Welche Unterschiede sehen wir (nicht)?

Der weibliche Blick – was, wenn wir Unterschiede nicht einmal selber wahrnehmen? Was sehen wir alles nicht? Diese Frage wurde mir über die Lektüre dieses gar nicht mehr neuen Buches noch einmal richtig bewusst: Balanceakte. Familientherapie und Geschlechterrollen, herausgegeben 1992 von Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch und Andrea Ebbecke-Nohlen.
Rosmarie Welter-Enderlin beschäftigt sich dort mit der Erkenntnis, dass sie selber diese Unterschiedsbildung lange nicht im Blick hatte (S. 124).

„Warum haben wir uns so lange nicht mit sexistischen Vorurteilen in der Familientherapie befasst?“

Andrea Ebbecke-Nohlen führt aus, dass es bei der systemischen Beratungsarbeit nicht darum geht, die Konstruktion von geschlechtsspezifischen Unterschieden immer vorzunehmen oder zu dekonstruieren, sondern darum, nicht nur auf die Geschichte der Generationen zu schauen, sondern auch auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Und es geht nicht nur darum, geschlechtsspezifische Unterschiede herauszuarbeiten, sondern auch Gemeinsamkeiten.

Was ich gerade heute sehr aktuell finde, ist die Frage, inwiefern geschlechtsspezifische Unterschiede konstruiert wurden, die Erwartungen und Erwartungserwartungen generiert haben, welche letztlich zu unerwünschten bzw. problemgenerierenden Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen führen. Und es ist heute (immer noch oder erst recht) wichtig, sich mit der Reaktion der Umwelt auf Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, die nicht den geschlechtsspezifischen Erwartungen entsprechen. (Dazu gibt es übrigens den schönen Film 20.000 especies de abejas / 20.000 Species of Bees, der gerade in der Berlinale lief: Der 8-jährige Coco fragt sich, ob während der Schwangerschaft seiner Mutter im Bauch etwas verkehrt gelaufen ist, da er sich als Mädchen fühlt. Der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlt, ist bei den Bienen in der Natur. Dort richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Sowie er unter Menschen kommt, muss er sich mit den geschlechtsspezifischen Zuschreibungen auseinandersetzen.)

Die auf Familie bezogenen Fragen von Rosmarie Welter-Enderlin und Andrea Ebbecke-Nohlen nach geschlechtsspezifischen Unterscheidungen sind z.B. folgende:

Wer hat welche Ecken und Räume für sich oder möchte sie haben, um sich zurückziehen zu können (und zu dürfen)?

Wer entscheidet, wer Geld wie und wofür ausgibt, wer wofür Verantwortung trägt oder aufgeben möchte?

Gelten Regeln und Grenzsetzungen für beide Geschlechter gleich? (S. 151 und 185 ff)

Solche Fragen sind mitnichten überholt, sondern lassen sich auch auf heutige, auch auf diverse Verhältnisse anwenden und erweitern. Wird bestimmtes Verhalten oder werden bestimmte Leistungen bei Vertretenden eines Geschlechts anders bewertet als bei denen des anderen? Wer muss oder darf wie in welchen Kontexten gekleidet und gestylt sein oder auftreten, um von wem anerkannt, akzeptiert oder überhaupt beachtet zu werden?

Zwar hat sich in den dreißig Jahren seit Erscheinen des Buches vieles verändert und ist vielleicht auch offener geworden. Es wird mit Stereotypen gespielt, sie werden verschoben. Vielleicht ist das Denken in etlichen Köpfen flexibler geworden. So verstehen Männer z.B. heutzutage vielleicht leichter, dass sie nicht nur „hart im Nehmen“ sein müssen und die Grenzen ihrer Belastbarkeit respektieren dürfen. Doch das Fühlen und Verhalten bleibt oftmals nach wie vor geschlechtsspezifischen Stereotypen verhaftet, die Erwartungen an andere und die Erwartungserwartungen sind durch geschlechtsspezifische Unterscheidungen geprägt. Ob sie durchlässiger geworden sind oder im Gegenteil durch neue Unterschiedsbildungen rigider, müsste diskutiert werden.

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