Aus systemischer Sicht eine Antwort zum Gastbeitrag von Lisa-Maria Walther: Schuld und Scham

Als ich Lisas Gastbeitrag zum ersten Mal las, wurde mir unmittelbar bewusst, wie tief ihre Worte mich berührt haben. Nicht nur als Mensch, sondern auch in meiner Rolle als Therapeutin. Der Artikel ist kraftvoll und unbequem – und genau deshalb so wertvoll. Er erinnert mich daran, dass ich als Therapeutin oft nur ein begrenztes Verständnis von der Lebensrealität meiner Klient*innen habe. Erfahrungsberichte wie Lisas sind eine wichtige Quelle für mein eigenes Lernen und Handeln.

Was nehme ich als Therapeutin aus diesem Beitrag mit?

1. Sensibilisierung und Raum für Wut
Lisas Artikel zeigt, wie wichtig es ist, marginalisierten Gruppen Raum für starke Emotionen wie Wut zu geben. In meiner Arbeit schaffe ich geschützte Räume, in denen solche Gefühle Platz haben dürfen, gerade in einer Gesellschaft, die Frauen* oft das Recht auf Wut abspricht.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, was systemisch mit Wut erreicht werden kann. Wut, die destruktiv genutzt wird, wie es in bestimmten Bewegungen geschieht, kann Ängste und Nöte verstärken. In meiner Praxis geht es daher nicht nur darum, Wut zuzulassen, sondern zu überlegen, wie sie zu einer Kraft werden kann, die Selbstbewusstsein und Veränderung ermöglicht.

2. Die Rolle der Betroffenenperspektive

Lisa erinnert uns daran, dass diejenigen, die von gesellschaftlicher Marginalisierung betroffen sind, oft ein Wissen haben, das uns als Therapeut*innen fehlt. Diese Erfahrungsberichte sind nicht nur wertvoll, sie sind unverzichtbar. Sie ermahnen mich, immer wieder den Blick zu weiten, zu fragen und zuzuhören.

Im systemischen Verständnis geht es jedoch nicht darum, die Erlebnisse unserer Klient*innen zu interpretieren. Vielmehr liegt unser Fokus darauf, ihre Lösungsversuche zu würdigen, selbst wenn sie mit Leiden verbunden sind. Denn die Lebensrealitäten unserer Klient*innen können wir nie vollständig erfassen – jede*r von uns schafft aus ähnlichen Erfahrungen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen. Die Klient*innen bleiben die Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt, und es ist unsere Aufgabe, diese Realität ernst zu nehmen und zu unterstützen, ohne sie zu hinterfragen.

3. Betroffenheit als Therapeutin zulassen

In meinem therapeutischen Prozess ermutige ich Klient*innen, ihre Betroffenheit zu zeigen – sei es durch Wut, Trauer oder Schmerz. Dabei ist es wichtig, auch mir als Therapeutin zu erlauben, betroffen zu sein. Lisas Geschichte hat mich nicht nur berührt, sie hat mich auch wütend gemacht. Diese Emotionen zuzulassen, hilft mir, authentisch zu bleiben und mich in die emotionale Welt meiner Klient*innen einzufühlen.

Gleichzeitig ist es meine Aufgabe, aus dieser Betroffenheit wieder herauszutreten, um hilfreich sein zu können. Es geht nicht darum, die Wut der Klient*innen zu bestätigen, sondern sie zu begleiten und zu reflektieren, wie diese Emotion sie beeinflusst und welche neuen Möglichkeiten daraus entstehen können. Diese Nähe zu den Gefühlen der Klient*innen schafft Raum für Veränderung – sie bietet die Chance, Emotionen zu verstehen und gemeinsam Wege zu finden, sie konstruktiv zu nutzen.

4. Über den Therapieprozess hinaus*

Lisas Beitrag hat mich zudem daran erinnert, dass mein Engagement nicht an den Türen meines Praxisraumes enden darf. Es geht nicht nur darum, während der Arbeit aufmerksam zu sein, sondern auch in meinem Alltag wachsam zu bleiben für Diskriminierung, Anfeindungen und Ungerechtigkeiten. Es ist meine Verantwortung, nicht wegzusehen, sondern aktiv Position zu beziehen – sowohl für meine Klient*innen als auch für Menschen, die nicht gehört werden.

5. Verantwortung und Selbstwert hinterfragen 

Lisas Beitrag wirft ein scharfes Licht auf die Schuldzuweisungen, die oft auf den Einzelnen abgewälzt werden, ohne die komplexen gesellschaftlichen Strukturen zu berücksichtigen, die zu diesen Situationen beitragen. In meiner Arbeit als Therapeutin ist es mir wichtig, die systemischen Einflüsse auf das Leben meiner Klient*innen anzuerkennen. Dabei geht es nicht nur um die Beachtung des Kontextes, sondern um die Frage, wie diese Einflüsse auf das Selbstwertgefühl wirken.

In einer systemischen Haltung spielt Schuld keine zentrale Rolle, da sie den Blick auf die Allparteilichkeit einschränken würde. Statt nach einem „Schuldigen“ zu suchen, geht es darum, aus der Opfer-Täter-Dynamik herauszutreten und den Klient*innen eine neue, befreiende Sichtweise zu eröffnen. Dadurch wird es möglich, sich von Schuldzuweisungen zu lösen und den Fokus auf die Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten zu richten, die zur Selbstwirksamkeit führen können.

6. Scham und die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Idealen
Lisa beschreibt eindrücklich, wie tief Scham durch äußere Erwartungen und Normen in die Selbstwahrnehmung eingebettet werden kann. Diese Verinnerlichung von gesellschaftlichen Idealen – insbesondere in Bezug auf Körperbild und Leistung – begegnet mir häufig in der therapeutischen Arbeit. Aus ihrem Beitrag nehme ich mit, dass es essenziell ist, diesen Mechanismus offenzulegen und zu hinterfragen. Es geht darum, Klient*innen zu helfen, diese internalisierten Erwartungen zu dekonstruieren und sich selbst mit mehr Mitgefühl zu begegnen.

Dass wir uns mit Erwartungen und deren Verinnerlichung beschäftigen, ist eine grundlegende Praxis in der systemischen Arbeit. Es mag für Systemiker*innen selbstverständlich erscheinen, aber es ist wichtig, diesen Mechanismus immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, gerade weil er oft unbemerkt bleibt. Anhand von Lisas Beispiel zeigt sich, wie bedeutsam es ist, solche Verinnerlichungen im therapeutischen Prozess zu thematisieren und sichtbar zu machen.

7. Repräsentation und Inklusion

Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Lisa anspricht, ist die fehlende Repräsentation von diversen Körperbildern und Lebensrealitäten in unserer Gesellschaft. Dies lässt sich auch auf den therapeutischen Kontext übertragen: Als Therapeut*innen müssen wir dafür sensibilisiert sein, wie eingeschränkt und normativ unser Verständnis von „Normalität“ oft ist.

Auch wenn wir als Systemiker*innen nicht mit einem festen Konzept von „Normalität“ arbeiten, sind wir dennoch alle von gesellschaftlichen Bildern davon geprägt. Diese Vorstellungen werden uns immer wieder suggeriert, und sie prägen unbewusst unseren Umgang mit uns selbst und anderen. In meiner Arbeit bemühe ich mich, diese Bilder von „Normalität“ bewusst zu hinterfragen, aufzubrechen und alternative Sichtweisen zu fördern. Lisas Beitrag erinnert mich daran, wie wichtig es ist, Raum für vielfältige Identitäten und Körperbilder zu schaffen – nicht nur im therapeutischen Setting, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung.

8. Systemische Betrachtung von Gesundheit
Lisas Ausführungen über den Umgang mit Gewicht im medizinischen Kontext verdeutlichen, wie häufig Gesundheitsfragen auf eine einzige Variable reduziert werden, anstatt das gesamte System des Menschen zu betrachten. In der systemischen Therapie ist es entscheidend, Gesundheit nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren. Es geht dabei um den Menschen als System, das von vielfältigen Einflüssen geprägt ist – und nicht nur um einzelne Aspekte wie Gewicht oder eine spezifische Diagnose.

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