Gendersensibles systemisches Denken und Vorgehen – Teil 2

In Fortsetzung zum letzten Beitrag in diesem Blog [Link] möchte ich an älteren feministischen Diskussionen in der Systemik anknüpfen in der Hoffnung, dass diese aufgegriffen und in aktuelle Diskurse überführt werden können. Denn nach meiner Meinung sind die „alten“ Diskurse auch heute noch relevant und könnten aktuelle Diversitäts-Diskurse bereichern.[1]

Individuation und Moral

Feministinnen kritisierten in den achtziger Jahren das damals gängige Konzept von Bindung und Individuation. Danach seien frühkindliche Bindungserfahrungen essentiell für die Entwicklung gesunder Menschen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung sei dann ein Individuationsprozess erforderlich als Voraussetzung für eine reife Persönlichkeit. Aus Untersuchungen wurde abgeleitet, dass Jungen den Individuationsprozess erfolgreicher durchliefen als Mädchen, woraus die Entwicklung eines unabhängigen, erwachsenen Selbst bei Männern (und bei Frauen eben nicht) resultiere. Hinzu kamen Untersuchungsergebnisse, die für die These herangezogen wurden, dass Jungen in ihrer Moralentwicklung den Mädchen überlegen und diese moralisch unterentwickelt seien.

Auch in der systemischen Szene hatte es ähnliche Tendenzen gegeben wie bei der Bindungstheorie. Vor allem durch den Einfluss von Minuchin und seinen Ansatz der strukturellen Familientherapie wurde sehr viel darauf geschaut, ob Bindungen oder Abgrenzungen jeweils zu stark oder zu schwach ausgeprägt waren und deshalb problematische Familienkonstellationen und familiäre Kommunikationen entstanden. Dann wurde empfohlen, mehr Bindung oder mehr Abgrenzung herzustellen.

Neben der Kritik, dass das Bindungs- und das Moralkonzept kulturell einseitig ausgerichtet seien, gab es in feministischen Kreisen große Diskussionen darüber, dass Mädchen nur deshalb mehr an Bindungen orientiert seien, weil Frauen für die Herstellung von Bindung als „zuständig“ angesehen wurden, während die Aufgabe der Männer eher als zuständig für Abgrenzung und Individuation definiert wurde. Die Frau werde dahin sozialisiert, nachgiebig und umsorgend zu sein, der Mann, aggressiv und durchsetzungsstark aufzutreten. [ausführlich s. den Beitrag Gendersensibel systemisch arbeiten in Beratung und Therapie] Dazu passte die Veröffentlichung von Carol Gilligan.[2] Sie kritisierte die Kohlbergsche Annahme einer „Moral für alle“, nach der Jungen moralisch reifer seien als Mädchen, und wies darauf hin, dass Jungen und Mädchen aufgrund ihrer geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Sozialisation ein unterschiedliches Moralverständnis hätten. Während Jungen auf die Einhaltung von Regeln fokussiert seien, achteten Mädchen mehr auf die Wahrung von Bindungen, so die These.

In systemischen Kreisen fanden diese Diskussionen Widerhall. Es sei wichtig, den Blick auf Kommunikationsmuster vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Sozialisation zu erweitern und unterschiedliche geschlechtsspezifische Rollen und Bewertungen in Familien in den Blick zu nehmen: Wer ist wofür zuständig? Wer darf sich wie verhalten, ohne sich damit einer moralischen Empörung auszusetzen? Wer gibt wem emotionalen Rückhalt? Wer darf sich abgrenzen und wann und wie nach außen orientieren? Wer fühlt sich für das emotionale Wohlergehen und für das Bestehen in der Außenwelt von wem zuständig? Wer darf Aggressionen auf welche Art und Weise ausagieren oder nicht? usw.

Frauen und Macht

Eine weitere Frage, die in feministischen Kreisen in den achtziger Jahren intensiv diskutiert wurde, war die der Macht. Worüber sich alle einig waren, war der Blick auf die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Doch hatten Frauen nicht ihre eigenen Machtstrategien, oder waren das lediglich „Listen der Ohnmacht“? Sollten Frauen nach der Macht greifen und das Spiel genauso mitspielen? Sollten sie nach Machtfreiheit streben oder andere Formen der Machtausübung suchen?

In der systemischen Szene wurde darauf fokussiert, dass der Blick auf Familie nicht hilfreich sei, ohne den Kontext der Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau mit einzubeziehen. Es wurde kritisiert, dass Systeme in Anlehnung an naturwissenschaftliche Modelle als grundsätzlich gleichberechtigt gedacht und dadurch wesentliche Einflussfaktoren für kommunikative Dynamiken übersehen würden.[3]


[1] Es gibt natürlich das tolle Buch von Tanja Kuhnert und Nikola Siller, das eine große Bereicherung und Grundlage darstellt, um frühere Diskussionen für heute fruchtbar zu machen. Auch dieser Blog hat u.a. diese Intention.

[2] Carol Gilligan: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München 1984

[3] s. Welter-Enderlin in Familiendynamik 12(3) 1987: 261 ff

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