Schuld und Scham – ein Gastbeitrag von Lisa-Maria Walther

Systemisches Vorwort von Sarah Walther

Ich freue mich sehr, dass Lisa einen Gastbeitrag für unseren Blog geschrieben hat und möchte ihr für ihre Offenheit, Authentizität und die investierte Mühe herzlich danken.

Lisa und ich sind uns das erste Mal für meinen Podcast „Wer wir sind“ begegnet. Unser Gespräch hat bei mir viele Gedanken angestoßen und mich nachhaltig beeindruckt. Das Gespräch kannst du hier hören: https://www.sarahwalther.com/podcast/episode/db6fd3c8/wer-wir-sind-folge-55-mit-lisa

Mir wurde erneut bewusst, wie wertvoll das Wissen von Menschen mit eigenen Erfahrungen ist – ein Wissen, das wir als Therapeut*innen oft nicht in gleichem Maße besitzen. Die Berichte von Erfahrenden sollten wir als wichtiges Werkzeug für unsere Weiterbildung, als Lernquelle und als Schlüssel zur Entwicklung von echtem Verständnis betrachten.

Nachdem ich Lisas Artikel gelesen hatte, war mein erster Impuls: „Das können wir so nicht veröffentlichen!“ Warum? Weil ich den Auswirkungen meiner Sozialisierung als Frau erlag: Es darf nicht zu laut, zu wütend, zu aggressiv, zu anklagend und auf gar keinen Fall zu viel sein.

Mein erster Gedanke war, Lisa zu bitten, ihre Ausdrucksweise und Aussagen zu mildern – bis mir bewusst wurde, wie sehr mich dieser Gedanke selbst erschreckt. Als Therapeutin würde ich niemals auf die Idee kommen, meine Klient*innen zu bitten, sich anzupassen. Das entspricht weder meiner Haltung als Therapeutin, noch ist es mein Verständnis von Systemik! Im Gegenteil: Ich ermutige Frauen* in einem geschützten Raum ausdrücklich dazu laut, wütend und aggressiv zu sein.

Es ist ein Irrglaube zu denken, dass wütende, aggressive oder laute Botschaften weniger Gehalt haben. Gerade Frauen wird oft vermittelt, dass solches Verhalten unangebracht sei und ihnen dadurch weniger Gehör verschaffe. Doch die Geschichte lehrt uns, dass es genau diese lauten, wütenden und aggressiven Stimmen waren, die Veränderungen vorangetrieben haben. Ohne den Mut, laut und unbequem zu sein, wären wir heute nicht da, wo wir sind. Manchmal ist es genau diese Kraft, die uns endlich gehört werden lässt.

Lisas Artikel ist genau das – und das ist gut so!

Lisas Beitrag hat mich in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken gebracht und mich ermutigt, meine eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Ich hoffe, dass auch ihr beim Lesen ähnliche Erkenntnisse gewinnt und inspiriert werdet.

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Mai 2024, Lisa-Maria Walter

„Nimm doch einfach ab.“ Ein Satz, den ich als übergewichtige, weiblich gelesene Person zu oft gehört habe, als dass ich noch darauf reagiere, denn sie haben ja recht, oder? Nun reiß dich mal zusammen. Andere schaffen es doch auch. Wir, die Steuerzahler, baden das dann aus. Du denkst wohl, du bist was Besonderes und darfst dich gehen lassen? Mich gehen lassen. Klingt schön. Mich endlich gehen lassen. Nicht mehr 24/7 über mein Gewicht und das nachdenken, was ich esse? Aber es bestimmt meinen Alltag, meine Planung und mein Selbstbild. Wie oft ich durch meine Essstörung getrieben phasenweise annähernd nichts gegessen habe und deshalb sogar mehrmals ohnmächtig wurde. Kann halt nicht alles nach deinem Kopf gehen. Das war oft die Reaktion, wenn ich mich über jegliche Nachteile beschwert habe, die mir wegen meines Übergewichts widerfahren sind. Verständnis oder gar Empathie waren vor allem in meiner Jugend unvorstellbar. Ich sollte still sein, mich schämen und den Ball flach halten. Unter dieser Message habe ich lange gelitten und erst durch viel Therapie und meine Kunst verstanden, dass ich sehr wohl den Mund aufmachen darf. Sowohl zum Essen als auch zum Reden.

„Nimm ab.“ Oder: Du nimmst zu viel Raum ein. Du brauchst immer eine Extra-Wurst. Die bekam ich allerdings selten. Zum Beispiel als ich in meiner Gardetanzgruppe irgendwann nicht mehr in die traditionellen Kostüme passte und deshalb aufhören musste. Wenn ich meine Schulklasse beim Wandertag aufhielt und alle auf mich warten mussten und ich deshalb zum nächsten Ausflug nicht mehr mitdurfte. Oder weil sie mich im Sportunterricht nicht richtig zu bewerten wussten und ich alleine in die „Mukkibude“ sollte, dem fensterlosen Abstellraum mit ein paar Gewichten. Du willst doch nur Aufmerksamkeit. Dabei wollte ich doch nur im Boden versinken. Wenn ich mal wieder von allen Seiten abschätzig belächelt wurde, weil die Armlehnen der schicken Stühle mir Beine und Bauch einquetschten, oder wenn ich im Flieger nach einer Gurtverlängerung rufen musste oder wenn ich in der Achterbahn den Sitz vor aller Augen mit jemandem tauschen musste, weil Reihe 4 für die Fetten gedacht ist und nicht Reihe 11.

„Einfach“. Weil so schwer kanns doch nicht sein. Dein Leidensdruck ist anscheinend noch nicht groß genug. Du bist faul und undiszipliniert. Wenn du es wirklich willst, dann schaffst du es auch. Spuck es doch gleich wieder aus… oder geh einfach kotzen. Ich esse einfach die Hälfte… oder gar nichts, das geht noch schneller. Ich muss ja auch mal an meine Gesundheit denken. Nur noch Wasser – ja genau. Und dann jeden Tag drei Stunden Sport. Easy! Nur: wieso schaff ich das nicht dauerhaft? Wieso habe ich schon zweimal das Gewicht eines erwachsenen Menschen abgenommen und wieder alles draufgefuttert?

Im Wartezimmer bei meinem Arzt las ich mal, dass 93% der Diäten scheitern und zu Essstörungen führen können. Bei der Routineuntersuchung wurde ich dann grundlos gewogen und mir eine Diät empfohlen. Vielleicht meinte er die wunderbare 1500kcal Diät, auf welche ich jedes Mal ungefragt bei Krankenhausaufenthalten gesetzt wurde, obwohl hierbei sogar der Grundumsatz unterboten wird, was den seit Jahren schon bekannten Jojo-Effekt hervorruft. Oder als sie mir zu einem Magenbypass rieten, als ich grade volljährig geworden meine Mutter an den Krebs verloren hatte und Hilfe suchte. Oder als die Endokrinologin meinen Blutzucker augenzwinkernd falsch interpretieren wollte, um mir die Ozempic- Spritze zu verschreiben. Ein Diabetesmedikament, mit Gewichtsverlust als Nebenwirkung. Oder als mich mein Zahnarzt mitten in der Behandlung wegschickte, weil ihm nach zehn Jahren auffiel, dass ich für seine Behandlungsstühle zu schwer sei. Oder die Gynäkologin, die mir aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit eine zu niedrig dosierte Pille bei meinem Gewicht verschrieben hat. Glück gehabt, dass man als dick_fette Person eh weniger fruchtbar ist. Oder die vielen anderen Ärzte, die mir trotz ungeklärter Schmerzen „Nimm ab!“ rieten und mir dann doch irgendwann Rheuma diagnostiziert wurde.

Jeden Tag gehe ich da raus und muss mich wappnen. Manchmal sind es ungefragte Tipps aus dem Nichts, wie es damals in der Schwimmbaddusche die Frau mit dem Kohlsuppenrezept ja nur gut meinte. Oder als der Typ mit Bierbauch mir Soja-Eis empfohlen hat, wegen der Dehnungsstreifen. Oder die Frau, die mich

penetrant auf meinem Arbeitsweg von dieser OP überzeugen wollte. Oder der katholische Priester, der meinte, mich zu trösten, weil ich ja zumindest ein schönes Gesicht hätte. Nur schade um den Rest. Wenn ich mich im öffentlichen Raum bewege, bin ich eine Zielscheibe. Wenn mir HAHA, das arme Fahrrad! im Kopf dröhnt oder ich mich mit einer rollenden Straßenbahn vergleichen lassen muss, beeinflusst das meinen ganzen Tag. Wenn mich Leute wegen meines bauchfreien Tops bis zu meiner Haustüre verfolgen und beleidigen, dann macht mein innerer Saboteur weiter: Verschwinde! Du gehörst hier nicht her. Du sprengst das Raster, bist nicht willkommen. Nicht so wie du bist. Manchmal sind es aber nicht nur Übergriffigkeiten und Beleidigungen, die mich aus dem Nichts treffen, sondern auch mal eine Faust, die mir ein Jogger im Vorbeirennen, warum auch immer, ins Gesicht geschlagen hat.

Eigentlich müsste mich das alles doch entsetzen, was mir widerfahren ist, oder? Das Ding ist: In jeder dieser Situationen dachte ich als erstes: Ich habe es ja verdient. Es ist ja meine eigene Schuld, dass ich fett bin. Aber inwiefern trifft mich diese Schuld realistisch gesehen alleine? Was ist mit den ganzen weiteren Einflüssen, wie meinen Genen und meinem Hormonhaushalt, wie meiner Erziehung und Sozialisierung in einer mediengeprägten Leistungsgesellschaft, wie dem patriarchalen Schönheitswahn, der auf Flinta* Personen lastet, wie der falschen und folgenschweren medizinischen Beratung und deren schlichten Unwissenheit auf Grund fehlender Forschungen, wie der Nahrungsmittelindustrie mit ihrem Verkaufswunder Zucker und dem billigen Fast-Food, wie der steigenden, vereinfachten Verfügbarkeit und durch permanente Werbung angepriesenen Befriedigung der Triebe als Ausgleich zum Leiden unter dem ständigen Wettbewerbsdruck oder auch dem psychischen Aspekt des Mobbings und Beschämens an sich. Treffen diese vielschichtigen Umstände keine Schuld? Sogar, wenn mich alle Schuld träfe, inwieweit haben andere Menschen dadurch das Recht, mich deshalb so fies zu behandeln? Mein Wert berechnet sich weder an meiner Gesundheit oder meinem Äußeren noch an meiner Leistungsfähigkeit. Ich bin Mensch und meine Würde deshalb laut Gesetz unantastbar, oder?

Was will ich denn eigentlich? Was ist es, das ich brauche, um zu heilen? Ich will fair und gleichberechtigt behandelt werden. Ich will mit meinen Problemen, Ängsten und Wünschen ernst genommen und gehört werden. Es stimmt. Ich will Aufmerksamkeit dafür, dass hier ein Unrecht geschieht. Ich will, dass Hasskommentare und fettphobische Diskriminierung als Straftat behandelt werden. Ich will, dass anerkannt wird, dass dick_fette Menschen mit unzähligen Hürden im Alltag, im Berufsleben und in der Medizin zu kämpfen haben und ihr Wunsch nach Barrierefreiheit und Inklusion, genau wie bei behinderten Menschen, gehört werden muss, wenn wir behaupten, in einer offenen, sozialen und inklusiven Gesellschaft zu leben. Ich will, dass Vorurteile abgebaut werden und es eine repräsentative Darstellung von diversen Körperbildern in den Medien und der Politik geben muss. Ich will eine großangelegte Aufklärungskampagne auf Landesebene in Schulen, Universitäten und Ämtern und schlicht und ergreifend die Aufnahme des Faktors Gewicht ins Antidiskriminierungsgesetz.

Es geht nicht um mich als Einzelperson, sondern um die Gesellschaft. Mich machen diese Schuldvorwürfe mittlerweile nur noch wütend und Wut ist ein Motor, still bleiben keine Option mehr! Wegen fettphobischem Verhalten leiden und quälen sich Menschen. Essstörungen sind nur ein Aspekt der Folgen und selbst dabei wird die Dringlichkeit und Schwere der Erkrankung sortiert nach Gewicht, weil angenommen wird, dass dick_fette Personen nicht magersüchtig oder bulimisch sein können. Selbstverletzendes Verhalten bis hin zum Suizid als Folge dessen, weil man nicht dem unerreichbaren Ideal entspricht. Wieso machen wir es uns gegenseitig noch schwerer, als es eh schon ist?

Liebe Hater, ich sehe euch. Ich weiß, es geht euch nicht gut. Aber es wird euch nicht besser gehen dadurch, dass es anderen schlechter geht. Ihr wollt mir meine Stimme wegnehmen durch dieses degradierende Verhalten, weil ihr um eure eigene Macht besorgt seid. Aber genau wie ihr auch will ich toleriert, akzeptiert und respektiert werden. Können wir diese Spirale aus Angst vor Verletzung unserer Würde nicht zusammen durchbrechen? Ein Deal oder ein Pakt? Ich nehme euch ernst und ihr mich? Dass wir uns gegenseitig unterstützen und aufbauen und dadurch alle gemeinsam wachsen und gesehen und gehört werden. Wäre das nicht herrlich?

(Un-) Sichtbarkeit der Frauen

Als junge Frau war ich oft genervt von sexistischer Anmache auf der Straße. Dann las ich das Buch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1). Die Autorin schrieb, dass Männerblicke, die sie auf ihre sexuelle Tauglichkeit abschätzten, zwar eine „negative Selbstbestätigung“ für sie darstellten. Als sie jedoch älter wurde und diese Blicke ausblieben, beunruhigte sie das. Und ich fragte mich, ob das nicht sehr angenehm sein könnte, wenn ich erst einmal unsichtbar wäre. Dabei gibt es viele gute Gründe für Frauen, sichtbar sein zu wollen und zu sein. Doch für wen wollen wir eigentlich sichtbar sein, wozu wollen wir sichtbar sein und auf welche Weise?

Wenn ich mein Aussehen „optimiere“ – will ich damit mehr oder eher weniger sichtbar werden? Möchte ich, dass bestimmte, oder dass alle Menschen auf mich aufmerksam werden? Oder will ich gerade nicht auffallen, damit ich keine negativen Reaktionen auf meine Anwesenheit hervorrufe? In der Tat leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Menschen trauen, andere dafür zu verurteilen, dass sie ihnen ihren Anblick „zumuten“, sei es aus rassistischen oder behindertenfeindlichen Gründen, oder sei es, weil jemand aus anderen Gründen den jeweiligen Normen für Aussehen nicht entspricht. Als ich in Personalverantwortung stand, wurde ich von Mitarbeiterinnen des Jobcenters gefragt, ob wir nicht eine Person einstellen könnten, die sehr gut sei, aber so hässlich, dass sie einfach keinen Job fände, und wir seien doch eine soziale Einrichtung und könnten womöglich darüber hinwegsehen. In therapeutischen, auch in systemischen, Kreisen wird schon mal Nicht-Schminken und nachlässige Kleidung mit der Hypothese in Verbindung gebracht, eine Frau lasse „sich gehen“. Dass eine Frau über viel Selbstbewusstsein verfügt, wenn sie keinen Wert auf ihr Äußeres legt, wird nicht in Betracht gezogen.

Die meisten Menschen dürften mit ihrem Aussehen einem Durchschnitt entsprechen in dem Sinne, dass sie erst dann von anderen wahrgenommen werden, wenn sie in direkteren Kontakt mit ihnen treten oder wenn sie durch andere Faktoren für andere hervorstechen: Durch besonders witzige, kluge … Bemerkungen, durch ein schönes Lächeln, eine besondere Leistung. Die wenigsten stechen durch ihr Aussehen hervor. Selbst Models sehen in ihrer Welt durchschnittlich aus. Die meisten Menschen passen sich denen für sie attraktiven Welten im Aussehen an. Einige wenige bemühen sich darum, in „ihrer Welt“ hervorzustechen. Aber was wollen Menschen eigentlich erreichen, wenn sie als „jung und schön“ wahrgenommen werden wollen? Wer soll dann was denken oder tun?

Meine Pubertät fiel in die siebziger Jahre, und da gelangten die Wellen der Frauenbewegung bis zu uns in der Provinz. Wir trugen weite Hemden, möglichst vom Opa abgestaubt, die Haare irgendwie, und auf keinen Fall BH und Schminke! Wir wollten uns nicht von Männerblicken abhängig machen, sondern frei sein. Unser Körper sollte so sein können, wie er eben war. An der Hochschule wirkte es in den achtziger Jahren eher befremdlich, wenn dort geschminkte, gestylte Frauen erschienen. Das hat mich sehr geprägt und ich fühle mich bis heute unabhängig von einem bestimmten Mainstream. Ich würde vielen Frauen wünschen, dass so eine Bewegung wieder stärker wird, und es gibt ja auch Ansätze dafür. Dabei geht es ja nicht nur darum, was ich „darf“ oder womit ich möglichst nicht negativ auffalle, sondern vor allem darum, was ich für Maßstäbe an mein und das Aussehen anderer habe.

Viele wissenschaftlich Arbeitende aus der Hirnforschung teilen mittlerweile die konstruktivistische Idee, dass wir als Menschen nicht frei entscheiden können, sondern aus dem Kontext heraus, der uns jeweils prägt, entscheiden, was wir tun und lassen, was uns gefällt oder nicht und was wir für Maßstäbe anlegen. Entkommen können wir dem nur, indem wir auf die Metaebene gehen bzw. die Perspektive wechseln und darüber reflektieren, „wie wir dazu kommen, unsere üblichen Konzeptionen des Realen und Guten miteinander zu teilen.“ Soziale Konstruktionist_innen „versuchen zum Beispiel zu erklären, warum wir unsere Körper mit ‚Maschinen‘ gleichsetzen und nicht mit ‚heiligen Gefäßen‘.“(2)

Was also bedeutet unser Körper für uns? Im Zusammenhang mit den Schönheitsdiktaten ließe sich die Funktion des Körpers als Projektions- und Repräsentationsfläche sehen. Aber wofür? Für unseren Wert als Menschen? Dafür, dass wir wahr- und ernstgenommen werden? Dafür, dass wir „dazugehören“? Welche Zwecke verfolgen die Maßstäbe, die ich an mein Körper-Sein stelle? Durch welche Augen – mit welcher weiblich-systemischen Brille –schaue ich mich an und durch welche möchte ich mich anschauen?

(1) Dorritt Cadura-Saf: Das unsichtbare Geschlecht. ‎Rowohlt Taschenbuch; 3. Edition (1. August 1986)

(2) Kenneth und Mary Gergen: Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Carl-Auer-Systeme Verlag 2009, S. 100

Der stille Kampf mit dem Spiegelbild

Am 27.12.2023 ich sitze völlig aufgelöst und weinend im Urlaub auf dem Bett. Ich fühle mich unwohl in meinem Körper, nein, ich bin verzweifelt und unzufrieden. Vielleicht habe ich 2-3 Kilo zugenommen, aber es ist mehr als das. Mein Körper und mein Kopf sind in einem Strudel der Unzufriedenheit gefangen.

Diese Situation ist mir nicht fremd. Ich kenne sie und das schon sehr lange – sie begleiten mich schon ein Leben lang. 

Dabei bin ich mir sicher, dass viele Frauen ganz genau wissen, wovon ich spreche. 

Innerlich spüre ich immer wieder die Zerrissenheit: Ich will mich nicht fertig machen. Ich möchte einen gesunden Bezug zu meinem Körper haben, und mit ‚gesund‘ meine ich nicht schlank oder dünn. Denn ein schlanker Körper ist nicht zwangsläufig ein gesunder Körper. Aber genau diese Überzeugung hat sich mir eingebrannt, wie so vieles, wenn es um den Körper der Frau geht. Es ist belastend, manchmal so stark, dass es mich erdrückt.

„Die Erschöpfung der Frauen“: Ein tiefgehender Einblick in die Körperscham

Das Buch „Erschöpfung der Frauen“ widmet ein ganzes Kapitel dem Thema Körperscham. Es enthüllt, wie Frauen durchschnittlich alle dreißig Sekunden ihr Aussehen überprüfen. Dies geschieht jedoch nicht aus einem liebevollen, sondern aus einem ängstlichen, strengen und oft selbstkritischen Blickwinkel. Diese ständige Selbstüberwachung ist nicht nur erschöpfend, sondern oft auch gesundheitsschädigend. Sie raubt Frauen die Energie und Zeit für andere, wichtigere Aspekte ihres Lebens.

Die Forschung zeigt, dass Frauen aller Altersgruppen und Schichten die Auswirkungen gesellschaftlicher Schönheitsnormen erleben. Es gibt zwar Unterschiede bezüglich des Alters, diese sind jedoch weniger signifikant als erwartet. In einer Gesellschaft, die Schönheit mit Jugend gleichsetzt, sind Frauen bis ins hohe Alter hinein enormen Anforderungen ausgesetzt. Über 60 Prozent der Frauen zwischen 60 und 70 Jahren und fast 80 Prozent der 54-jährigen Frauen berichten von Körperunzufriedenheit. Diese Zahlen zeigen, dass der Druck, jugendlich und schön zu erscheinen, tief in der weiblichen Psyche verankert ist.

Das Buch hebt auch hervor, dass viele Frauen den Schönheitsdruck internalisiert haben und versuchen, die Illusion der Jugend durch ständige Körperüberwachung aufrechtzuerhalten. Diese anhaltende Körperbeobachtung kann zu Körperscham und Angst vor den herrschenden Schönheitsnormen führen. In Verbindung mit diesen negativen Erfahrungen reduziert die Selbst-Objektivierung auch die Möglichkeiten für Vergnügen und Entspannung. Viele Mädchen und Frauen sind fast ununterbrochen mit ihrem Aussehen und der Frage beschäftigt, was andere von ihnen denken und wie sie bewertet werden.

Als wäre das nicht schon schlimm genug: “Gerisch zitiert eine Patientin: »Ich fühlte mich so dick, so hässlich, ich stand stundenlang vor dem Spiegel, um etwas Schönes an mir zu finden, aber es wollte mir einfach nicht gelingen; schließlich nahm ich das Messer und schlitzte mir die Arme auf.« Eine andere sagte: »Ich fühlte mich plötzlich winzig, wie ein Zwerg unter Riesen und wollte einfach verschwinden. Da nahm ich die Tabletten.« Oder kehrseitig: »Ich fühlte mich monströs wie ein Monster aus einem Computerspiel und wollte diesem Elend einfach nur ein Ende bereiten.«

Ein emotionaler Aufruf

Beim Lesen dieser Zeilen steigen mir die Tränen in die Augen. Ich bin entsetzt, fassungslos und wütend darüber, dass ich und viele andere Frauen mit dieser Bürde leben. Ich habe es satt, vollgestopft mit Idealen und Selbstabwertungen zu sein. Ich bin erschöpft von den Jahren, in denen ich mich nur mit meinem Körper und Aussehen beschäftigt habe.

Ich möchte in Würde altern, aber ich weiß nicht, wie. Auf Instagram sehe ich Frauen, die gegen das Körperideal kämpfen. Doch auch hier wird oft ein Bild von Schönheit vermittelt. Es ist verwirrend und zeigt, dass wahre Freiheit schwer zu erreichen ist.

Auf der Suche nach Gleichgewicht und Akzeptanz

Vielleicht geht es nicht darum, sich vollständig von diesen Idealen zu befreien, sondern vielmehr um Akzeptanz und Bewusstsein. Es geht darum, ein gesundes Gleichgewicht zu finden, das Erbe unserer Mütter und Großmütter anzuerkennen und gleichzeitig unseren eigenen Weg zu gehen. Dieser Balanceakt zwischen Loslassen und Annehmen ist ein Prozess, der Geduld und Selbstliebe erfordert.