkel. Diese ständige Selbstüberwachung ist nicht nur erschöpfend, sondern oft auch gesundheitsschädigend. Sie raubt Frauen die Energie und Zeit für andere, wichtigere Aspekte ihres Lebens.

Die Forschung zeigt, dass Frauen aller Altersgruppen und Schichten die Auswirkungen gesellschaftlicher Schönheitsnormen erleben. Es gibt zwar Unterschiede bezüglich des Alters, diese sind jedoch weniger signifikant als erwartet. In einer Gesellschaft, die Schönheit mit Jugend gleichsetzt, sind Frauen bis ins hohe Alter hinein enormen Anforderungen ausgesetzt. Über 60 Prozent der Frauen zwischen 60 und 70 Jahren und fast 80 Prozent der 54-jährigen Frauen berichten von Körperunzufriedenheit. Diese Zahlen zeigen, dass der Druck, jugendlich und schön zu erscheinen, tief in der weiblichen Psyche verankert ist.

Das Buch hebt auch hervor, dass viele Frauen den Schönheitsdruck internalisiert haben und versuchen, die Illusion der Jugend durch ständige Körperüberwachung aufrechtzuerhalten. Diese anhaltende Körperbeobachtung kann zu Körperscham und Angst vor den herrschenden Schönheitsnormen führen. In Verbindung mit diesen negativen Erfahrungen reduziert die Selbst-Objektivierung auch die Möglichkeiten für Vergnügen und Entspannung. Viele Mädchen und Frauen sind fast ununterbrochen mit ihrem Aussehen und der Frage beschäftigt, was andere von ihnen denken und wie sie bewertet werden.

Als wäre das nicht schon schlimm genug: “Gerisch zitiert eine Patientin: »Ich fühlte mich so dick, so hässlich, ich stand stundenlang vor dem Spiegel, um etwas Schönes an mir zu finden, aber es wollte mir einfach nicht gelingen; schließlich nahm ich das Messer und schlitzte mir die Arme auf.« Eine andere sagte: »Ich fühlte mich plötzlich winzig, wie ein Zwerg unter Riesen und wollte einfach verschwinden. Da nahm ich die Tabletten.« Oder kehrseitig: »Ich fühlte mich monströs wie ein Monster aus einem Computerspiel und wollte diesem Elend einfach nur ein Ende bereiten.«

Ein emotionaler Aufruf

Beim Lesen dieser Zeilen steigen mir die Tränen in die Augen. Ich bin entsetzt, fassungslos und wütend darüber, dass ich und viele andere Frauen mit dieser Bürde leben. Ich habe es satt, vollgestopft mit Idealen und Selbstabwertungen zu sein. Ich bin erschöpft von den Jahren, in denen ich mich nur mit meinem Körper und Aussehen beschäftigt habe.

Ich möchte in Würde altern, aber ich weiß nicht, wie. Auf Instagram sehe ich Frauen, die gegen das Körperideal kämpfen. Doch auch hier wird oft ein Bild von Schönheit vermittelt. Es ist verwirrend und zeigt, dass wahre Freiheit schwer zu erreichen ist.

Auf der Suche nach Gleichgewicht und Akzeptanz

Vielleicht geht es nicht darum, sich vollständig von diesen Idealen zu befreien, sondern vielmehr um Akzeptanz und Bewusstsein. Es geht darum, ein gesundes Gleichgewicht zu finden, das Erbe unserer Mütter und Großmütter anzuerkennen und gleichzeitig unseren eigenen Weg zu gehen. Dieser Balanceakt zwischen Loslassen und Annehmen ist ein Prozess, der Geduld und Selbstliebe erfordert.

„Der Trost der Schönheit“

Im flüsternden Gewirr der Buchläden finde ich Ruhe – meine Zuflucht vor der Welt. Bei meinem letzten Streifzug fiel mir auf, dass ich instinktiv mehr Werke von Autoren wählte. War es Zufall? Meine Neugier erwachte, und die Recherche enthüllte eine bittere Wahrheit: Ein Ungleichgewicht, das tiefer liegt als bloße Zufälligkeit.

„Ein Bericht über die Frühjahrsprogramme der Verlage Hanser, Fischer und Rowohlt offenbart einen Autorinnenanteil von gerade einmal 22 bis 30 Prozent. Generell sind es nur 40 Autorinnen auf 60 Autoren, mit einem besonders starken Missverhältnis in Genres abseits der leichten Unterhaltung.“

Es ist ein bekanntes Muster, doch heute möchte ich nicht die Missstände in den Fokus rücken, sondern eine Stimme, die mich erreicht hat.

Gabriele von Arnims „Der Trost der Schönheit“ war ein Zufallsgriff und die ersten Zeilen ließen mich innehalten: „Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten. An Wege, Räume, Purzelbäume. Der Trost der Schönheit ist vielleicht Eskapismus, aber ganz gewiss auch notwendiger Selbsterhalt.“

Das Buch ist ein Abenteuer – ein literarisches Eintauchen in die Schönheit als Gegenpol zum Getöse der Welt.

Wie oft dachte ich es nicht nur, sondern sprach es auch laut aus: „Wie schön!“ 

Durchatmen, lächeln und innehalten, hielten bis zur letzten Seite an. 

„Der Trost der Schönheit“ ist ein Werk, das unsere Zeit dringend benötigt.

Die Texte sind eine Sammlung persönlicher Geschichten und Reflexionen, die tiefgründig die Facetten der menschlichen Erfahrung – Empathie, Trauer, Freude und Leid – erkunden. Sie thematisieren die Notwendigkeit, Pausen von den Problemen der Welt zu nehmen, und betonen die Rolle der Schönheit als Rettungsanker.

Dieses Buch ist ein Nachdenken über menschliche Resilienz in einer von Schönheit und Tragödie gezeichneten Welt. Es lädt uns ein, über unsere Position inmitten globaler Unruhen nachzudenken und wie wir zwischen Empathie und Selbstfürsorge ein Gleichgewicht finden können.

In diesem literarischen Schatz offenbart sich auch meine weibliche Seite der Systemik. Das Buch spiegelt den systemischen Ansatz wider – es betrachtet das Leben in seiner Ganzheit, verknüpft die Schönheit mit dem Schmerz, das Individuum mit dem Kollektiv. Es lehrt uns, die Komplexität unseres Daseins zu umarmen und unsere persönlichen Erfahrungen als Teil eines größeren Ganzen zu sehen. Gabriele von Arnim hat nicht nur ein Buch geschrieben; sie hat einen systemischen Dialog geschaffen, der die Brücke schlägt zwischen unserem inneren Erleben und der äußeren Welt. In ihrer Reflexion zeigt sich die wahre Kunst der Systemik: Verbindung aufzubauen – zwischen Worten, Menschen, Gefühlen und letztlich der Gesellschaft selbst.

„Wir sind keine Richter*innen“ – Das Ringen um Differenzierung in der Debatte um rituelle Gewalt

Mit einem Spiegel-Artikel und Jan Böhmermanns Show zu ritueller Gewalt wurde ich und mein therapeutischer Umkreis ziemlich aufgewühlt. Immer mal wieder wird die Existenz organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt sowie deren Folgen angezweifelt. Weiterhin werden die Berichte darüber teilweise mit (antisemitischen) Verschwörungsideologien vermischt und nicht eindeutig davon abgegrenzt. In diesem Kontext wird außerdem der psychotherapeutischen Berufsgruppe unterstellt, die Fähigkeit zu besitzen durch suggestive Techniken und Grenzüberschreitungen, Erinnerungen an schwere Gewalterfahrungen einpflanzen zu können. Was mir vor allem Sorge bereitet: Es schleicht sich scheinbar dadurch bei mir und meinen Kolleg*innen eine Furcht ein, Hypothesen zu möglicherweise traumatischem Erleben aufzustellen und beschriebene Gewalt als eben diese zu benennen.

Ein paar Wochen lang beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema, diskutierte bisweilen hitzig mit Kolleg*innen und begann an meinen bisherigen Überzeugungen zu zweifeln. Gleichzeitig fiel mir auch hier wie in anderen Debatten auf, dass es mir schwer zu fallen scheint, Grautöne / Ambiguitäten / Widersprüche auszuhalten. Es gilt vermeintlich eine Seite zu wählen und dann möglichst alle Widersprüche zu neutralisieren. Doch so funktioniert unsere Welt und vor allem unsere therapeutische Arbeit nicht. Nach Wochen des starken inneren Seegangs sowie etwas zeitlichem Abstand kehrte ich wiederum zu bestimmten Überlegungen angereichert mit Grautönen zurück:

Unser therapeutischer Raum ist kein Gerichtssaal und wir sind keine Richter*innen. Wir knüpfen an den Geschichten an, die uns unsere Klient*innen berichten möchten. Menschen und Situationen sind komplex und es gibt keine „perfekten Opfer“, sondern immer eine Dynamik (die sich möglicherweise auch in der Arbeitsbeziehung zeigt und dringend reflektiert werden sollte, wenn ich mir eine eher psychodynamische Perspektive erlauben darf). Es gilt vielleicht, eine Balance zu finden sowohl zwischen einer manchmal nötigen Parteilichkeit mit den Überlebenden jeglicher Art von Gewalt, als auch einer neutraleren Distanz, aus der wir Muster beobachten können. Dabei liegt es in unserer fachlichen Verantwortung, als gewaltvoll beschriebenes Handeln auch als solches einzuschätzen sowie mutig Hypothesen laut werden zu lassen, ohne sich in diese zu verlieben. Realität ist natürlich, dass uns auch letzteres in unserem Arbeitsalltag passiert und wir vielleicht auch aus Betroffenheit impulsiv reagieren sowie Teil der Dynamik werden. Die Antwort auf die Frage, wie diese Balance im Blick behalten werden kann, ist für mich ganz klar Supervision und interkollegialer Austausch als Bestandteil professionellen, verantwortungsvollen Handelns. Besonders hervorzuheben ist dieser Teil unserer Verantwortung in einem herausfordernden Bereich, in dem wir als Fachpersonen unweigerlich mit teilweise sogar Entsetzlichem konfrontiert und aufgefordert sind, den therapeutischen Rahmen zu halten.

Natürlich sind wir außerdem ethischen Grundsätzen verpflichtet. Gleichzeitig ist nicht abzustreiten, dass Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch in allen Kontexten stattfinden, in denen es Hierarchien gibt, und das gilt auch für den therapeutischen Raum. Für mich hat sich dafür noch mal der Blick geschärft. Ich möchte diese Geschichten ernst nehmen und unabhängig von einer konkreten Personalie nicht reflexartig meinen gesamten Berufsstand in Schutz nehmen, sondern auch hier Nuancen wahrnehmen und Grenzüberschreitungen benennen können.

Vernachlässigt werden dürfen außerdem nicht die gesellschaftlichen Kontexte, in denen diese Debatte geführt wird. Als einen dieser Kontexte möchte ich die Berichtslage zu aktuelleren sogenannten „Mee-Too“- Geschehnissen nennen. Neben Solidaritätsbekundungen müssen Überlebende immer wieder Unglaube, Anschuldigungen, Hass und eine perfide Täter-Opfer-Umkehr aushalten. Dabei stellt sich für mich die Frage, wem reflexartig geglaubt und welche Hürden dadurch allen Menschen mit Gewalterfahrungen auferlegt werden, ihre (vielleicht erstmal unglaublich anmutenden) Geschichten zu erzählen.

Zum Nachlesen:

Versachlichungspapier Fachverband Traumapädagogik: https://fachverband-traumapaedagogik.org/files/Versachlichungspapier%20ORG_06.04.23.pdf Heruntergeladen von: https://fachverband-traumapaedagogik.org/start.html

Rise and Fall of the false memory foundation (Englisch): https://news.isst-d.org/the-rise-and-fall-of-the-false-memory-syndrome-foundation/

Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21