Sich erreichen, berühren, verändern

Am 30.10.1993 wurde die Systemische Gesellschaft (SG) gegründet, und im Juni diesen Jahres feierte die SG ihren 30. Geburtstag mit einer Jubiläumstagung. Diese wurde zu Ehren Kristina Hahns veranstaltet. Kristina war langjähriges SG-Mitglied und mehrere Jahre im Vorstand der SG engagiert. Das Gebaren der Männer im Verband beobachtete und kommentierte sie aus feministischer Perspektive und brachte selber eigene Akzente im Verband ein. Im Frühjahr 2020 starb Kristina Hahn viel zu früh. Sie ermöglichte der SG die Finanzierung verschiedener Projekte, u.a. den Kristina-Hahn-Preis*, der in diesem Jahr an vier Gruppen ging, die sich mit spannenden Aktionen zur Demokratieförderung im Kindes- und Jugendalter engagieren. Und Kristina Hahn wünschte sich eine inspirierende Tagung.

Es begann mit einem Vortrag von Hartmut Rosa zum Tagungsthema „Resonanzen“. Rosa definiert Resonanz als Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Objekt gegenseitig erreichen, berühren und verändern. Er bezeichnet Resonanz als Urform der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Das Subjekt wird berührt (affiziert) und antwortet (à E-motion). Resonanz ist nicht kontrollierbar. Das steht im Widerspruch zur Moderne, die auf Verfügbarmachung und Kontrolle als Grundmodus basiert. Der wachsende Zwang zur Beschleunigung macht den Menschen Angst und produziert schuldige Subjekte, weil wir es nie schaffen, den Ansprüchen von außen gerecht zu werden.

Rosa stellt die Frage, ob Krankheit als Verlust der Resonanzfähigkeit angesehen werden kann. So ließen sich Essstörungen als Weltbeziehungsstörungen bezeichnen: Anorexie (Magersucht) als Versuch, Weltberührung zu vermeiden, Adipositas (Fettleibigkeit) als einseitige, sich steigernde Weltaneignung, Bulimie (Ess-Brechsucht) als Aneignung ohne Anverwandlung und Orthorexie (Angst, durch ungesunde Lebensmittel krank zu werden) als Angst vor Unverfügbarkeit, also als Angst, über etwas nicht verfügen zu können.

An dieser Stelle wäre eine geschlechtsspezifische Differenzierung interessant gewesen. Zwar steigt die Zahl männlich gelesener Personen mit Essstörungen, doch sind sie immer noch sehr viel häufiger bei (jungen bzw. sich entwickelnden) Frauen verbreitet.** Hier könnte man verschiedene Hypothesen diskutieren: Scheitern Heranwachsende, die sich in ihrer Identitätsfindung mit weiblichen Stereotypen auseinandersetzen, besonders häufig an der Erfüllung dieser vermuteten Erwartungen (z.B. „Schönheits“-Idealen)? Oder werden bei der Sozialisierung in Richtung männlicher Stereotype andere Modelle gelebt, die einen gestörten Weltbezug zum Ausdruck bringen, wie z.B. über Computerspiele oder Gewaltphantasien? …

Für Beratung und Therapie hält Rosa die Herstellung von Resonanz für wichtig und die Fähigkeit dazu bezeichnet er als therapeutische Kompetenz. Das passt zu dem, was Sarah Walther im letzten Beitrag dieses Blogs geschrieben hat (https://die-weibliche-seite-der-systemik.de/die-kraft-von-duempelsitzungen/), und zu den Forschungsergebnissen, die deutlich machen, dass die Herstellung einer guten Beziehung schulenübergreifend einen wichtigen Faktor für das Gelingen von Therapie darstellt. Laut Rosa kann in Beratung und Therapie gegen die Verdinglichung von Beziehungen durch Digitalisierung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Automatisierung über Resonanzen wieder Weltbeziehung hergestellt werden.

Ein großartiger Prozess ergab sich auf der Tagung aus einem Workshop mit der Kunsttherapeutin Franziska Janker. Wir hielten uns ein Blatt Papier vors Gesicht und malten darauf die Umrisse: Augen, Nase, Mund und Außengrenzen des Gesichts. Dieses Blatt gaben wir unserer/m Partner_in, die/der die Umrisse mit dem füllten, was sie/er im Gesicht des Gegenübers sah. Die/der Besitzer_in des Gesichts erhielt das Blatt zurück und markierte auf einem darüber gelegten, transparenten Papier das, was ihr/ihm wichtig erschien. Aus dem anschließenden Gespräch darüber ergaben sich in meinem Duo spannende Erkenntnisse: Nicht das, was mir mein Gegenüber vermittelt, sondern das, was ich aus dem lese, wie mein Gegenüber mich beschreibt, erfahre ich Neues über mich und mein Verhalten. Und es wurde erfahrbar, wie ähnliche (Lebens-) Erfahrungen in Beziehungen als Resonanz spürbar werden und eine Nähe, Offenheit … schaffen, auch wenn dies nicht bewusst wahrnehmbar wird. Dies muss nicht immer eine positive Erfahrung sein. Wir erörterten das in unserem Duo am Beispiel Gewaltbeziehungen. Es entstehen zwar negative, aber solche Resonanzen, die womöglich als vertraut wahrgenommen werden. In Beratungsprozessen dieser Resonanz nachzugehen, könnte hilfreich sein. Man könnte fragen, auf welche Weise Gewalterfahrungen auf beiden Seiten so utilisiert werden können, dass eine Resonanz herbeigeführt wird, die von Gewaltanwendung wegführt.

Hauptredner auf der Tagung waren – wie fast immer – Männer. Aber das Abschlusspanel war wie schon auf der SG-Tagung 2019 ausschließlich mit Frauen besetzt: Yasmine M´Barek, Journalistin, Autorin und Podcasterin, Ulrike Borst, Systemische Psychotherapeutin & Supervisorin, Angelika Ivanov, Pressereferentin bei der GLS Bank, Emily M. Engelhardt, Systemische Beraterin und Supervisorin und Professorin für „Digitale Transformation in sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft“, Shary Cheyenne Reeves, Moderatorin, Schauspielerin, Autorin, sowie Cordula Stratmann, Systemische Familientherapeutin und Komikerin. Bevor die Podiumsdiskussion begann, hatten die Frauen sich schon getroffen, wurden von der Moderatorin und systeme-Redakteurin Tanja Kuhnert gut gebrieft und diskutierten miteinander. Sie kamen also „warmgemacht“ wie man beim Sport sagen würde, auf die Bühne, schon sehr gut in Resonanz miteinander, wie die Tagungsteilnehmenden das vermutlich beschreiben würden. So brachten sie jede Menge Energie auf das Podium. Aufgrund der sehr knapp bemessenen Zeit musste Moderatorin Tanja Kuhnert sich auf wenige Fragen beschränken, um die sechs Frauen alle zu Wort kommen zu lassen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive schilderten die Frauen, welche Resonanzen sie in ihrer Welt besonders wahrnehmen. Es entstand ein sehr lebendiger Austausch über aktuelle gesellschaftliche Phänomene und darüber, welche Impulse wir geben können, um gute Resonanzen entstehen zu lassen. Wie es eben mit Resonanzen so ist, steckten sich die Frauen gegenseitig mit ihrer Leidenschaft und Lebendigkeit an. Shary Cheyenne Reeves brachte es so auf den Punkt: „Wir schieben so viel Energie vor uns her, lasst uns die doch gemeinsam nutzen“!

*https://systemische-gesellschaft.de/service/auszeichnung/kristina-hahn-preis-2023/

**Laut der Barmer Krankenkasse gibt es sehr unterschiedlich Zahlen dazu. Einer Schätzung zufolge kommen auf 61 Frauen 18 Männer. s. https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/mensch/ungleichbehandlung/essstoerungen-1055178#Wie_hu00E4ufig_sind_Essstu00F6rungen-1055178

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