Der Elefant im Zimmer

Eigentlich hatte ich vor, in diesem Text einen Konflikt an meinem Arbeitsplatz und meine Beobachtungen zu Interaktionen zwischen Frauen und Männern zu schildern. Doch: nur beim Daran denken verging mir schon die Lust. In mir sperrte sich etwas, mich erneut in den Ärger und das Ohnmachtsgefühl, das mich begleitete und immer noch nicht ganz loslässt, hineinzubegeben. Ich entschied mich letztendlich für einen ressourcenorientierten Zugang und schreibe nun über das, was nützlich war.

Das Buch „Der Elefant im Zimmer“ von Petra Morsbach (empfohlen von einer geschätzten Kollegin) half mir in dieser Situation nicht das erste Mal aus einer inneren Zwickmühle. Die Autorin beschreibt ausführlich drei Fälle, in denen die Beteiligten (im letzten Fall auch sie selbst) mit den „Mächtigen“ in Konflikt gerieten.

Die Idee entstand aus der eigenen Erfahrung sowie dem Austausch mit Kolleg*innen und Bekannten. Während letzterem entstand bei ihr der Eindruck, dass Konflikte mit „Mächtigen“ nach ähnlichen Mustern abzulaufen scheinen:

  1. Angehörige eines Systems wehrten sich gegen eine problematisch Anweisung oder wiesen auf Fehler hin, in der Erwartung von Abhilfe.
  2. Vorgesetzte ignorierten den Hinweis oder ließen diesen nach einer Scheindiskussion versanden.
  3. Nachhaken führte ironischem Entgegenkommen, Spott, Einschüchterungsversuche, Drohungen und Disziplinarmaßnahmen.
  4. Wenn die Kritik am Chef als Kritik an der Institution gesehen wurde, richtete sich die Stimmung der Belegschaft gegen die Kritiker*innen, Solidarität verschwand.
  5.  Korrekturen gab es wenn überhaupt nach schweren Schäden, Skandalen oder Sanktionen.

Morsbach geht mit Hilfe ihrer drei Beispiele von „Widerstand gegen Machtmissbrauch“ auf eine „literarische Erkundungstour“.

Ihre These: Die Verleugnung der Macht (des Elefanten im Raum) ist das Kernproblem.  Liegt bei Personen, die Macht in Institutionen innehaben, eine Kombination aus Machtorientierung (also eines Strebens nach Selbstaufwertung und Anerkennung durch diese Position) UND Machtleugnung, mit der individuelle Verantwortung zurückgewiesen wird („Ich kann da nichts machen.“) vor, entsteht ein Paradoxon, das schwer aufzulösen ist. Weiterhin bemerkt sie, komme erschwerend hinzu, dass jede Person, die das Problem im Verlauf „unwidersprochen hinnimmt, wird zum Komplizen und muss sich angegriffen fühlen, wenn es auf den Tisch kommt.“

Die Autorin legt in ihren Ausführungen den Fokus auf die Dynamiken, die auf die Aufdeckung des Problems folgen, beleuchtet die Sprache, in der die Konflikte geführt wurden, und möchte tiefer liegende (unbewusste) Motive explorieren.

Ihre Frage: Können „Unmächtige“ mit legalen Mitteln Machtmissbrauch praktisch abhelfen? Und wenn ja wie? Ihre Antwort im Nachwort: Jein. „Eigentlich nicht, aber sie sollten es trotzdem versuchen, denn das bewirkt etwas.“

Auch wenn die Konflikte mit „Mächtigen“, in denen ich beteiligt war, nicht ganz diesem Muster entsprachen, erleichterte es mich ungemein, dass es sich anscheinend um eine geteilte Erfahrung handelt. Das Buch gab mir die Chance, sprachliche Muster abzugleichen und in den „Machtkontext“ einzuordnen, auch wenn meine Beispiele in vergleichsweise kleineren Organisationseinheiten stattfanden. Ich fühlte mich dann nicht mehr so ohnmächtig. Eine schöne Erkenntnis war auch, Unterschiede in den Mustern zu entdecken. Ich war zum Glück nie allein als Kritikerin, sondern Teil einer Gruppe und die Solidarität untereinander blieb uns auch erhalten. Es war vor allem eine Solidarität unter Frauen, die sich männlich besetzten Machtstrukturen entgegensetzte.  Und: Auch machte ich die Erfahrung, die die Autorin mit „Eigentlich nein, aber sie wollten es trotzdem versuchen, es bewirkt etwas.“ beschrieb. Ich beobachtete oft kleine, manchmal auch größere Veränderungen, die vielleicht in dieser Dosis und/oder nach etwas verstrichener Zeit für das System verträglich erschienen.

Morsbachs Buch ist für mich einfach gute Unterhaltung, weil die Autorin mich mit ihrem persönlich wirkenden Schreibstil in den Bann gezogen hat. Darüber hinaus gibt sie mit dem Buch die Chance, sich mit bestimmten Mechanismen der Macht vertraut zu machen, und stellt am Ende einen Katalog mit 33 Empfehlungen und Überlegungen zur Verfügung, von denen viele in unterschiedlichsten Konflikten anwendbar erscheinen.

Ich möchte den Text mit einem Gedanken der Autorin beenden, der auf die zirkulären Wirkmechanismen in diesen Konflikten eingeht und mich auch immer wieder etwas demütig werden lässt. Sie kommentiert die Dynamik zwischen den Machausübenden und den Kritiker*innen mit folgenden Fragen: „Sind nicht auch sie in Wechselwirkung aufeinander bezogen? Spielt jeder nur eine Rolle in einem größeren Spiel, das er nicht überblickt? Wer hat recht? Wer entscheidet das? Wer verteilt die Rollen?“

Neulich in der Gruppentherapie

Die Gruppentherapie auf meiner psychiatrischen Station, die ich gemeinsam mit einer Kollegin zwei Mal pro Woche leite, ist eine offene Gesprächsgruppe. Das heißt, es werden keine Themen von den Leitenden vorgegeben, sondern die Teilnehmenden bringen das ein, was sie gerade beschäftigt. Wir führen diese Gruppe angelehnt an die „Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM)“, die zwar die Psychoanalyse im Namen hat, aber mein systemisches Herz definitiv höherschlagen lässt. In der PIM wird die Gruppe als Mehrpersonensystem und soziale Interaktion als Produkt wechselseitiger Kommunikationsprozesse betrachtet. Es wird angenommen, dass sich alles Geschehen in der Gruppe im „Zwischen“ von allen Anwesenden entwickelt und somit auch immer soziale und gesellschaftliche Kontexte berührt. Ausgehend davon kann Verhalten in Beziehungen in der halböffentlichen Therapiegruppe erforscht und mit neuen Verhaltensweisen experimentiert werden (siehe Streeck, 2024).

In einer dieser Gruppen sitze ich nun. Eine Frau und ein Mann Ü50 kommen darüber ins Gespräch, wie schwer es ist, in diesem Alter neue Lohnarbeit zu finden. Sie hätten beide viele Bewerbungen verschickt, jedoch nur Absagen erhalten. Ich bin noch versunken in den Gedanken darüber, was ich gerade in der Gruppe wahrnehme und wie ich mich dazu verhalten möchte, als plötzlich das Gespräch eine neue Richtung einschlägt: „Aber die jungen Leute, die nicht mehr arbeiten wollen, denen wird alles hinterhergetragen!“ Es kommt Leben in die bisher etwas träge Gruppe. Und noch bevor ich selbst meinen plötzlichen Ärger über die Pauschalisierung einer ganzen Generation einordnen kann, geht es weiter: „Und den Ausländern erst…“ „Und den Behinderten…“ folgt darauf. Das Gespräch nimmt Geschwindigkeit auf und hat nun einen deutlich aggressiveren Unterton.

Meine Gedanken rasen ebenfalls. Mein Körper reagiert.  Neben einer für mich normalen Grundanspannung im Gruppensetting, spüre ich, wie mir heiß wird, wahrscheinlich laufe ich auch rot an. Mein Herz schlägt hart und ich spüre mein Blut in den Ohren rauschen.

Wie zur Hölle soll ich jetzt reagieren? Das muss ich auch möglichst schnell tun, damit die Rückmeldung noch passt! Meine Kollegin hat ungünstigerweise den Raum verlassen, weil sie einen Hustenanfall hatte, also muss ich alleine entscheiden. In mir verspüre ich mehrere Impulse: Ich möchte die Gefühle, die entstanden sind, würdigen und meine Patient*innen in ihrer Not ernstnehmen. Gleichzeitig möchte ich unbedingt die abwertenden Äußerungen unterbrechen und mich positionieren. Ich verspüre eine diffuse Angst, die Teilnehmenden vor den Kopf zu stoßen oder der Zensur bezichtigt zu werden, auch mich als „linke Großstädterin“ zu outen. Irgendwie schräg, denk ich.

Ich versuche im Sinne der PIM zu reagieren, stelle ich mich als Interaktionspartnerin zur Verfügung und melde einen Teil meines inneren Dialoges zurück.  Ich schildere meine eigene Ambivalenz zwischen der Einladung, dem Erleben der Anwesenden weiter Raum zu geben und gleichzeitig dem dringenden Impuls, den menschenverachtenden Aussagen Einhalt zu bieten. Die meisten verstehen meinen Wink, ein Teilnehmer schließt jedoch mit einer weiteren herabsetzenden Pauschalisierung an. Ich werde also doch deutlicher und frage den Patienten etwas scherzhaft, ob er meinen Wink mit dem Zaunpfahl mitbekommen hat: Ich möchte nicht, dass diese Art von Aussagen in meiner Gruppe getroffen werden. Er lacht kurz, danach wenden sich die Teilnehmenden thematisch etwas anderem zu.

Nach der Sitzung im Gespräch mit meiner Kollegin versuche ich mit kühlerem Kopf zu verstehen, was möglicherweise gerade passiert ist und welche Fragen für mich daraus folgen. Wie ist diese Interaktion entstanden? Welche Wechselwirkungsprozesse zwischen den Teilnehmen haben möglicherweise eine Rolle gespielt und was habe ich dazu beigetragen? In welchem (inneren) Kontext der Patient*innen ergibt es Sinn, diffuse Aggressionen, die vermutlich im Zusammenhang mit Hilflosigkeit, Kränkung, Trauer und Verzweiflung stehen, gegen bestimmte Menschengruppen zu richten, die nicht für ihr Unglück verantwortlich sind? Von den Gruppenteilnehmenden kam kein Widerspruch zu den Pauschalisierungen. Waren sich tatsächlich alle einig oder blieb etwas ungesagt? Und wenn ja, aus welchen Gründen?

Die Teilnehmenden und damit auch die Themen in unseren Gruppen wechseln meist von Sitzung zu Sitzung, so dass wir in der darauffolgenden Gesprächsrunde nicht mehr anknüpfen. Obwohl mich die Sitzung sehr gefordert hat, wäre ich definitiv neugierig: Welche inneren Reaktionen hatten Patient*innen auf meine Positionierung und auf welche Art könnten wir weiter darüber ins Gespräch kommen?

Mich hinterlässt die Sitzung nachdenklich und berührt. Ich versuche seitdem sensibler dafür zu sein und näher nachzufragen, wenn plötzlich Pauschalisierungen im Raum stehen. Eine Frage, die mich auch beschäftigt: Wie können wir in unserer Arbeit im Kontext der aktuellen politischen Lage einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht? Hinterlasst gern dazu einen Kommentar mit euren Gedanken und kommt mit uns darüber ins Gespräch!

Wo stehen wir eigentlich mit der Gleichheit in der Kommunikation zwischen den Geschlechtern?

Auf diesem Blog geht es darum, weibliche Perspektiven auf den systemischen Ansatz zu zeigen, und auch darum, zu zeigen, welchen Einfluss die Frauen auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes hatten. Dieser Prozess hat vor Jahrzehnten begonnen, und wir könnten uns fragen, wie weit wir eigentlich gekommen sind, gerade aus therapeutisch-beraterischer Sicht. Als eine, die in den achtziger Jahren begonnen hat, sich mit feministischen Perspektiven zu beschäftigen, interessiert es mich, wie jüngere Frauen das heute sehen. Inwiefern sind die Herangehensweisen von Frauen damals für sie relevant, was ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden, welche Themen bleiben aktuell und herausfordernd, und welche werden heute ganz anders gesehen? Und welche weiblichen Perspektiven sind heute im Alltag des systemischen Arbeitens gang und gäbe? Welche gilt es, neu zu diskutieren, für welche sollten wir uns neu sensibilisieren?

Zunächst zur Frage, wie sich die Beziehungen und die Kommunikation zwischen den Geschlechtern bis heute entwickelt haben. Überwunden scheint die alleinige Zuständigkeit und Rolle der Frauen als „nur Hausfrau und Mutter“ und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom alleinverdienenden Ehemann. Doch wie weit ist es damit gediehen, die Fürsorge- und Erziehungs- sowie Hausarbeit mit anderen zu teilen? Und was heißt es, dass die Rollen sich angeglichen haben? „Irgendwie“ scheinen wir zu wissen, dass es noch einiges zu klären gibt in Bezug auf geschlechtsstereotype Verhaltensmuster, auch wenn sie nicht mehr so eindeutig auf männlich oder weiblich definierte oder gelesene Menschen zutreffen.

Da zeigt sich im Zusammenleben, dass die eher männlich sozialisierten Menschen sich stärker dafür verantwortlich fühlen, das finanzielle Wohlergehen zu sichern, und dass sie (wie ist es nur dazu gekommen?) die lukrativeren Jobs haben und deshalb keine Elternpause einlegen, zumal es im Berufsleben immer noch nicht selbstverständlich ist, dass Männer genau wie Frauen eine Familienpause machen. Und die eher weiblich sozialisierten Menschen haben mehr im Blick, was getan werden muss, damit der Haushalt reibungslos läuft und die Kinder zu den jahreszeitlichen Anlässen oder zum Geburtstag die richtigen Dinge mitnehmen.

Womöglich sind auch in den Auseinandersetzungen des Zusammenlebens verdächtig „typische“ Verhaltensmuster oder Missverständnisse zu sehen, z.B.: „Sie“ fühlt sich nicht gesehen, „er“ hat das Gefühl, dass er ständig kritisiert wird. „Er“ mauert, „sie“ nervt. Und im Beratungskontext: „Sie“ ist den Beratenden unsympathisch, weil sie sich einmischt, fordert, den Profis sagen will, wie sie ihre Arbeit machen sollen, während „er“ sich eher im Hintergrund hält – was erst einmal ganz angenehm ist. Und dann fragt man sich, was „sein“ Anteil an der Beziehungsdynamik eigentlich ist.

Zahlen zeigen, dass Frauen immer noch viel öfter Therapie aufsuchen oder über die Therapien als „depressiv“ definiert werden, während Männer vielfach versuchen, ihren Depressionen zu entkommen durch übersteigerten Aktionismus und Suchtverhalten (s. z.B. https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/depressionen-maenner-100.html).

In öffentlichen Auseinandersetzungen hat sich viel verändert, doch es finden sich auch viele alte Muster wieder bzw. weiterhin: Frauen fühlen sich von Dingen, die Männer sagen und tun, diskriminiert und kritisieren heftig. Männer reagieren darauf mit dem Vorwurf, es „fehle Sachlichkeit“ und die Kritik werde zu emotional vorgetragen, so dass sie sich dann nicht mehr mit den Inhalten der Kritik auseinandersetzen wollen. Zuerst sollen die Frauen von ihrer Art, zu kritisieren, Abstand nehmen und sich auf die von den Männern definierten Regeln der Auseinandersetzung einlassen (s. auch ausführlich: https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/anstrengend-sein/).

Sich an die Spielregeln anpassen – das taten Frauen auch, als sie in den achtziger und neunziger Jahren ihr Verhältnis zur Macht thematisierten und versuchten, sich Macht anzueignen, um Unabhängigkeit zu erreichen. Mittlerweile versuchen Frauen häufig, flexibel mit „Kampfangeboten“ umzugehen: sich da auf die von Männern definierten Spielregeln einlassen, wo es sein muss, um sich durchzusetzen, dann aber andere Kulturen des Umgangs etablieren. Im beruflichen Bereich haben sich Machtverhältnisse verschoben, und für effektives Arbeiten wird eher nach anderen Formen der Zusammenarbeit gesucht, wie die Trends zu „New Work“ (z.B. Agilität) zeigen. Dafür sind weiblich sozialisierte Menschen oft viel besser aufgestellt, wenn sie auf den Einsatz von Macht verzichten. Hier tun sich gerade interessante Entwicklungen im Miteinander auf: Wo bleibt die Macht, wer setzt sie wie ein und welche alternativen Verhaltensweisen haben welche Auswirkungen?

Nach meinem Dafürhalten wäre es an der Zeit, eine Diskussion darüber zu führen, welche Verhaltensweisen unser Miteinander nach wie vor auf eine Weise bestimmen, dass eine genderspezifische Zirkularität entsteht? Wir könnten Kommunikation daraufhin untersuchen: Wer nervt hier wen aufgrund welchen Verhaltens, und was hat das mit unserer geschlechtsspezifischen Sozialisation zu tun? Wer ist (kommunikativ) wofür zuständig? Wofür ist genderspezifisches Verhalten eine Lösung? Mal angenommen, wir würden unsere Gefühle und Verhaltensweisen tauschen, wer wäre worüber überrascht / erfreut / beängstigt / empört? Wir können ja nicht einfach entscheiden, uns nicht geschlechtsspezifisch oder andersgeschlechtlich zu verhalten. Dafür müssen wir erst einmal genau anschauen, wo und wie wir das tun, und welcher Kontext zu welchem geschlechtsspezifischen Verhalten einlädt. Im nächsten Beitrag werde ich darauf detailliert eingehen.