Ich habe gehadert. Ich habe lange überlegt: Darf ich mich wirklich als Frau öffentlich und laut positionieren? Allein diese Tatsache macht mich unglaublich wütend!
Nicht nur, dass ich als Mädchen mit meiner Wut unterdrückt wurde: Es führt sich bis heute fort, indem ich mich als erwachsene Frau nicht mit meiner Wut zu zeigen getraue.
Mit diesem Artikel setze ich ein Zeichen: Ich zeige meine Wut!
Der Anlass meiner Wut sind die Vorwürfe gegenüber Rammstein: Immer mehr Frauen berichten von systematischen (Macht-) Missbrauch und sexualisierter Gewalt auf und nach Konzerten der Band.
Anfang Juni scrolle ich durch Artikel, Videos und Kommentare. Mit Erschrecken wird mir bewusst: Ich bin eine stillschweigende Beobachterin!
Denn insbesondere habe ich Angst, mich in den sozialen Medien dazu zu äußern und zu positionieren.
Doch meine Wut lässt sich nicht mehr unterdrücken und wird zu dem wichtigsten Mitteln, so dass dieser Artikel entstehen kann.
Es ist meine Verantwortung als Frau, Therapeutin und Dozentin, ein Zeichen zu setzen: Deshalb spreche ich mich in aller Deutlichkeit für Frauen, die sexuelle Gewalt, Belästigungen und Übergriffe erlebt haben aus. Ich glaube euch!
Gleichzeitig zeige ich mich als Erlebende.
Diese Enthüllungen werfen ein erschreckendes Licht auf die patriarchalen Strukturen und den Machtmissbrauch, die in der Musikindustrie und darüber hinaus weit verbreitet sind.
Doch lasst mich klarstellen: Dies ist kein isoliertes Phänomen, das nur die Musikbranche betrifft. Vielmehr verdeutlicht es ein allgemein wichtiges, allgegenwärtiges und ernstzunehmendes Thema, das in unserer Gesellschaft existiert – die systematische Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und Minderheiten. Diese besorgniserregenden Vorfälle sollten uns aufrütteln und uns dazu bewegen, nicht nur die Musikindustrie, sondern sämtliche Bereiche zu hinterfragen, in denen solche ungleichen Machtverhältnisse und sexuelle Gewalt weiterhin präsent sind. Es ist an der Zeit, dass wir kollektiv dafür einstehen, Veränderungen herbeizuführen, Gerechtigkeit zu fordern und eine Kultur des Respekts und der Gleichberechtigung zu fördern.
Ich finde es erschreckend und schockierend, dass Menschen sich anmaßen infrage zu stellen, ob Menschen sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Es ist entsetzlich, dass Frauen immer noch gezwungen sind, die Schuld der Täter zu beweisen, wenn sie den Mut haben, über solche traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Erlebende sexualisierter Gewalt und Belästigung müssen oft mit einem undurchdringlichen Dickicht von Zweifeln und Schuldzuweisungen kämpfen. Dabei sollten wir uns fragen, warum so viele Menschen bereit sind, die Täter zu beschützen und die Stimmen der Opfer zu unterdrücken, nur weil sie wie in diesem Fall Mitglieder einer erfolgreichen Band sind.
Patriarchale Strukturen sind in unserer Gesellschaft noch immer tief verwurzelt. In der Musikindustrie sind sie besonders deutlich zu erkennen, da sie ein Umfeld schaffen, in dem männliche Künstler mit einer beunruhigenden Macht über weibliche Fans ausgestattet sind. Diese Dynamik verstärkt sich durch den übermäßigen Ruhm und die Verehrung, die vielen Bands zuteilwerden. Wenn Menschen ihre Idole anhimmeln, entsteht ein Machtgefälle, das Missbrauch begünstigt.
Es ist schockierend, dass sexualisierte Gewalt zu etwa 90% von Männern begangen wird. Dies ist ein alarmierender Beweis für die tiefsitzenden Probleme in Bezug auf Geschlechterungleichheit und toxische Männlichkeitsnormen in unserer Gesellschaft. Als Frau stehe ich Seite an Seite mit all den mutigen Frauen, die sich gegen diese Ungerechtigkeiten erheben und den Mut finden, ihre Stimmen zu erheben.
Als Systemische Therapeut*innen tragen wir eine besondere Verantwortung, uns mit diesen drängenden Themen auseinanderzusetzen. Unsere Arbeit dreht sich um das Verständnis von Systemen und wie sie auf individuelle Erfahrungen und Verhaltensweisen einwirken. In diesem Kontext können wir nicht ignorieren, wie patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt ganze Systeme durchdringen und schädigen.
Es ist unerlässlich, dass Therapeut*innen, unabhängig vom Geschlecht, sich aktiv für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit einsetzen. Als weibliche Therapeut*innen können wir uns einfühlen und Verständnis für die Erfahrungen von Opfern sexualisierter Gewalt aufbringen, was für unsere Klientinnen von großer Bedeutung sein kann.
Zugleich appelliere ich an unsere männlichen Kollegen, sich dieser Themen mit besonderer Sensibilität zu widmen.
Männliche Therapeuten spielen eine essenzielle Rolle in diesem Kampf. Indem sie sich mit Entschlossenheit gegen patriarchale Strukturen und Machtmissbrauch positionieren, können sie als Vorbilder für ihre männlichen Klienten dienen. Ihre Unterstützung ist entscheidend, um ein Umdenken in Bezug auf toxische Männlichkeitsnormen und die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt zu fördern. Männer können ihre Position und ihr Privileg nutzen, um aktiv Teil der Veränderung zu sein und die Stimmen der Opfer zu stärken.
Es steht für mich nicht zur Diskussion, dass es unser aller Verantwortung ist, sichere Räume zu schaffen, in denen Klient*innen über ihre Erfahrungen sprechen können.
Wir müssen – und in diesem Kontext verwende ich bewusst genau dieses Wort – dazu beitragen, Scham und Stigmatisierung zu reduzieren und Menschen dabei unterstützen, Stärkung zu erfahren.
Lasst uns sicherstellen, dass jede Stimme gehört wird, dass Opfer Unterstützung erhalten und dass Täter zur Verantwortung gezogen werden.
Lasst uns diese Verantwortung übernehmen und unsere Therapiepraxis zu einem Ort machen, an dem Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Identität oder ihrer Erfahrung geschützt und unterstützt werden.
Lasst uns gemeinsam als Therapeut*innen eine solidarische Gemeinschaft bilden, die aktiv gegen patriarchale Strukturen und sexualisierte Gewalt auftritt. Unsere Stimmen können dazu beitragen, eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen und eine Welt zu gestalten, in der Gleichberechtigung, Respekt und Mitgefühl die Grundpfeiler sind.
Diejenigen, die ihre Macht missbrauchen, dürfen nicht länger ungestraft davonkommen. Gemeinsam können wir Veränderung bewirken.
Macht euch stark füreinander! Erhebt eure Stimme und seid laut!
(Ich habe mich in meinem Artikel bewusst von der Bezeichnung „Opfer“ distanziert, da es Menschen als wehrlos darstellt. Stattdessen möchte ich appellieren, wie im Artikel von „Erlebenden“ zu sprechen.)
Schreib gern in die Kommentare, wie es dir mit diesem Artikel geht. Was bringt dieser bei dir zum Anklingen?
Ja!