Im Rahmen unseres Interviewprojekts „Pionierinnen des systemischen Ansatzes“[1] führen wir zahlreiche Gespräche mit Frauen über 70 Jahren und älter. Wir gehen u. a. in unseren Gesprächen der Frage nach, wie es dazu kam und auch heute immer noch kommt, dass der überwiegende Teil der Publikationen im systemischen Feld von Männern veröffentlicht wird.
Dabei habe ich immer wieder die gleiche Geschichte gehört. Die Frauen berichten, dass die Arbeit mit Menschen ihnen viel wichtiger war. Das Schreiben war nicht interessant für Sie.
Im Laufe des Gesprächs wurden aber meiner Wahrnehmung nach andere Dynamiken deutlich.
Die eine Interviewpartnerin war Frau eines einflussreichen Mannes, selbst promoviert als Psychologin, war sie doch lange Zeit eher Begleiterin ihres Mannes und Mutter der gemeinsamen Kinder. Sie suchte sich einen Bereich aus, der sich von dem Einflussbereich ihres Mannes unterschied. Er, der Forscher, der sich eher für die wissenschaftliche Weiterentwicklung des systemischen Ansatzes interessierte und gemeinsam mit anderen Männern Konzepte veröffentlichte, Vorträge hielt und Bücher schrieb. Sie spezialisierte sich auf die praktische Entwicklung der Biografie- und Herkunftsarbeit und wurde hierin Expertin.
Eine weitere Interviewpartnerin war ihrerseits auch promoviert und arbeitete an einer Hochschule. Als sie das erste Mal im systemischen Feld einen Artikel veröffentlichen wollte, wurde dieser von einem männlichen Redakteur abgelehnt. Einige Monate später erschien von ihm ein Artikel zu einem ähnlichen Thema. Diese Frau hat in der Folge nichts im systemischen Feld veröffentlicht.
Aus unterschiedlichen verbalen Quellen höre ich häufig ähnliche Geschichten über weitere Frauen. Es wird berichtet, Frauen haben erlebt, ihr Sprachstil sei nicht wissenschaftlich genug, ihre Themen nicht interessant oder relevant genug. So wurde und wird Frauen der Weg versperrt sich zu Wort zu melden und ihr Wissen und Können zur Verfügung zu stellen.
Mir scheint, so entschlossen sich zahlreiche Frauen und wichtige und hochkompetente Familientherapeutinnen, im Hintergrund zu bleiben und „nah am Menschen“ zu sein. Es ist unbenommen, dass sie dort eine inspirierende und für viele Menschen persönlich sehr wichtige Arbeit getan haben. Damit haben sie sich auf ein Terrain begeben, in dem Eigenschaften, die traditionell Frauen zugesprochen werden, wichtig und notwendig sind: ein Gespür für Menschen haben, empathisch und einfühlsam sein, Anteil nehmen, Beziehungszusammenhänge erspüren können, Muster und Dynamiken erkennen und erahnen u. a. Jedoch diese Fähigkeiten lassen sich nur schwer empirisch und randomisiert beforschen. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie ihre Fähigkeiten in den Entwicklungsdiskurs des systemischen Ansatzes hätten einspeisen können. Möglicherweise hätte der systemische Ansatz dann nicht bis vor kurzem den Ruf gehabt, zu stark kognitiv und zu wenig emotional und körperorientiert zu sein. Diese Frauen haben schon immer alle menschlichen Resonanzfelder in ihre Arbeit mit einfließen lassen und dadurch ein ganzheitliches Verstehen von Beziehungen, Eingebundensein und Veränderung ermöglicht!
Noch heute wird für den Diskurs im systemischen Feld nur eine bestimmte kognitive, häufig systemtheoretische (luhmansche) Auseinandersetzung als gehaltvoll und fundiert angesehen. Insbesondere von Frauen wird dies als zu distanziert und als zu wenig mit dem realen Leben zu vereinbarende Perspektive kritisiert. Vermutlich stimmt weder das eine noch das andere. Aus meiner Sicht wäre es systemischer (sowohl-als-auch), wenn der Diskurs von verschiedenen Perspektiven und Protagonist*innen bestimmt würde. Wer den Diskurs bestimmt, hat Macht. Zentralisierte Macht ist ausschließend und verengt Perspektiven, fördert Linearität – wir benötigen aber komplexere und damit ganzheitlichere Denk- und Handlungsweisen.
Ich wünsche mir sehr, dass wir die Arbeit dieser Pionierinnen nicht länger abwerten als emotionale Biografiearbeit im Hinterzimmer und würdigen als das, was sie schon immer war: Die wichtigste Arbeit, die Menschen für sich tun können: Der eigenen Biografie begegnen und sich mit ihr befrieden. Dafür brauchen wir Zugang zu unseren Emotionen und Resonanzen und nicht zu Theorien und Studien.
Tanja Kuhnert
[1] Das Projekt produziert Audio- und Videointerviews mit Frauen, die den systemischen Ansatz maßgeblich mit entwickelt haben. Sie selbst sind häufig in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung getreten und nur einem überschaubaren Kreis von Menschen bekannt. Heute zum Teil sehr bekannte und wichtige Persönlichkeiten haben bei diesen Frauen gelernt und ihre Ideen und Konzepte in ihre Arbeit einfließen lassen. Das Projekt wird von DGSF e. V. und SG e. V. finanziell unterstützt. Die Ergebnisse werden ab 2024 der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung gestellt.