„Wohnen“ – ein dünnes Buch mit viel Inhalt, was mich zum Schmunzeln, aber vor allem zum Nachdenken gebracht hat.
Doris Dörrie gelingt es, aus dem Alltäglichen – einer Wohnung, einer Küche, einem Raum – Fragen zu machen, die viel größer sind als die Räume selbst.
Wohnen – das ist nicht nur ein Dach über dem Kopf, eine bestimmte Adresse oder eine Einrichtung. Wohnen heißt auch, wie wir uns innerlich einrichten. Welche Rollen wir einnehmen. Welche Freiheiten wir uns zugestehen. Und welche Sehnsüchte uns begleiten.
Besonders nachdrücklich ist mir Dörries Beschreibung im Kopf geblieben, wie sie lange Zeit die Küche gemieden hat. Ich habe sofort gespürt, was sie meint. Auch bei mir gibt es diesen inneren Widerstand – als wäre die Küche der Ort, an dem Feminismus und Emanzipation enden. Als müsste ich, wenn ich mich dort aufhalte, eine Rolle erfüllen, in die ich auf keinen Fall mehr gezwungen werden will. Fast so, als sei Kochen nicht einfach eine Tätigkeit, sondern ein Symbol: dafür, wie Frauen über Generationen hinweg unsichtbar, zuständig und selbstverständlich verfügbar waren.
Die Küche gilt bis heute als der Raum der Frauen. Doch gerade darin liegt ein Widerspruch: Sie ist kein Raum, der Freiheit schenkt, sondern einer, der mit Aufgaben belegt ist. Kochen, versorgen, bereitstellen – all das passiert hier, meistens von Frauen, fast schon selbstverständlich. Schon August Bebel schrieb vor über 150 Jahren, die Privatküche sei eine Zumutung für Frauen, weil sie Kraft und Lebensfreude raube. Deshalb plädierte er für Gemeinschaftsküchen – eine nette Idee, wenn dort nicht auch wieder nur Frauen hätten kochen sollen.
Das Tragische daran ist: Wenn die Küche der Frauenraum ist, dann bleibt ihnen zugleich ein anderer Raum verwehrt – ein Raum, der wirklich nur ihnen gehört. Männer hatten traditionell ihr Arbeitszimmer, ihre Werkstatt oder den Hobbykeller. Rückzugsorte, die ihnen selbstverständlich zugestanden wurden. Frauen dagegen hatten die Küche. Aber eine Küche ist eben kein eigener Raum, sondern einer, der in den Dienst anderer gestellt wird.
Doris Dörrie schreibt darüber, wie sie lange keinen eigenen Raum hatte. Und ich erkenne mich darin sofort. Auch mir fehlt dieser Ort bis heute: ein Raum ohne Funktion, ohne Rolle, ohne Erwartung. Ein Ort, an dem ich mich zurückziehen kann – nur mit mir, meinen Gedanken, meiner Kreativität.
Und doch merke ich: Diese Sehnsucht nach einem eigenen Raum ist nicht nur meine ganz persönliche. Sie ist Teil einer weiblichen Geschichte, die in vielen Familien weitergegeben wurde. Systemisch betrachtet erzählen Räume immer auch von Mustern und Loyalitäten: Wer hat Anspruch auf Sichtbarkeit? Wer bleibt zuständig für das Unsichtbare, das Alltägliche, das, was sich von selbst zu erledigen scheint?
In Aufstellungen und Genogrammen tauchen solche Fragen oft unvermittelt auf: Räume stehen für Zugehörigkeit und Abgrenzung, für Macht und Ohnmacht. Das „Arbeitszimmer“ eines Vaters symbolisiert nicht nur Rückzug, sondern auch das Selbstverständnis, das ihm zugestanden wird. Die „Küche“ einer Mutter hingegen verweist nicht nur auf Versorgung, sondern auf eine Rolle, die selten freiwillig gewählt, sondern tradiert wurde.
Wenn ich Dörrie lese, erkenne ich diese Muster wieder. Und ich spüre, wie sie bis heute wirken: in meiner eigenen Biografie, aber auch in den Geschichten vieler Klientinnen. Die Frage nach einem eigenen Raum ist deshalb keine Nebensächlichkeit, sondern eine zentrale Frage der Selbstbestimmung. Sie berührt Autonomie, Identität und die Möglichkeit, sich als eigenständiges Subjekt wahrzunehmen.
Vielleicht beginnt Emanzipation genau hier: indem wir uns die inneren und äußeren Räume bewusst anschauen. Indem wir erkennen, wo wir alte Loyalitäten fortsetzen – und wo wir uns erlauben dürfen, neue Räume zu öffnen. Für uns selbst, aber auch im systemischen Sinn für die, die nach uns kommen.
Und manchmal sitze ich mit einem Glas Wein und baumelnden Beinen auf der Arbeitsfläche – und denke: Vielleicht ist die Küche ja doch mehr als ein Ort zum Kochen und Abwaschen.