Es gibt ein großes Interesse an gendersensiblen Aspekten im systemischen Arbeiten, aber meines Wissens recht wenig aktuelle Beiträge dazu. Auch ich habe hier keine beizutragen, aber ich hoffe auf entsprechende Impulse von anderen. Dazu möchte ich hier und im nächsten Beitrag einen „Aufschlag“ machen und an ältere feministische Diskussionen in der Systemik anknüpfen in der Hoffnung, dass diese aufgegriffen und in aktuelle Diskurse überführt werden können. Denn nach meiner Meinung sind die „alten“ Diskurse auch heute noch relevant und könnten aktuelle Diversitäts-Diskurse bereichern.[1]
Rationalität und Wirklichkeitskonstruktion
Als wichtige Thematik, die auch heute noch eine große Relevanz hat, betrachte ich die Diskussion um Rationalität und wissenschaftliche Erkenntnis. Diese wurde vor 40-50 Jahren in feministischen Kreisen geführt. Aber auch in der damaligen philosophischen Diskussion der Postmoderne war sie zentral, und sie hat die erkenntnistheoretische Grundlage für die Systemik gelegt. Die kartesianische Grundauffassung, nach der der Mensch als unabhängiges Subjekt Erkenntnisse über die Welt als Objekt gewinnen kann, wurde gerade vom Konstruktivismus fundamental hinterfragt. Wir können Signale nur so wahrnehmen, wie unsere Sinne sie auf ihre ganz eigene Art verarbeiten. Erkennen entsteht durch Unterscheidung, und erst durch die Unterscheidung entsteht das Objekt. Der soziale Konstruktionismus geht über diese individuelle Sicht hinaus und konstatiert, dass Wissen im gesellschaftlichen, kulturellen Kontext entsteht und daher nicht allumfassend sein kann. Auch wenn diese Positionen heute auch aus naturwissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar sind, besteht der Glaube an die Möglichkeit objektiver, rationaler Erkenntnis weiter und wird vor allem von Männern (aber nicht nur) vertreten, die immer noch der Meinung sind, sie könnten Welt objektiv wahrnehmen und beschreiben, und die immer noch so tun, als könnten sie Gefühle und eigene Motive außen vor lassen. Dabei ist die Emotion gerade Quelle und Richtung der Erkenntnis (Maturana).[2]
Marianne Krüll beschreibt das So-tun-als-Ob der Männer so:
„Wenn feministische Wissenschaftlerinnen fordern, daß Wissenschaft ihre wertenden Maßstäbe , ihre „Parteilichkeit“ offenlegen soll, begegnet man ihnen meist mit besonders heftiger Ablehnung.“[3]
Auch wenn die systemische Sichtweise die Kritik am Subjekt mit Feministinnen teilte, waren diese nicht damit einverstanden dass systemisches Vorgehen lange Zeit stark auf das Reden über Verhalten fokussierte. Systemikerinnen verwiesen zum einen darauf, dass Gefühle immer eine – entscheidende – Rolle in menschlicher Kommunikation spielen und deshalb auch in den Fokus systemischen Arbeitens gehören. Zum anderen postulierten sie, dass nicht-rationale Wahrnehmungsvorgänge, wie der über die Intuition, wichtige Arbeitsmittel für systemisch Arbeitende sind. Dass Gefühle nun in beiderlei Hinsicht zum systemischen Arbeiten dazugehören, war lange nicht so eine Selbstverständlichkeit wie heute.
Bezogen auf den Fokus in der Beratung/Therapie geht der Blick von „… was wäre anders in Ihrem Verhalten? … Was tut X, wenn Y weint?“ auch auf Fragen wie „… was würden Sie anders denken/fühlen? … Was würden die Tränen sagen?“ Zusätzlich wird der ganze Organismus, inklusive des Körpers, als Resonanzmöglichkeit einbezogen.
Diese Art des Arbeitens findet sich auch in der Narrativen Therapie: In unseren Erzählungen geht es nicht darum, was „wirklich“ getan und gesagt wurde, sondern darum, welche Wahrnehmungen, Ideen und Gefühle in der Erzählung über das Geschehen enthalten sind.
„In diesem Prozess des Hervorbringens von Welt ist Erkennen und Werten nicht zu unterscheiden, sie sind Teil der menschlichen ‚Biologie der Erkenntnis‘.“[4]
Für Beratungs-/Therapieprozesses ist die Beziehungsgestaltung auch in der Systemischen Therapie mittlerweile eine Basiskonstante. Irritationen gehören in einen haltenden Rahmen. Empathie, Intuition und vorsprachliche Kommunikation ist nicht nur für die Beziehungsgestaltung wichtig, sondern auch hilfreich, um aus den vielen kommunikativen Angeboten eine relevante Auswahl zu treffen.
Aufwind bekam diese konzeptuelle Umorientierung in den achtziger Jahren durch den Cooperative Approach und die Narrative Therapie, an deren Entwicklung Frauen maßgeblich beteiligt waren. Der Cooperative Approach betont das Nichtwissen der Beratenden und das Expertentum der Klient_innen für ihre eigenen Anliegen. Frauen plädierten dafür, an „typisch weiblichen Gesprächen“, „wie unter Freundinnen“ anzuknüpfen, in denen mit Neugier für bzw. ehrlichem Interesse an dem Erzählten Verbindendes gesucht wird und neue Geschichten entwickelt werden.
Teil 2 wird in 3 Wochen an dieser Stelle veröffentlicht werden.
[1] Es gibt natürlich das tolle Buch von Tanja Kuhnert und Nikola Siller, das eine große Bereicherung und Grundlage darstellt, um frühere Diskussionen für heute fruchtbar zu machen. Auch dieser Blog hat u.a. diese Intention.
[2] s. Krüll, Marianne in: Familiendynamik 12(3) 1987: 228
[3] ebda.: 229
[4] ebda.: 229


