Neulich in der Gruppentherapie

Die Gruppentherapie auf meiner psychiatrischen Station, die ich gemeinsam mit einer Kollegin zwei Mal pro Woche leite, ist eine offene Gesprächsgruppe. Das heißt, es werden keine Themen von den Leitenden vorgegeben, sondern die Teilnehmenden bringen das ein, was sie gerade beschäftigt. Wir führen diese Gruppe angelehnt an die „Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM)“, die zwar die Psychoanalyse im Namen hat, aber mein systemisches Herz definitiv höherschlagen lässt. In der PIM wird die Gruppe als Mehrpersonensystem und soziale Interaktion als Produkt wechselseitiger Kommunikationsprozesse betrachtet. Es wird angenommen, dass sich alles Geschehen in der Gruppe im „Zwischen“ von allen Anwesenden entwickelt und somit auch immer soziale und gesellschaftliche Kontexte berührt. Ausgehend davon kann Verhalten in Beziehungen in der halböffentlichen Therapiegruppe erforscht und mit neuen Verhaltensweisen experimentiert werden (siehe Streeck, 2024).

In einer dieser Gruppen sitze ich nun. Eine Frau und ein Mann Ü50 kommen darüber ins Gespräch, wie schwer es ist, in diesem Alter neue Lohnarbeit zu finden. Sie hätten beide viele Bewerbungen verschickt, jedoch nur Absagen erhalten. Ich bin noch versunken in den Gedanken darüber, was ich gerade in der Gruppe wahrnehme und wie ich mich dazu verhalten möchte, als plötzlich das Gespräch eine neue Richtung einschlägt: „Aber die jungen Leute, die nicht mehr arbeiten wollen, denen wird alles hinterhergetragen!“ Es kommt Leben in die bisher etwas träge Gruppe. Und noch bevor ich selbst meinen plötzlichen Ärger über die Pauschalisierung einer ganzen Generation einordnen kann, geht es weiter: „Und den Ausländern erst…“ „Und den Behinderten…“ folgt darauf. Das Gespräch nimmt Geschwindigkeit auf und hat nun einen deutlich aggressiveren Unterton.

Meine Gedanken rasen ebenfalls. Mein Körper reagiert.  Neben einer für mich normalen Grundanspannung im Gruppensetting, spüre ich, wie mir heiß wird, wahrscheinlich laufe ich auch rot an. Mein Herz schlägt hart und ich spüre mein Blut in den Ohren rauschen.

Wie zur Hölle soll ich jetzt reagieren? Das muss ich auch möglichst schnell tun, damit die Rückmeldung noch passt! Meine Kollegin hat ungünstigerweise den Raum verlassen, weil sie einen Hustenanfall hatte, also muss ich alleine entscheiden. In mir verspüre ich mehrere Impulse: Ich möchte die Gefühle, die entstanden sind, würdigen und meine Patient*innen in ihrer Not ernstnehmen. Gleichzeitig möchte ich unbedingt die abwertenden Äußerungen unterbrechen und mich positionieren. Ich verspüre eine diffuse Angst, die Teilnehmenden vor den Kopf zu stoßen oder der Zensur bezichtigt zu werden, auch mich als „linke Großstädterin“ zu outen. Irgendwie schräg, denk ich.

Ich versuche im Sinne der PIM zu reagieren, stelle ich mich als Interaktionspartnerin zur Verfügung und melde einen Teil meines inneren Dialoges zurück.  Ich schildere meine eigene Ambivalenz zwischen der Einladung, dem Erleben der Anwesenden weiter Raum zu geben und gleichzeitig dem dringenden Impuls, den menschenverachtenden Aussagen Einhalt zu bieten. Die meisten verstehen meinen Wink, ein Teilnehmer schließt jedoch mit einer weiteren herabsetzenden Pauschalisierung an. Ich werde also doch deutlicher und frage den Patienten etwas scherzhaft, ob er meinen Wink mit dem Zaunpfahl mitbekommen hat: Ich möchte nicht, dass diese Art von Aussagen in meiner Gruppe getroffen werden. Er lacht kurz, danach wenden sich die Teilnehmenden thematisch etwas anderem zu.

Nach der Sitzung im Gespräch mit meiner Kollegin versuche ich mit kühlerem Kopf zu verstehen, was möglicherweise gerade passiert ist und welche Fragen für mich daraus folgen. Wie ist diese Interaktion entstanden? Welche Wechselwirkungsprozesse zwischen den Teilnehmen haben möglicherweise eine Rolle gespielt und was habe ich dazu beigetragen? In welchem (inneren) Kontext der Patient*innen ergibt es Sinn, diffuse Aggressionen, die vermutlich im Zusammenhang mit Hilflosigkeit, Kränkung, Trauer und Verzweiflung stehen, gegen bestimmte Menschengruppen zu richten, die nicht für ihr Unglück verantwortlich sind? Von den Gruppenteilnehmenden kam kein Widerspruch zu den Pauschalisierungen. Waren sich tatsächlich alle einig oder blieb etwas ungesagt? Und wenn ja, aus welchen Gründen?

Die Teilnehmenden und damit auch die Themen in unseren Gruppen wechseln meist von Sitzung zu Sitzung, so dass wir in der darauffolgenden Gesprächsrunde nicht mehr anknüpfen. Obwohl mich die Sitzung sehr gefordert hat, wäre ich definitiv neugierig: Welche inneren Reaktionen hatten Patient*innen auf meine Positionierung und auf welche Art könnten wir weiter darüber ins Gespräch kommen?

Mich hinterlässt die Sitzung nachdenklich und berührt. Ich versuche seitdem sensibler dafür zu sein und näher nachzufragen, wenn plötzlich Pauschalisierungen im Raum stehen. Eine Frage, die mich auch beschäftigt: Wie können wir in unserer Arbeit im Kontext der aktuellen politischen Lage einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht? Hinterlasst gern dazu einen Kommentar mit euren Gedanken und kommt mit uns darüber ins Gespräch!

4 Gedanken zu „Neulich in der Gruppentherapie“

  1. Hallo,
    offenbar herrscht in dieser Gruppe bei den Menschen Frustration und das Gefühl von Abgehängt sein in der Arbeitswelt – z.b. aufgrund ihres Alters.
    Sie wollen dazu gehören zur Gesellschaft – Zugehörigkeit!
    Sie äußern dies und nennen andere Gruppen – die immer wieder gesellschaftlich und in den Medien geanannt und berücksichtigt werden. Sie äußern Unmut, Stimmung kommt auf, offenbar betrifft dies einige.
    Ich finde es schade, dass dies nicht sortiert wurde, Raum bekam und mit dieser Energie und Ressource der Menschen gearbeitet werden konnte.
    „Ich möchte dies nicht hören in der Gruppe“ wirkt dämpfend, erzieherisch.
    Die „scherzhafte“ Bemerkung mit dem Zaunpfahl könnte versteckt aggressiv wirken.

    Schöne Grüße
    Marina Kuss

    1. Liebe Marina,
      vielen Dank für die Gedanken und Anregungen. Besonders die Bemerkung zur versteckten Aggression in einem vermeintlich scherzhaftem Kommentar finde ich spannend.
      Viele Grüße
      Anne

  2. Ich beginne mit einer positiven Botschaft: mit 62 Jahren habe ich im öffentlichen Dienst einen neuen Job (als Führungskraft) bekommen und hatte noch drei weitere zur Auswahl, was ich in meinem Beruf (Dipl. Landschaftsplanerin) noch nie erlebt habe!
    Die Menschen in solchen Gruppen habe ich als sehr empfänglich für negative Botschaften erlebt, die schnell die Abwärtsspirale, dass am Ende eigentlich alles schlecht ist heute, beklagen. M.E. haben wir als Systemiker:innen doch gute Werkzeuge, mit denen wir gegensteuern können (frei nach M. Varga von Kibed: Hilflosigkeit, Unsicherheit und Nicht-Wissen), wertschätzende, konkrete Nachfragen stellen und im weiteren Gespräch positive Akzente setzen können. Oder?
    Danke für den feinfühligen Bericht – solche und ähnliche Situation wühlen mich auch auf.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert