„Sie haben kein Problem!“ – Die Missachtung der subjektiven Erfahrung: Eine Kritik an der Entwertung persönlicher Probleme

In meiner Praxis als systemische Therapeutin begegne ich immer wieder Klient*innen, die tief verunsichert sind, weil ihnen von Professionellen gesagt wurde: „Sie haben kein Problem.“ Diese Aussage ist nicht nur eine grobe Simplifizierung komplexer menschlicher Erfahrungen, sondern auch ein Akt der Entwertung, der ernsthafte Folgen für das Wohlbefinden der Betroffenen haben kann. Besonders Frauen, die häufig mit zusätzlichen gesellschaftlichen und sozialen Erwartungen konfrontiert sind, können durch eine solche Haltung besonders verletzt werden. 

Professionelle, die die Aussage „Sie haben kein Problem“ treffen, tun dies oft aus einer bestimmten Perspektive oder einem bestimmten Paradigma heraus. Manchmal kann dies aus einem klinischen, diagnostischen Ansatz resultieren, bei dem Probleme nur dann als real anerkannt werden, wenn sie in eine bestimmte Kategorie oder Diagnose passen. Diese Sichtweise ignoriert jedoch die subjektive Erfahrung der Klient*innen und reduziert komplexe emotionale Zustände auf einfache Schubladen. Ein weiteres Motiv könnte eine unzureichende Ausbildung oder gar Haltung in empathischer Kommunikation sein, wodurch Fachkräfte die emotionalen Nöte ihrer Klient*innen nicht angemessen würdigen.

Besonders für Frauen ist die Aussage „Sie haben kein Problem“ oft doppelt belastend. Frauen werden in unserer Gesellschaft häufig mit zusätzlichen Erwartungen und Verantwortungen konfrontiert. Sie tragen oft die Hauptlast der emotionalen und sozialen Arbeit in Familien und Gemeinschaften, was ihre eigenen Bedürfnisse und Probleme in den Hintergrund drängt. Viele Frauen übernehmen sowohl berufliche als auch private Rollen, die mit hohen Erwartungen verbunden sind, wie die Pflege von Familienmitgliedern, die Organisation des Haushalts und die emotionale Unterstützung von Partnern und Kindern. Diese Aufgaben sind oft unsichtbar und werden als selbstverständlich angesehen, wodurch der Eindruck entsteht, dass Frauen „natürlich“ mit diesen Herausforderungen umgehen können.

Wenn dann noch von einer professionellen Person ihre Probleme abgesprochen werden, verstärkt dies das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und keine Stimme zu haben. Frauen hören oft, dass ihre Sorgen und Probleme „normal“ oder „Teil des Lebens“ sind, was ihre eigenen Empfindungen entwertet und sie in ihrem Schmerz allein lässt. Diese Entwertung kann dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Bedürfnisse und Belastungen noch weniger ernst nehmen und sich schämen, Hilfe zu suchen. Das Gefühl, keine Stimme zu haben, kann tiefgreifende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die psychische Gesundheit haben. Frauen, die ständig hören, dass ihre Probleme unwichtig sind, könnten beginnen, ihre eigene Wahrnehmung und ihre Gefühle in Frage zu stellen, was zu einem Teufelskreis der Selbstzweifel und Isolation führt.

Aus einer weiblich systemischen Perspektive ist es besonders wichtig, diese Dynamiken zu erkennen und anzusprechen. Weibliche Systemikerinnen bringen oft eine besondere Sensibilität für die subtilen und oft unsichtbaren Belastungen mit, die Frauen tragen. Sie verstehen, wie gesellschaftliche Normen und Erwartungen das individuelle Erleben von Problemen beeinflussen können und sind daher besonders darauf bedacht, die subjektiven Erfahrungen ihrer Klientinnen zu validieren und zu unterstützen.

Die Aussage „Sie haben kein Problem“ ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Sie kann die Selbstwahrnehmung der Person untergraben und die Suche nach Hilfe erschweren. Als systemische Therapeut*innen ist es unsere Aufgabe, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem unsere Klientinnen ihre Gedanken und Gefühle frei ausdrücken können. 

Wir müssen die individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen unserer Klient*innen anerkennen und würdigen, um einen wahrhaft unterstützenden Rahmen zu bieten.

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