Sexualisierte Gewalt und Familientherapie

Anlässlich des Tages gegen Gewalt gegen Frauen* am 25. November ein Vorab-Auszug aus dem Buch Systemik, die – Feministische Perspektiven systemischer Theorie und Praxis, Kuhnert und Siller, 2025, Vandenhoeck und Ruprecht, S. 277-280.

»Unsere These ist, daß Familientherapie die herrschenden sozialen Geschlechterrollen akzeptiert und dabei ignoriert, daß diese die Frauen unterdrücken; sie hat ein traditionelles Familienmodell übernommen und dabei übersehen, daß es die Frauen benachteiligt. Diese Unfähigkeit zur Erkenntnis hat zu
einer Theorie, Praxis und Ausbildung geführt, die die Frauen unterdrückt.
«
(Goodrich, Rampage, Ellman u. Halstead, 1991, S. 32)

Die Themen Missbrauch und sexualisierte Gewalt waren lange Zeit nicht im Blick der Familientherapeut*innen. Insbesondere männliche Therapeuten taten sich anscheinend schwer damit, diese Themen zu sehen bzw. therapeutisch anzusprechen. Margarete Hecker schildert dazu ihre Erfahrungen, die sie in den USA machte.

Prof. Dr. Margarete Hecker über den Umgang mit Missbrauch in der frühen Familientherapie
Tanja Kuhnert: ≫Und was haben Sie für sich mitgenommen aus der Zeit in den USA, oder was haben Sie besonders mit hier hinübergebracht?≪
Margarete Hecker: ≫Ich habe in der Philadelphia Child Guidance Clinic bei Salvador
Minuchin strukturelle Familientherapie gelernt, mit dem Hintergrund, dass ich vorher bereits in Deutschland bei Carole Gammer und Martin Kirschbaum Kurse belegt hatte. Carole Gammer hat mir sogar empfohlen, zu Minuchin zu gehen. Sie sagte, mit den Obdachlosenfamilien, die du beschreibst, habe ich keine Erfahrung. Dazu musst du zu Minuchin gehen. Diese Familien sprechen auf deep feeling work, wie ich es mache, nicht an. Ich habe da ein Video von Minuchin gesehen, indem er sagt, dass ›past history‹, also Geschichte, fur ihn überhaupt keine Rolle spielt. Er wollte die familiäre ›Struktur‹ aus dem Hier und Jetzt allein erkennen. Ich wusste aber damals schon, dass das nicht geht und nicht genügt.
Und sexuellen Missbrauch hat er dadurch ja auch übersehen. Denn wenn er nicht
genau hinguckt und wenn er die Geschichte nicht abfragt, dann kann er manches
nicht sehen. Interessant ist ja, dass erst die Frauen, die Mitarbeiterinnen der Klinik, die sind auf das Thema Missbrauch gekommen. Sie haben ihn dann drauf gestosen. Aber er sagte immer: Es ist ja egal, wen ich konfrontiere, wenn nachher die Ehe besser lauft. Aber er hat die Frauen [Klientinnen, Anm. der Interv.] immer unter Druck gesetzt, weil die besser ansprechen [auf Interventionen, Anm. d. Interv.], als wenn man die Manner unter Druck setzt. Wenn man die Manner konfrontiert, dann verliert man das Paar aus der Therapie.≪
Tanja Kuhnert: ≫Das heißt, man konnte sagen, er hat damit auch ein Muster unterstützt?≪
Margarete Hecker: ≫Ja, er hat das gesellschaftliche Muster unterstutzt und hat es nicht versucht, andersherum auch mal zu probieren. Aber er war ein Meister, ein Könner. Es ist ihm sehr vieles gelungen, wo man gedacht hat, das ist unmöglich.
[…] Darüber habe ich ja auch das Buch fur Sie, Frau Kuhnert, von den Feministinnen
[siehe ≫Die Furchtlosen Vier – The Women’s Project≪ (New York) S. 306 ff. in
diesem Buch, Anm. d. Interv.], die beschreiben das ja auch. Diese haben ja auch damit einen sehr wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Familientherapie geleistet. Auch das Aufspüren von sexueller Gewalt und dem Vertuschen sexuellen Missbrauchs in Familien, der so häufig ist; das kam ja in den 1980er Jahren. Da wurde das ja zuerst wirklich angesprochen. Das war vorher ja auch in meiner Ausbildung nicht so ausführlich Thema. Überhaupt war Missbrauch damals kein Thema.≪
(Prof. Dr. Margarete Hecker im Interview mit Tanja Kuhnert, 2023)

Im Jahr 1990 veröffentlichte Cloé Madanes, eine US-amerikanische Familientherapeutin, das Buch »Sex, love and violence: Strategies for transformation«. Sie stellte hier ihr Konzept strategischer Familientherapie vor, indem sie mit dem gesamten Familiensystemen arbeitet, in denen Missbrauch verübt wurde – auch die Täter*innen nehmen demnach an den Sitzungen teil. Ein bis heute revolutionäres Konzept. 1997 erschien das Buch unter dem Titel »Sex, Liebe und Gewalt: Therapeutische Konzepte zur Veränderung« auf Deutsch. Heute wird es nicht mehr verlegt.

MeToo und die systemische Szene?

Überall wo Macht zwischen Männern und Frauen verhandelt wird, ist das Thema sexuelle Übergriffe und sexualisierte Gewalt leider nicht weit. So auch in der systemischen Szene. Es gibt Gerüchte, es wird gemunkelt und immer wieder wurde und wird unter Frauen auch darüber gesprochen, dass es (z. T. namhafte) Männer gibt, vor denen man sich in Acht nehmen sollte.
Im Jahr 2021 erschien das Buch »Irgendwann muss doch mal Ruhe sein! Institutionelles Ringen um Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch an einem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« von Peter Caspari, Helga Dill, Cornelia Caspari und Gerhard Hackenschmied. Gegenstand des Buches ist dieAufarbeitungder Auswirkungen von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt gegenüber
Ausbildungsteilnehmerinnen an einem analytischen Ausbildungsinstitut in Heidelberg durch einen langjährigen Leiter in den Jahren 1975 bis 1993. Noch dreißig Jahre später sind in diesem Institut die Auswirkungen zu spüren und zu erleben. Das veranlasste die Mitgliederversammlung des zugehörigen Vereins dazu, externe Beraterinnen zu beauftragen, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Das Buch beinhaltet die Dokumentation dieses Prozesses. Am Ende stellen die Autorinnen Handlungsempfehlungen vor.
Wir nennen das Beispiel hier, um deutlich zu machen, dass Beraterinnen und Therapeut*innen nicht weniger davon betroffen sind, Übergriffe zu erleben oder sich selbst grenzverletzend zu verhalten, als andere Berufsgruppen. In unseren Interviews sind uns somit auch Erzählungen begegnet, die sexuell übergriffiges Verhalten/sexualisierte Gewalt in der systemischen Welt zum Thema hatten.

Dr. Marie-Luise Conen über sexuelle Belästigung in Weiterbildungen
Marie-Luise Conen: ≫Ich hatte mich wegen einer Weiterbildung erst für ein anderes Institut interessiert. Aber da hat mir nach einem Einführungsseminar der
Dozent nicht zugesagt. Das war einer, bei dem man sich als Frau unwohl fühlte. Einer der dich auszieht, wenn er dich anschaut. Ich weiß nicht, ob du weißt, was ich damit meine. Aber es war da, ständig wurden wir drei attraktive Frauen in sein Spiel gezogen. Da war klar, wenn der die Gruppe macht, dann mache ich bei dem Institut nicht die Weiterbildung. Und hab mich dann gegen dieses Institut entschieden und bin zu einem anderen Institut gegangen. Aber nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass eine nach der anderen der gutaussehenden Frauen wegblieb, und bei der vierten habe ich zu meinen zwei Freundinnen, die ich inzwischen in dem Kurs gefunden hatte, gesagt: ›Hier stimmt was nicht‹. Später fanden wir unsere Annahme bestätigt. Ich habe einen der Dozenten gefragt, wieso dieser Leiter eigentlich immer noch eingeladen wurde. Und dann hat er doch echt zu mir gesagt: ›Ja, wir passen jetzt immer auf ihn auf. Er wird jetzt nur noch privat untergebracht, nicht mehr im Hotel, da haben wir ihn unter Aufsicht‹ […].≪ (Dr. Marie-Luise Conen im Interview mit Petra Lahrkamp und Nikola Siller, 2022).

Die Themen sexualisierte Gewalt, Übergriffigkeit und Machtmissbrauch sind bisher innerhalb der systemischen Community nie aufgearbeitet worden.
Die systemischen Dachverbände haben zwar eine Beschwerdestruktur entwickelt
und Ethik-Räte eingerichtet. Trotzdem gelangen sehr wenige solcher Vorfälle in diese
Strukturen. Das Gleiche gilt für Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen. Auch
diese Erlebnisse werden nicht öffentlich gemacht. In persönlichen Kontakten erklären verschiedene Menschen, die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen machen, immer wieder, dass sie befürchten, nicht ernst genommen zu werden, Vertreterinnen in diesen Gremien sie vermutlich nicht verstehen und dadurch ihre Situation eher schlimmer wird. Und natürlich darf nicht vergessen werden, dass es hier auch immer um Macht geht. Wenn mächtige Menschen übergriffig werden, fällt es den weniger mächtigen Menschen, die ja hier sehr deutlich Ohnmacht erleben, nicht leicht, diese vielleicht sogar prominenten Menschen anzuzeigen, sich zu beschweren und diese zu beschuldigen. Deswegen benötigen wir zum einen Netzwerke, an die sich Menschen, die Übergriffe erleben, wenden können. Zum anderen benötigen wir eine Awareness-Kultur: Die systemische Gemeinschaft muss die eigenen Tabus deutlich benennen und sich nicht allein auf Grundlage von Ethik-Richtlinien gegen Grenzverletzungen aussprechen. Es geht auch darum, darüber zu sprechen, dass es diese Geschehnisse tatsächlich gibt und im täglichen Miteinander dafür zu sorgen, dass diese nicht passieren. Auch haben wir als Lehrende Verantwortung gegenüber den Teilnehmenden in Weiterbildungen und Ausbildungen, die teilweise ihre Praxisstunden freiberuflich anbieten und in den sozialen Medien für sich und ihre Dienstleistung werben. In Seminaren müssen Räume angelegt und geöffnet werden, in denen Sorgen vor Grenzverletzungen und Erleben von Übergriffigkeit besprochen werden können. Dazu braucht es einen sicheren Rahmen und Gendersensitivity [1] – und sicherlich keine zusätzliche sexualisierte Belästigung durch »flirtiges Verhalten« von Dozenten. Die Rolle der Coachin oder Berater*in sowie die Möglichkeiten und Techniken der Abgrenzung und Selbstsorge müssen erlernt werden. Insbesondere
Menschen, die weiblich sozialisiert wurden und damit oft auch eine introjizierte Erwartung von »Gefälligkeit« mitbringen, brauchen Empowerment; die systemische Community benötigt eine gemeinsame und klare Problembeschreibung. Es ist sehr wichtig, für grenzachtenden Umgang zu sensibilisieren und Schutztechniken zu kennen.

[1] “Der Begriff ≫Gender sensitivity≪ stammt von der US-amerikanischen feministischen Familientherapeutin Betty Carter. 1987 auf einem Familienkongress am Weinheimer Institut hielt sie dazu einen Vortrag (Rücker-Embden-Jonasch u. Ebbecke-Nohlen, 1992, S. 10. )“ zitiert nach Kuhnert u. Siller, 2025 S. 257.

Tanja Kuhnert und Nikola Siller