3 Jahre Blog „die-weibliche-seite-der-systemik.de“

Erstaunt reiben wir uns die Augen – es ist schon 3 Jahre her, dass wir mit diesem Blog begonnen haben! Am 9. Mai 2022 haben wir den ersten Beitrag veröffentlicht.

Wie alles begann

Es war im Herbst 2021.

Tanja: Im Jahr 2018 tauschte ich mich mit Nikola Siller Gedanken über die Frauen aus, über die wir als Lehrende in Systemischen Weiterbildungen berichten. Uns kamen die Namen, die wir zusammentrugen etwas wenig vor. Das löste bei uns einige Fragezeichen aus. Diesen Fragezeichen wollten wir nachgehen und uns auf die Spurensuche nach weiblichen Pionierinnen der Systemik machen. Das war der Anfang vieler Projekte und Initiativen, die seitdem in der systemischen Welt exisitieren: Ein Buch, Systemik, die, ein Podcast, die Pionierinnen der Systemik, ein Netzwerk, das „Rote Sofa“ aus vielen verschiedenen Protagonistinnen und dieser Blog. Schon am Anfang unserer Spurensuche hatte ich die Idee, das auf dem Weg der Suche nach den Pionierinnen viel Wissen und Kreativität entstehen und ein Blog eine gute Möglichkeit sein könnte, dies alles zu dokumentieren und für viele Menschen zugänglich zu machen. Ich freue mich sehr, dass wir als Vierer-Redaktion gemeinsam diese Plattform pflegen, füllen und weiterentwickeln!
Danke Anne, Gila und Sarah!

Anne: Auf systemische Weise zu denken und zu praktizieren hat mich von Beginn an angezogen. Ich habe mich zunächst ziemlich unkritisch in die Welt des Konstruktivismus gestürzt und mich in Denkkonstrukten begeistert verloren. Irgendwann folgte die Ent-täuschung und Neubewertung mit einem machtkritischen Blick. Ich kannte Tanja schon länger als Fachkollegin und Vertraute und so kam es, dass sie mir genau im richtigen Moment von ihrem Projekt erzählte. Ich nahm gleich begeistert an allem Teil, was sich anbot und das war nicht wenig. So wurde ich auch Teil der Blog-Redaktion.

Sarah: Ich kann mich noch genau erinnern – als wäre es erst gestern gewesen – wie Anne mir von der Idee des Blogs erzählt hat und mich gefragt hat, ob ich Interesse hätte mitzuwirken. Ich war total begeistert, auch wenn ich eigentlich bisher keine Erfahrung hatte. Mir hat diese Idee noch einmal sehr stark ins Bewusstsein gerufen, wie wichtig es ist, dass wir die weibliche Seite der Systemik nach Außen bringen (dürfen!) und vor allem auch stärken müssen. Ich weiß noch, wie herzlich mich Gila und Tanja aufgenommen haben. In meiner Erinnerung waren wir sehr schnell ein Team, was sich auf Augenhöhe begegnet ist, sich aber vor allem einfach „ins kalte Wasser“ gestürzt hat – mit der Gewissheit, dass der Blog einen wichtigen Beitrag leistet.

Gila: Ich kam zum „Roten Sofa“ – einem digitalen Netzwerktreffen, das von Tanja Kuhnert und Nikola Siller initiiert worden war, und freute mich, dass es endlich einen Frauentreff in der systemischen Szene gab. Tanja und Nikola stellten uns ihre vielen Projekte vor – das Buch, das mittlerweile erschienen ist, die Interviews, von denen nun schon zwei auf diesem Blog veröffentlicht wurden, und vieles mehr. Vieles davon waren Ideen, einiges schon in Arbeit. Ich hatte Lust, bei einem Blog mitzuarbeiten, und es fanden sich noch andere – nämlich Anne und Sarah. Und schwups – gab es das Projekt

Schon waren wir mittendrin

Tanja: Wir vier bilden eine ausgewogenen Mischung verschiedener Perspektiven ab: unterschiedliches Alter, unterschiedlich stark in die systemische Community eingebunden, verschiedenen Rollen und Positionen in den systemischen Verbänden, verschiedene Partnerschaftsmodelle und sexuelle Identitäten, ost-, west-, nordostdeutsche Perspektiven. So gab es von Beginn an unterschiedliche Ideen und Wünsche bzgl. der Zielgruppen sowie der Art und Form der Beiträge. Mittlerweile haben wir gute Prozess- und Absprachemodalitäten entwickelt. Alles läuft von Beginn an nur online und virtuell. Wir sind uns noch nie zu viert persönlich in Präsenz begegenet! Wahnsinn, was wir so alles auf den Weg gebracht haben!

Anne: Es schloss sich eine intensive Zeit an: Aufbauen der Website, Schreiben, Werben, Finanzieren. Ich bewegte mich innerlich zwischen Freude, Teil dieses Projektes (und der anderen Projektarme) zu sein sowie auch der Überarbeitung und so manchen Frustrationen, die mit ehrenamtlicher Arbeit üblicherweise einhergehen. Zwischendurch nahm ich mich auch aus dem Schreiben zurück, da mir wenig kreative Energie zur Verfügung stand. Inhaltlich bewegten wir uns zwischen Diskussionen darüber, was das „Weibliche“ und „Systemische“ aus unserer Sicht eigentlich sein soll und welche Art von Beiträgen wir veröffentlichen möchten. Dabei war und ist die Unterschiedlichkeit in unserer Redaktionsgruppe manchmal herausfordernd, macht aber für mich auch das Salz in der Suppe aus. Oft fiel mir auf, dass auch unsere Beiträge diese Unterschiedlichkeit widerspiegeln und dadurch hoffentlich für jede*n etwas Interessantes dabei ist.

Sarah: „Learning by doing“ ist das Erste, was mir einfällt. Es wurde viel ausprobiert. Es wurde viel ausgehandelt. Es wurden viele Ideen besprochen, entweder verworfen oder umgesetzt. Nach jedem Schritt haben wir geprüft, wie es sich für uns anfühlt. Und das ist eine wichtige Erkenntnis für mich: Es muss nicht perfekt sein, bevor ich mit etwas nach Außen gehe. Es darf sich entwickeln und es braucht seine Zeit. Ich bin noch einmal mehr mit viel offeneren Augen durch Welt gegangen: Worüber kann und sollte ich schreiben? Was ist wichtig? Dabei hat sich auch meine weibliche Seite der Systemik geschärft und ich bin immer noch dabei, diese kennenzulernen, die mich immer wieder liebevoll darauf hinweisen. Ich mag es, dass wir diskutieren, aushandeln, ergänzen und uns auch mal kritisch hinterfragen. Als Teil dieses Blogs bin ich persönlich gewachsen und bin sehr dankbar, dass ich meiner Stimme Gehör verschaffen darf. Gleichzeitig bin ich mit Frauen zusammen, die einen großen Wissens- und Erfahrungsschatz haben, die mich bereichern. In unseren Runden habe ich wieder einmal gesehen, dass man nicht immer einer Meinung sein muss, sondern das sie nebeneinander existieren dürfen und gleichwertig wertvoll sind. 

Gila: Mit so gut wie nichts fingen wir an. Tanja stellte uns einen Webspace zur Verfügung. Ich raffte meine wenigen Webdesign-Kenntnisse zusammen und bastelte die Seite zusammen. Die Diestel aus meinem Garten steht für mich für Schönheit und Unverfügbarkeit. Man kann sie nicht einfach wegumarmen, und sie kann auch unangenehm werden, wenn man ihr zu nahe tritt. Sie blüht ausdauernd und bringt Freude.


Mit Hilfe der beiden systemischen Verbände konnten wir dann ein paar Details realisieren, die wir nicht aus eigenen Ressourcen leisten konnten: Design zur Verbreitung des Blogs (DGSF) und die Abofunktion, mit der Interessierte über neue Beiträge informiert werden (SG). Wir schaffen es seit geraumer Zeit, alle drei Wochen einen Beitrag online zu stellen.

Wo wir jetzt stehen und wie es weitergehen soll

Redaktions-Sitzung im April 2025 - sie sind immer online.

Tanja: Von Beginn an streifen wir immer mal wieder das Thema der Zielgruppe/n. Der Name des Blog „Die weibliche Seite der Systemik“, war ursprünglich ein Arbeitstitel für all die oben genannten Projekte, die entstanden sind. Aber eigentlich geht es nicht nur um cis-Frauen. Meine Vision ist, dass wir eine Plattform für all die Personen werden, die sich auch im systemischen Diskurs nicht immer benannt und berücksicht sehen und fühlen. Meine Interpretation von weiblich ist auch eine intersektionale: Wer bestimmt was weiblich ist und wer sich weiblich fühlt/fühlen darf? Heute ist es für mich mehr eine Metapher für das, was nicht zum gesellschaftlich dominat männlichen Teil gehört/gehören möchte. Also, es bleibt spannend, wohin der Blog mit uns geht und wir den Blog noch führen werden.

Anne: Nach einer kleinen Schreibpause möchte ich nun wieder aktiver werden und schon entstanden im ersten Redaktionstreffen in diesem Jahr viele gute Ideen für Beiträge. Meine ursprünglich Mission, nämlich systemische Kolleginnen zu gewinnen, die etwas im Blog veröffentlichen, war bisher wenig ertragreich. Immer wieder treffe ich interessante Frauen, die mich an ihren klugen Gedanken teilhaben lassen und auch den Blog toll finden. Die Idee, etwas zu schreiben und zu veröffentlichen, trifft dann aber noch auf Zögern. Ich möchte dranbleiben, denn das ist die Erfahrung, die ich mir mehr als alles andere aus dem ganzen Projekt mitnehme: Durch andere Frauen bestärkt und gefordert zu sein erscheint mir wesentlich, um sichtbar zu werden und zu bleiben.

Sarah: Ich finde es bemerkenswert, wie viele Beiträge entstanden sind und wie unterschiedlich sie sind. Ich wünsche mir für den Blog, dass dieser noch mehr Menschen – nicht nur Frauen! – erreicht und inspiriert. Unser Blog soll Menschen Mut machen, sich zu zeigen und ihre Stimme zu erheben. Wir wollen dazu einladen, dass auch andere Menschen Gastbeiträge einreichen und zu Themen veröffentlichen, die noch nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten. Ich erhoffe mir, dass auf unserem Blog noch mehr Diversität sichtbar wird, z. B. zum Thema Geschlechtsidentitäten. Denn ich weiß, dass ich dazu noch selbst viel zu lernen habe. Und genau das ist für mich dieser Blog und die Zusammenarbeit mit euch, liebe Tanja, Gila und Anne: Ein von- und miteinander lernen und bewegen. Ich freue mich sehr auf die weitere Zusammenarbeit und bin sehr dankbar für die bisherige gemeinsame Zeit!

Gila: Wir haben 160 Abonent_innen und stoßen immer wieder auf großes Interesse, wenn wir von dem Blog erzählen. Das freut uns riesig!
Wir sind unterschiedlich alt, wohnen in unterschiedlichen Städten, haben sehr unterschiedliche Werdegänge und verstehen uns bei unserem gemeinsamen Tun prima. Es soll mindestens so weitergehen, wie bisher. Die Themen sollen uns nie ausgehen und die Abonnent_innen-Zahl weiter steigen. Ich würde mich freuen, wenn es noch mehr Kommentare zu unseren Beiträgen gäbe. Es darf auch kontrovers zugehen. Und vielleicht hat ja die eine oder andere Interesse, Zeit und Lust, sich noch mehr beim Blog einzubringen und ihn damit zu bereichern.

Auf die nächsten gemeinsamen Jahre!

Eure Blog-Redaktion.

Gedanken zum Podcast-Interview mit Satuila Stierlin

Beim Hören des Interviews mit Satuila Stierlin wird mir deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, aus heutiger Perspektive nachzuvollziehen, wie es Systemikerinnen vor 50 Jahren ergangen ist. Es lässt sich vielleicht indirekt aus den Aussagen von Satuila Stierlin herauslesen. Meine Phantasie ist folgende:

Viele Frauen (und auch Männer), die in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurden, hatten so sehr verinnerlicht, dass „Kinder – Küche – Kirche“ ihre Aufgabe war, dass nur wenige von ihnen auf die Idee kamen, das infrage zu stellen. Wer Anfang des Jahrhunderts geboren wurde, hatte in Deutschland während des Krieges vielleicht schon eher die Erfahrung gemacht, dass sie als Frau außer Haus arbeiten konnte. Aber diese Frauen sollten „zurück an den Herd“. Es gab kaum Vorbilder, die andere Lebensformen zeigten. So verstehe ich Satuila Stierlin, wenn sie im Interview davon spricht, dass sie nach ihrem USA-Aufenthalt in Heidelberg und der sehr mühsamen Suche nach Freundinnen mit diesen erst einmal Ideen entwickeln und ausprobieren musste, wie die klassische Frauenarbeit so reduziert werden konnte, dass genug Raum für Berufstätigkeit blieb. Satuila Stierlin beschreibt es als „rührend“, wie ihr Mann, der Professor, erst lernen musste, wie man einen Küchentisch abwischt. Nur weil er sich Mühe gab und sie darüber im Gespräch blieben, konnten sie einen Weg bahnen, der auch ihr erlaubte, sich für ihre Berufstätigkeit Zeit zu schaffen.

Dann stelle ich mir noch vor, dass Psychotherapie eine absolute Nische für wenige Menschen war. Die „Redekur“ Psychoanalyse war gerade einmal 40 Jahre alt, Familientherapie in den Kinderschuhen.

Erst mit diesen Annahmen entwickelt sich ein Kontext, der sich fundamental von dem unterscheidet, in dem heute Frauen leben. Satuila Stierlin spricht von einer dramatischen Veränderung. In diesem ganz anderen Kontext entwickelte sie ihre Genogrammarbeit, aufbauend auf einigen Ideen von Virginia Satir und Monica McGoldrick.

Für uns sind das alles Selbstverständlichkeiten. Selbst ich, die ich Mitte der achtziger Jahre selber mit Frauen Bildungsarbeit machte, die in den dreißiger Jahren geboren waren, muss mich erst wieder hineindenken in diese andere Selbstverständlichkeit, die in den achtziger Jahren von uns damals jungen Frauen nicht mehr akzeptiert wurde. Es gab die Frauenbewegung, wir hatten „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir und andere Bücher gelesen. Und wir begaben uns Jahre später in „die systemische Welt“, die für uns schon da war und mittlerweile schier unübersichtlicher wurde.

Wir treten ein kostbares Erbe an und werden es hoffentlich würdig weiterentwickeln können.

Gendersensibel systemisch arbeiten in Beratung und Therapie

In den systemischen Aus- und Weiterbildungen nehme ich ein großes Interesse wahr, beraterisch-therapeutisch Genderspezifika in den Blick bekommen zu wollen. Solch ein Interesse gab es auch schon in den achtziger Jahren. Es entstanden erste Bemühungen, die Familientherapie gendersensibel zu lesen und zu erweitern. Systemikerinnen benannten wichtige Foki für die systemische Arbeit. Im deutschsprachigen Raum erschien 1992 das von Ingeborg Rücker-Emden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen herausgegebene Buch „Balanceakte“ (Carl-Auer-Verlag, Online-Ausgabe 2009), in dem damals bedeutsame Aspekte zusammengetragen wurden. Ich stelle hier einige Gedanken aus einem Beitrag von Andrea Ebbecke-Nohlen daraus vor, der meines Erachtens auch heute noch viele Anregungen für gendersensible systemische Beratung und Therapie enthält.

Systemisch schauen wir auf Muster, die sich in Kommunikationen entwickeln und darauf, wie sie von ihrem spezifischen Kontext beeinflusst werden. Dazu gehört auch, Unterschiedskonstruktionen in geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bearbeitbar zu machen. Ausgehend von der These, dass man sich nicht nicht geschlechtsbezogen verhalten kann, könnte man fragen, welches Selbstbild daraus resultiert, ob man sich weiblich, männlich oder non-binär definiert (z.B. Weinen). Daran schließt sich die Frage an, welche Rollen man für wen ausmacht, mag und möchte, und welche Vor- und Nachteile man darin sieht.

Man könnte fragen, welche geschlechtsspezifischen und –neutralen Regeln es in einem System gibt und wofür das (nicht) hilfreich ist. Und: Wer ist wofür zuständig oder entscheidet worüber? Wer bringt den Müll raus, wer entscheidet über welche gemeinsamen Ausgaben …? Wer lebt welche Werte mehr, welche weniger, wer ist z.B. aggressiv, wer zurückhaltend, und wer empfindet und reagiert auf einen „Verstoß“ gegen diese Werte wie? Wenn beispielsweise die Mutter in einer Beziehungskonstellation als anstrengend oder nervig erscheint, weil es scheint, dass sie immer alles bestimmen will: Wozu tut sie das? Wem nützt das wofür?

Eine weitere Frage ist natürlich, wie einE Therapeut_in sich unterschiedlich gegenüber Klient_innen verhält, die sie als weiblich oder männlich identifiziert, und ob und wie die Klient_innen unterschiedlich auf die Berater_in und das Beratungsangebot reagieren. Wenn z.B. eine Person in der Therapie abblockt – was könnte das mit ihrer geschlechtsspezifischen Identifizierung zu tun haben, was will diese Person womöglich schützen und was bewirkt das wiederum bei der anderen Person für ein Verhalten?

Dann wäre da noch der Blick auf geschlechtsspezifische Unterschiede und Ähnlichkeiten von Familienaufträgen und Loyalitäten zu nennen: Wer setzt wie Grenzen und welche Unterschiede und Ähnlichkeiten gibt es bei Familienaufträgen und Loyalitäten? Wer ist (mehr) für Bindung, wer (mehr) für Individuation zuständig? Wie wird das ausbalanciert?

Die letztgenannten Fragen sind eingebettet in eine weite feministische Diskussion in den achtziger Jahren darüber, wie die geschlechtsspezifisch unterschiedliche Prägung für Bindung und Individuation die Kommunikation zwischen Männern und Frauen beeinflusst und typische Konflikte befeuert hat.

Luise Eichenbaum und Susie Orbach stellten in ihrem Buch Was wollen die Frauen? Ein psychotherapeutischer Führer durch das Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten in Liebesdingen (Econ 1993) die These auf, dass Männer unabhängiger und selbstsicherer wirkten als Frauen, weil ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung immer schon befriedigt würden, angefangen mit der Mutter als der Haupt-Bezugsperson, bis hin zur Lebenspartnerin, die diese Rolle dann übernehme. Frauen dagegen bekämen diese Bindungssicherheit nicht in dem Maße, da dies als „Frauenarbeit“ gelte und der Mann sich eher dafür zuständig sehe, unabhängig und durchsetzungsfähig in der Außenwelt zu sein. „Gefühlsarbeiter“ zu sein, widerspräche dem gesellschaftlichen Bild von einem „echten Mann“, und daher könne er diese Rolle nicht übernehmen. In den achtziger und neunziger Jahren gab es denn auch das Klischee vom „Softie“, den Frauen ja einerseits wollten, aber andererseits auch unattraktiv fanden. Gerade weil Frauen fortwährend nach dieser Sicherheit suchten, die sie von den Männern nicht bekämen, vermittelten sie Gefühle von Abhängigkeit und Bedürftigkeit, so Eichenbaum und Orbach. Die Zirkularität, die aus dieser Grundprämisse entstehe, sei folgende: Die Frauen äußern Unzufriedenheit, weil ihnen „etwas“ fehlt, die Männer fühlen sich grundlos kritisiert, eingeengt und gegängelt, weswegen sie sich zurückziehen und dann noch weniger für die Frau da sind. Sie klammert / kontrolliert / kritisiert noch mehr, er zieht sich noch mehr zurück …

Dieser Mechanismus werde laut Eichenbaum und Orbach besonders dann deutlich, wenn die Frau sich aus der Beziehung löse, ihre eigene Stärke entdecke und sich selbständig fühle. Solange sie den Mann brauche, gebe sie ihm Sicherheit, denn er könne meinen, jederzeit zu ihr zurückkommen zu können. Verstehe er, dass das nicht mehr möglich sei, werde ihm seine Abhängigkeit bewusst. Dann werde sie womöglich sogar wieder attraktiv für ihn. Die vielen Femizide könnten aber auch dafür sprechen, dass diese Selbständigkeit von Männern als so bedrohlich wahrgenommen wird, dass sie die unabhängig erscheinenden Frauen zerstören.

Für Paare kann die beschriebene Dynamik in ein Dilemma führen: Der Mann soll fürsorglich und verständnisvoll, aber kein „Weichei“ sein. Die Frau soll Heilige und Hure zugleich sein: unerreichbar, aber jederzeit zur Verfügung stehen. Sie gibt ihre eigenen Grenzen auf und steht emotional zur Verfügung, soll aber gleichzeitig „für sich stehen“. Sie soll (will?) omnipotent und zuverlässig sein.

Diese Muster wurden auf die hier dargestellte Art und Weise beschrieben, um sie sichtbar, besprechbar und veränderbar zu machen. Eichenbaum und Orbach hofften, dass Frauen und Männer die Fähigkeit zu Bindung und Individuation gemeinsam entwickeln würden.

Andrea Ebbecke-Nohlen machte die Diskussion über Bindung und Individuation insofern für die systemische Arbeit nutzbringend, als sie sie zu einem Fokus machte: Wie lässt sich Bindung und Distanz so leben, dass es in der jeweiligen geschlechtsspezifischen Prägung bekömmlich ist? Wann werden Grenzziehungen von wem als zu stark oder zu schwach erlebt und was muss passieren, damit alle Teilnehmenden einer Kommunikation sowohl Bindungserfahrungen machen als auch Eigenständigkeit erleben können?

Diesen Fokus halte ich auch heute noch für wichtig. Gerade wenn Beziehungen offen und vielfältig gestaltet werden sollen, ist es hilfreich, auf solche Dynamiken zu achten.

Wo stehen wir eigentlich mit der Gleichheit in der Kommunikation zwischen den Geschlechtern?

Auf diesem Blog geht es darum, weibliche Perspektiven auf den systemischen Ansatz zu zeigen, und auch darum, zu zeigen, welchen Einfluss die Frauen auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes hatten. Dieser Prozess hat vor Jahrzehnten begonnen, und wir könnten uns fragen, wie weit wir eigentlich gekommen sind, gerade aus therapeutisch-beraterischer Sicht. Als eine, die in den achtziger Jahren begonnen hat, sich mit feministischen Perspektiven zu beschäftigen, interessiert es mich, wie jüngere Frauen das heute sehen. Inwiefern sind die Herangehensweisen von Frauen damals für sie relevant, was ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, welche Themen bleiben aktuell und herausfordernd, und welche werden heute ganz anders gesehen? Und welche weiblichen Perspektiven sind heute im Alltag des systemischen Arbeitens gang und gäbe? Welche gilt es, neu zu diskutieren, für welche sollten wir uns neu sensibilisieren?

Zunächst zur Frage, wie sich die Beziehungen und die Kommunikation zwischen den Geschlechtern bis heute entwickelt haben. Überwunden scheint die alleinige Zuständigkeit und Rolle der Frauen als „nur Hausfrau und Mutter“ und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom alleinverdienenden Ehemann. Doch wie weit ist es damit gediehen, die Fürsorge- und Erziehungs- sowie Hausarbeit mit anderen zu teilen? Und was heißt es, dass die Rollen sich angeglichen haben? „Irgendwie“ scheinen wir zu wissen, dass es noch einiges zu klären gibt in Bezug auf geschlechtsstereotype Verhaltensmuster, auch wenn sie nicht mehr so eindeutig auf männlich oder weiblich definierte oder gelesene Menschen zutreffen.

Da zeigt sich im Zusammenleben, dass die eher männlich sozialisierten Menschen sich stärker dafür verantwortlich fühlen, das finanzielle Wohlergehen zu sichern, und dass sie (wie ist es nur dazu gekommen?) die lukrativeren Jobs haben und deshalb keine Elternpause einlegen, zumal es im Berufsleben immer noch nicht selbstverständlich ist, dass Männer genau wie Frauen eine Familienpause machen. Und die eher weiblich sozialisierten Menschen haben mehr im Blick, was getan werden muss, damit der Haushalt reibungslos läuft und die Kinder zu den jahreszeitlichen Anlässen oder zum Geburtstag die richtigen Dinge mitnehmen.

Womöglich sind auch in den Auseinandersetzungen des Zusammenlebens verdächtig „typische“ Verhaltensmuster oder Missverständnisse zu sehen, z.B.: „Sie“ fühlt sich nicht gesehen, „er“ hat das Gefühl, dass er ständig kritisiert wird. „Er“ mauert, „sie“ nervt. Und im Beratungskontext: „Sie“ ist den Beratenden unsympathisch, weil sie sich einmischt, fordert, den Profis sagen will, wie sie ihre Arbeit machen sollen, während „er“ sich eher im Hintergrund hält – was erst einmal ganz angenehm ist. Und dann fragt man sich, was „sein“ Anteil an der Beziehungsdynamik eigentlich ist.

Zahlen zeigen, dass Frauen immer noch viel öfter Therapie aufsuchen oder über die Therapien als „depressiv“ definiert werden, während Männer vielfach versuchen, ihren Depressionen zu entkommen durch übersteigerten Aktionismus und Suchtverhalten (s. z.B. https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/depressionen-maenner-100.html).

In öffentlichen Auseinandersetzungen hat sich viel verändert, doch es finden sich auch viele alte Muster wieder bzw. weiterhin: Frauen fühlen sich von Dingen, die Männer sagen und tun, diskriminiert und kritisieren heftig. Männer reagieren darauf mit dem Vorwurf, es „fehle Sachlichkeit“ und die Kritik werde zu emotional vorgetragen, so dass sie sich dann nicht mehr mit den Inhalten der Kritik auseinandersetzen wollen. Zuerst sollen die Frauen von ihrer Art, zu kritisieren, Abstand nehmen und sich auf die von den Männern definierten Regeln der Auseinandersetzung einlassen (s. auch ausführlich: https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/anstrengend-sein/).

Sich an die Spielregeln anpassen – das taten Frauen auch, als sie in den achtziger und neunziger Jahren ihr Verhältnis zur Macht thematisierten und versuchten, sich Macht anzueignen, um Unabhängigkeit zu erreichen. Mittlerweile versuchen Frauen häufig, flexibel mit „Kampfangeboten“ umzugehen: sich da auf die von Männern definierten Spielregeln einlassen, wo es sein muss, um sich durchzusetzen, dann aber andere Kulturen des Umgangs etablieren. Im beruflichen Bereich haben sich Machtverhältnisse verschoben, und für effektives Arbeiten wird eher nach anderen Formen der Zusammenarbeit gesucht, wie die Trends zu „New Work“ (z.B. Agilität) zeigen. Dafür sind weiblich sozialisierte Menschen oft viel besser aufgestellt, wenn sie auf den Einsatz von Macht verzichten. Hier tun sich gerade interessante Entwicklungen im Miteinander auf: Wo bleibt die Macht, wer setzt sie wie ein und welche alternativen Verhaltensweisen haben welche Auswirkungen?

Nach meinem Dafürhalten wäre es an der Zeit, eine Diskussion darüber zu führen, welche Verhaltensweisen unser Miteinander nach wie vor auf eine Weise bestimmen, dass eine genderspezifische Zirkularität entsteht? Wir könnten Kommunikation daraufhin untersuchen: Wer nervt hier wen aufgrund welchen Verhaltens, und was hat das mit unserer geschlechtsspezifischen Sozialisation zu tun? Wer ist (kommunikativ) wofür zuständig? Wofür ist genderspezifisches Verhalten eine Lösung? Mal angenommen, wir würden unsere Gefühle und Verhaltensweisen tauschen, wer wäre worüber überrascht / erfreut / beängstigt / empört? Wir können ja nicht einfach entscheiden, uns nicht geschlechtsspezifisch oder andersgeschlechtlich zu verhalten. Dafür müssen wir erst einmal genau anschauen, wo und wie wir das tun, und welcher Kontext zu welchem geschlechtsspezifischen Verhalten einlädt. Im nächsten Beitrag werde ich darauf detailliert eingehen.

Alles in beste Ordnung bringen

2021 lief der Film „Alles in bester Ordnung“ von Natja Brunckhorst in den Kinos, nun ist er in der ARD-Mediathek (bis 1.8.24) zu sehen. Er handelt von Marlen und Fynn. Während Fynn versucht, mit möglichst wenig Dingen auszukommen, hat Marlen im Laufe der Jahre so viel angesammelt, dass es schwierig ist, sich in ihrer Wohnung zu bewegen.* Da Fynn wegen eines Wasserschadens gerade keine Bleibe hat, strandet er bei Marlen. Die versucht, das Chaos in ihrer Wohnung vor der Außenwelt geheim zu halten. Sie lebt deshalb ein recht isoliertes Leben, und so lässt sie auch Fynn nur sehr widerwillig in ihr kleines, chaotisches Reich. Und es kostet sie Überwindung, ihm gegenüber einzugestehen, dass sie mit dem Zustand in ihrer Wohnung ein Problem hat. Denn eigentlich liebt sie Dinge, und mit vielen davon verbindet sie auch wichtige Erinnerungen. Viele andere Dinge hält sie für zu schade zum Wegwerfen. – Was ja durchaus zum Gedanken der Nachhaltigkeit passt. Doch die Unordnung wächst ihr über den Kopf. Fynn fühlt sich berufen, Marlen zu helfen, sich von Dingen zu trennen. Grundsätzlich begrüßt Marlen das, bei der Umsetzung jedoch kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Verschiedene Herangehensweisen scheitern, bis Fynn sie irgendwann einlädt, mit ihr auf eine Leiter zu steigen und von oben auf ihre mit Dingen vollgestellte Wohnung zu schauen. Und von dort oben entdeckt Marlen ein Ordnungsprinzip, nach dem sie und Fynn die Dinge dann in der Wohnung anordnen. Von dieser Ordnung aus kann sie die Dinge nach und nach loslassen und sich auf Beziehungen zu anderen Menschen einlassen.

Was für ein schönes Bild für systemische Beratung und Therapie! Wenn wir Beratung als soziales System verstehen, können wir sagen, wir bieten verschiedene Sinndeutungsmöglichkeiten an und laden zur Beobachtungsperspektive 2. Ordnung ein. Der Film versinnbildlicht das, wenn Fynn Marlen einlädt, mit ihm auf die Leiter zu steigen und ihr Chaos von oben anzuschauen, um zu sehen, was sie nicht sieht, wenn sie sich mittendrin bewegt. Beratung und Therapie wirkt, systemtheoretisch gesprochen, dadurch, dass das psychische System der Klient_innen vor dem Horizont verschiedener Möglichkeiten auswählt, indem sich die Psyche der Klient_in entscheidet, was für die eigene Handlungsfähigkeit relevant ist. Das psychische System sucht sich eine neue Ordnungsform. Wiederum mit der Filmmetapher gesprochen: Es geht nicht darum, andere dazu zu bewegen, sich von etwas zu trennen, sondern es in eine neue Ordnung zu bringen. Im Film geht das Loslassen dann auf einmal ganz leicht.

Ein anderer Aspekt des Films weist auf die weibliche Brille der Filmemacherin hin. Natja Brunckhorst geht sehr liebevoll mit der Motivation der Protagonistin für die Hortung der Dinge um. Für jede Bindung an einen Gegenstand gibt es mindestens einen guten Grund. Hier wird ein weiblicher Blick sichtbar, der nicht achtlos mit Dingen umgeht, sondern darauf trainiert ist, Gegenstände sehr bewusst wahrzunehmen. Die Sozialisation als Mütter und Hausfrauen ist zwar schon längst nicht mehr Teil des weiblichen Selbstverständnisses, und Männer können als Väter und Hausmänner diesen Blick ebenfalls anwenden. Der weibliche Blick wird jedoch weiter in dieser Tradition geprägt, wenn auch nicht mehr explizit. Anfang der achtziger Jahre beschrieb Thomas Ziehe diesen so trainierten weiblichen Blick mit dem Satz: „Die Liebesarbeit der Mutter muß durchs Nadelöhr der Hausarbeit, die Arbeit am Subjekt drückt sich aus in dem Dienst an den Dingen.“*

Aus systemischer Sicht lässt sich das dergestalt reframen, dass ein weiblicher Blick auf die Dinge (den Männer und Menschen anderer Geschlechtsdefinitionen natürlich auch haben und nutzen können) mit einem ästhetischen Anspruch und der Beibehaltung einer gewissen Ordnung auf bereichernde Weise eingesetzt werden kann.

*Thomas Ziehe: Zugriffsweisen mütterlicher Macht. in: Gehrke, C., Treusch-Dieter, G. u.a. (Hg.) 1984: Frauen Macht. Konkursbuchverlag. S. 45-53

Sich erreichen, berühren, verändern

Am 30.10.1993 wurde die Systemische Gesellschaft (SG) gegründet, und im Juni diesen Jahres feierte die SG ihren 30. Geburtstag mit einer Jubiläumstagung. Diese wurde zu Ehren Kristina Hahns veranstaltet. Kristina war langjähriges SG-Mitglied und mehrere Jahre im Vorstand der SG engagiert. Das Gebaren der Männer im Verband beobachtete und kommentierte sie aus feministischer Perspektive und brachte selber eigene Akzente im Verband ein. Im Frühjahr 2020 starb Kristina Hahn viel zu früh. Sie ermöglichte der SG die Finanzierung verschiedener Projekte, u.a. den Kristina-Hahn-Preis*, der in diesem Jahr an vier Gruppen ging, die sich mit spannenden Aktionen zur Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter engagieren. Und Kristina Hahn wünschte sich eine inspirierende Tagung.

Es begann mit einem Vortrag von Hartmut Rosa zum Tagungsthema „Resonanzen“. Rosa definiert Resonanz als Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Objekt gegenseitig erreichen, berühren und verändern. Er bezeichnet Resonanz als Urform der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Das Subjekt wird berührt (affiziert) und antwortet (à E-motion). Resonanz ist nicht kontrollierbar. Das steht im Widerspruch zur Moderne, die auf Verfügbarmachung und Kontrolle als Grundmodus basiert. Der wachsende Zwang zur Beschleunigung macht den Menschen Angst und produziert schuldige Subjekte, weil wir es nie schaffen, den Ansprüchen von außen gerecht zu werden.

Rosa stellt die Frage, ob Krankheit als Verlust der Resonanzfähigkeit angesehen werden kann. So ließen sich Essstörungen als Weltbeziehungsstörungen bezeichnen: Anorexie (Magersucht) als Versuch, Weltberührung zu vermeiden, Adipositas (Fettleibigkeit) als einseitige, sich steigernde Weltaneignung, Bulimie (Ess-Brechsucht) als Aneignung ohne Anverwandlung und Orthorexie (Angst, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden) als Angst vor Unverfügbarkeit, also als Angst, über etwas nicht verfügen zu können.

An dieser Stelle wäre eine geschlechtsspezifische Differenzierung interessant gewesen. Zwar steigt die Zahl männlich gelesener Personen mit Essstörungen, doch sind sie immer noch sehr viel häufiger bei (jungen bzw. sich entwickelnden) Frauen verbreitet.** Hier könnte man verschiedene Hypothesen diskutieren: Scheitern Heranwachsende, die sich in ihrer Identitätsfindung mit weiblichen Stereotypen auseinandersetzen, besonders häufig an der Erfüllung dieser vermuteten Erwartungen (z.B. „Schönheits“-Idealen)? Oder werden bei der Sozialisierung in Richtung männlicher Stereotype andere Modelle gelebt, die einen gestörten Weltbezug zum Ausdruck bringen, wie z.B. über Computerspiele oder Gewaltphantasien? …

Für Beratung und Therapie hält Rosa die Herstellung von Resonanz für wichtig und die Fähigkeit dazu bezeichnet er als therapeutische Kompetenz. Das passt zu dem, was Sarah Walther im letzten Beitrag dieses Blogs geschrieben hat (https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/die-kraft-von-duempelsitzungen/), und zu den Forschungsergebnissen, die deutlich machen, dass die Herstellung einer guten Beziehung schulenübergreifend einen wichtigen Faktor für das Gelingen von Therapie darstellt. Laut Rosa kann in Beratung und Therapie gegen die Verdinglichung von Beziehungen durch Digitalisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Automatisierung über Resonanzen wieder Weltbeziehung hergestellt werden.

Ein großartiger Prozess ergab sich auf der Tagung aus einem Workshop mit der Kunsttherapeutin Franziska Janker. Wir hielten uns ein Blatt Papier vors Gesicht und malten darauf die Umrisse: Augen, Nase, Mund und Außengrenzen des Gesichts. Dieses Blatt gaben wir unserer/m Partner_in, die/der die Umrisse mit dem füllten, was sie/er im Gesicht des Gegenübers sah. Die/der Besitzer_in des Gesichts erhielt das Blatt zurück und markierte auf einem darüber gelegten, transparenten Papier das, was ihr/ihm wichtig erschien. Aus dem anschließenden Gespräch darüber ergaben sich in meinem Duo spannende Erkenntnisse: Nicht das, was mir mein Gegenüber vermittelt, sondern das, was ich aus dem lese, wie mein Gegenüber mich beschreibt, erfahre ich Neues über mich und mein Verhalten. Und es wurde erfahrbar, wie ähnliche (Lebens-) Erfahrungen in Beziehungen als Resonanz spürbar werden und eine Nähe, Offenheit … schaffen, auch wenn dies nicht bewusst wahrnehmbar wird. Dies muss nicht immer eine positive Erfahrung sein. Wir erörterten das in unserem Duo am Beispiel Gewaltbeziehungen. Es entstehen zwar negative, aber solche Resonanzen, die womöglich als vertraut wahrgenommen werden. In Beratungsprozessen dieser Resonanz nachzugehen, könnte hilfreich sein. Man könnte fragen, auf welche Weise Gewalterfahrungen auf beiden Seiten so utilisiert werden können, dass eine Resonanz herbeigeführt wird, die von Gewaltanwendung wegführt.

Hauptredner auf der Tagung waren – wie fast immer – Männer. Aber das Abschlusspanel war wie schon auf der SG-Tagung 2019 ausschließlich mit Frauen besetzt: Yasmine M´Barek, Journalistin, Autorin und Podcasterin, Ulrike Borst, Systemische Psychotherapeutin & Supervisorin, Angelika Ivanov, Pressereferentin bei der GLS Bank, Emily M. Engelhardt, Systemische Beraterin und Supervisorin und Professorin für „Digitale Transformation in sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft“, Shary Cheyenne Reeves, Moderatorin, Schauspielerin, Autorin, sowie Cordula Stratmann, Systemische Familientherapeutin und Komikerin. Bevor die Podiumsdiskussion begann, hatten die Frauen sich schon getroffen, wurden von der Moderatorin und systeme-Redakteurin Tanja Kuhnert gut gebrieft und diskutierten miteinander. Sie kamen also „warmgemacht“ wie man beim Sport sagen würde, auf die Bühne, schon sehr gut in Resonanz miteinander, wie die Tagungsteilnehmenden das vermutlich beschreiben würden. So brachten sie jede Menge Energie auf das Podium. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Zeit musste Moderatorin Tanja Kuhnert sich auf wenige Fragen beschränken, um die sechs Frauen alle zu Wort kommen zu lassen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten die Frauen, welche Resonanzen sie in ihrer Welt besonders wahrnehmen. Es entstand ein sehr lebendiger Austausch über aktuelle gesellschaftliche Phänomene und darüber, welche Impulse wir geben können, um gute Resonanzen entstehen zu lassen. Wie es eben mit Resonanzen so ist, steckten sich die Frauen gegenseitig mit ihrer Leidenschaft und Lebendigkeit an. Shary Cheyenne Reeves brachte es so auf den Punkt: „Wir schieben so viel Energie vor uns her, lasst uns die doch gemeinsam nutzen“!

*https://systemische-gesellschaft.de/service/auszeichnung/kristina-hahn-preis-2023/

**Laut der Barmer Krankenkasse gibt es sehr unterschiedlich Zahlen dazu. Einer Schätzung zufolge kommen auf 61 Frauen 18 Männer. s. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/essstoerungen-1055178#Wie_hu00E4ufig_sind_Essstu00F6rungen-1055178

Nur einmal im Leben „nein“ gesagt

Ingrid ist über 93 und allein. Sie fürchtet, sie wird nicht mehr lange so wie bisher in ihrer heiß geliebten Wohnung leben und sich um alle ihre Belange selber kümmern können. Sie wird abhängig von der Hilfe anderer sein. Und das hasst sie wie die Pest.

Sie, die immer eine sehr umgängliche, offene Frau war, fängt an, sich zu beklagen und alles abzulehnen, was ihr helfen könnte. Sie sagt: „Es fällt mir so schwer, ‚nein‘ zu sagen, und das einzige Mal, als ich es getan habe, habe ich es teuer bezahlt. Ich befürchte, dass andere über mich bestimmen, wenn ich mir helfen lasse.“

Ingrid wuchs mit drei Geschwistern in einem Arbeiterviertel auf. Nächtelang mussten sie im Hausflur ausharren, wenn der volltrunkene Vater wieder einmal die Kinder und ihre Mutter verprügelt und dann hinausgeworfen hatte. Schließlich wurde Ingrid von der Fürsorge aus der Familie genommen und auf einen Bauernhof verfrachtet, auf dem sie als billige Arbeitskraft ausgenutzt wurde. Nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus konnte sie es kaum glauben, dass es einen Mann gab, der sie heiraten wollte. Sie bekam zwei Töchter. Sie passte sich sehr an, und mit den Jahren begegnete ihr Mann ihr mit immer größerer Verachtung. Als ihre Töchter am Beginn ihrer Pubertät waren, halfen sie ihrer Mutter dabei, ihren Mann mit größerer innerer Distanz zu sehen. Doch für Ingrid gab es kein anderes Lebensmodell.

Die Jahre vergingen, und eines Tages kam sie an einem Gebäude vorbei, an dessen Tür das Schild „Eheberatungsstelle“ hing. Und da fing es in ihr an zu arbeiten. Als der Vorsatz herangereift war, ging sie zu einer Beratung durch diese Tür. Im Laufe des Gesprächs fragte die Beraterin sie: „Haben Sie schon mal an Scheidung gedacht?“ – „Nein!“ entfuhr es ihr. Das hatte sie nie als Möglichkeit für sich gesehen. Sie ging nach Hause, und es arbeitete wieder in ihr. Sie kämpfte einen jahrelangen, inneren Kampf.

Eines Tages, die Töchter waren erwachsen und ausgezogen und der Mann war mal wieder „zur Kur“, nahm sie ihre Siebensachen und zog aus. Sie hatte alles gut vorbereitet. Von da an genoss sie ihr Alleinsein in vollen Zügen – wenn die Sonne in ihr Zimmer schien oder wenn sie im Schwimmbad ihren Körper im Wasser er-leben konnte. Sie arbeitete als Putzfrau, da sie keine Ausbildung hatte. Sie besuchte Bildungsveranstaltungen und lernte andere Frauen ihres Alters kennen, mit denen sie sich offen und ehrlich austauschen konnte. Und so wurde sie alt.

Mit Mitte 80 wurde sie sehr krank und musste im Krankenhaus behandelt werden, doch sie erholte sich wieder. Ihre Tochter bat sie, zu ihr in die Schweiz zu ziehen, sie würde ihr ganz in ihrer Nähe eine kleine Wohnung suchen. Ingrid konnte sich nicht vorstellen, woanders als dort zu leben, so sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und so sagte sie „nein“. Da brach ihre Tochter den Kontakt zu ihr ab. Die andere Tochter solidarisierte sich mit ihrer Schwester und beendete ebenfalls den Kontakt zu ihrer Mutter. Ingrid verstand die Welt nicht mehr. Aber sie gab nicht nach, und ist nun allein.

Ingrid ist keine Heldin, und dennoch bewundernswert. So wenig Türen, die ihr offen standen, doch als sie einmal erfahren hatte, wie sich ihr Leben „richtig“ anfühlt, hatte sie mit Mitte 50 den Mut, diesem Kompass zu folgen. Sie brauchte viel Zeit, um herauszufinden, was „richtig“ für sie hieß. Wäre sie bei uns in der Beratung oder Therapie – könnten wir aushalten, wenn sie als Klientin keine „Aha-Momente“ hätte, sondern „das Richtige“ sich nach und nach anschleicht und Gestalt annimmt? Ich bin immer wieder fasziniert davon, wenn die „Aha-Erlebnisse“ sich so völlig unverhofft ergeben, mal plötzlich, mal nach und nach, kaum merklich, sich entwickelnd. Und wenn dieses Erleben dann die Kraft entfaltet, Ängste und Unsicherheiten oder Gewohnheiten wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen.


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(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Realität ist relativ?

Viele von uns haben sich in den letzten Monaten die Augen gerieben und fassungslos zur Kenntnis genommen, wie sich ganz neue Gräben auftaten. Menschen, von denen wir gestern noch dachten, dass sie die Welt ähnlich sehen wie wir, relativieren plötzlich Menschenrechte oder tun – selbst gut dokumentierte – Gewaltverbrechen als „Fake News“ ab. Wenn „Opfer“ (z.B. des Kolonialismus) Gewalt ausüben, dann ist das angeblich gerechtfertigt durch ihren Opfer-Status. Selbst Feministinnen leugnen sexuelle Gewalt gegen Frauen, wenn es sich bei den Opfern um angebliche „Täterinnen“ handelt.*

Um zumindest zu verstehen, wie so etwas passieren kann, und um sich darüber auseinandersetzen zu können, kann der soziale Konstruktionismus, der von Mary und Ken Gergen in die systemische Welt getragen wurde, Anregungen geben.

Demnach ist nichts real, solange Menschen nicht darin übereinstimmen, dass es real ist. Immer, wenn Menschen definieren, was „Wirklichkeit“ ist, sprechen sie aus einer kulturellen Tradition heraus. Eine Aussage wie „Es ist nichts.“ würde bei Konstruktionistinnen lauten: „Es ist nichts für uns.“ Es geht nicht darum, zu entscheiden, was wahr und falsch ist. Wir müssen aber auch nicht darauf verzichten, etwas als wahr zu benennen. Die Frage ist: wofür ist das nützlich? Welche Konsequenzen hat welche Realitätskonstruktion? Innerhalb einer Tradition sind Annahmen über Wahrheit für erfolgreiches Funktionieren von zentraler Bedeutung. Wenn wir z.B. davon ausgehen, dass die medizinische Forschung das Corona-Virus als gefährlich identifizieren und uns dementsprechende Verhaltensregeln empfehlen kann, ist es wichtig, diese „lokale Wahrheit“ zu etablieren, um so viele Menschen wie möglich vor dem Tod zu bewahren. Aber auch die Wissenschaft selbst geht ja nicht davon aus, dass es die eine universelle Wahrheit gibt, sondern dass unsere Erkenntnisse darüber, was „wahr“ sein könnte, sich stets weiterentwickeln.

Wenn Konflikte wie die oben skizzierten entstehen, ist die Frage: Wie können wir die unterschiedlichen Bedeutungsgebungen näher zusammenbringen? Wie sprechen wir miteinander? Was wird gewichtig? Wann wird geschwiegen? – Für mich klingt es herausfordernd, das Argumentieren sein zu lassen (weil Argumente ein „Gegeneinander“ sind). Aber wenn ich lese, dass es darum geht, moralische Ideologien als soziale Konstruktionen zu kennzeichnen und Dialoge über multiple Wirklichkeiten zu suchen, dann halte ich das für einen Weg, über den man die Gräben womöglich wieder schließen oder zumindest Annäherungen herbeiführen kann. Zum Beispiel: Was würde passieren, wenn in bestimmten Kreisen die sexuelle Gewalt an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 als „ist auch für uns real“ angesehen würde? Was müsste sich in deren Selbstverständnis, in deren Diskursen verändern?

Auch diese Aussage erscheint hilfreich für die Auseinandersetzung mit befremdlich wirkenden Positionen: Die Suche nach dem überlegenen moralischen Code ist nicht fruchtbar. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir mit Wertekonflikten umgehen können: Hinter welchen für real oder nicht real gehaltenen Annahmen stehen welche Werte und wohin führt uns die Verfolgung dieser Werte? Wie lässt sich das dann weiterdenken? Welche Annahmen wären für uns oder andere unbequem?

In weiblichen Diskursen sind wir uns heutzutage weniger denn je einig darüber, was eigentlich eine „richtige“ feministische Position sein kann. Auch da gibt es viele verschiedene Traditionen, Sozialisationen und Erfahrungen, aus denen heraus wir auf „Frau“ und Weiblichkeit schauen. Gerade die Diskussion um Diversität ist herausfordernd für den konkreten Alltag. Ich würde mir wünschen, dass wir uns trauen dürfen, verschiedene Positionen zu vertreten, um dann – ganz im Sinne des sozialen Konstruktionismus – zu fruchtbaren Auseinandersetzungen zu kommen.

*s. z.B. unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/gewalt-der-hamas-an-israelinnen-schweigen-der-metoo-bewegung-ld.1767977

Narrative, die in uns wirken

In den letzten Jahren sehen wir uns stark verbreiteten, aggressiven Narrativen ausgesetzt, die feministische, linke, grüne, diverse … – fortschrittliche – Ziele und Auffassungen an den Pranger stellen und über Skandalisierungen hohe Empörungswellen dagegen erzeugen. Weibliche Perspektiven stehen besonders im Fokus der „Anti-Diskurse“. Wenn z.B. gegen das Gendern von Sprache gehetzt wird, spricht das nicht nur die eigene rechte „Blase“ an, sondern die entsprechenden Diskurse sickern bei Menschen aus vielen Milieus ein, die das Gendern irritiert oder herausfordert. Immer häufiger reproduzieren Menschen aus liberalen Milieus rechte Narrative, ohne zu merken, woher sie stammen. So werden z.B. grüne Politiker_innen als „ideologiegeleitet“ bezeichnet, demgegenüber man die „Realität“ oder die „Fakten“ behaupten müsse. Zu diesen Positionen könnte man inhaltlich vieles sagen. Worum es mir aber geht, ist mein Erschrecken darüber, wie unbemerkt, wie hoch wirksam und wie weitgehend die Verbreitung dieser Narrative ist. Und natürlich geht es auch um die Frage, welche Strategien wir gerade aus weiblicher Perspektive dagegen entwickeln können.

Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks sprach in den 1980-er-Jahren vom „Narrare ergo sum.“ Heute ist der „narrative turn“ in vielen Bereichen angekommen. „Storytelling“ gilt als erfolgreiche Strategie der Beeinflussung.

 „… wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen …“* – Das war die Frage, die Michel Foucault Anfang der siebziger Jahre durch sein Werk „Sexualität und Wahrheit“ leitete. Er zeigte darin, dass Sexualität mitnichten, wie oft angenommen, ausschließlich tabuisiert wurde, sondern dass eine „Diskursivisierung des Sex“ stattfand, über die sich Ideologien quasi unsichtbar und unbemerkt in den Individuen tief verankern.

Der systemische Ansatz greift u.a. auf den sozialen Konstruktionismus und auf den narrativen Ansatz zurück. Demnach entsteht Wissen in Beziehungen innerhalb kultureller und historischer Kontexte, über Texte und Geschichten. Der Blick auf den Kontext der Individuen muss daher die Eingebundenheit der Einzelnen in Kultur und Gesellschaft einschließen. Der kulturelle Kontext legt fest, was akzeptable, erzählbare Geschichten sind. Erfahrungen werden eingeordnet und mit Bedeutung versehen. Für unterschiedliche Gruppen ist Unterschiedliches gültig (richtig-falsch, gut-schlecht). Daher ist nicht die passende Beschreibung, sondern die Koordination vieler gleichwertiger Beschreibungen wichtig.

Mit einem systemischen Blick (in Beratung und im Alltag) zu agieren heißt, die vertraute Art, die Wirklichkeit zu sehen, unvertraut machen, Narrative zu dekonstruieren und zu verflüssigen. Der weibliche Blick auf dominante männliche Narrative kann helfen, Unterschiede (Differenzen) überhaupt wahrzunehmen, wachsam dafür zu bleiben, auf die Konstruktion dieser Narrative hinzuweisen und alternative Narrative dagegen zu setzen.

* Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1988. 2. Auflage. S. 21