Ein Buch kommt in die Welt.

Es war im Jahr 2018 als Nikola Siller und ich uns gegenseitig die Frage stellten, über welche Frauen wir als Lehrende in systemischen Weiterbildungen sprechen, wenn es um die Anfänge der Familientherapie in Deutschland und die Entwicklung des Systemischen Ansatzes geht.

Uns fielen nicht viele Frauen ein: Virginia Satir, Mara Selvini Palazzoli, Insoo Kim Berg…. Wir gingen unzufrieden mit unseren eigenen Antworten in die Welt und befragten Kolleg*innen. Auch da gab es keine wirklich weiterführenden Antworten.  In Gesprächen mit weiblichen Kolleginnen wurde deutlich, dass es eine allgemeine Unzufriedenheit mit dieser Geschichtserzählung zum systemischen Ansatz gibt. Über 80% der Teilnehmenden in systemischen Weiterbildungen sind weiblich oder divers. Über 80 % der Mitglieder in systemischen Verbänden sind weiblich oder divers. Ein sehr großer Teil der systemischen Praktiker*innen sind weiblich oder divers. Ein Blick in die systemische Standardliteratur zeigt, dass diese überwiegend von Männern geschrieben wird und darin sich auch überwiegend auf Männer als Protagonisten der systemischen Entwicklung bezogen wird.

Diese Erkenntnis spornte uns an, auf die Suche nach den Frauen in der systemischen Welt zu gehen. Wir starteten mit der Suche nach der weiblichen Seite der Systemik. Daraus wurde ein umfangreiches Projekt mit vielen verschiedenen Bausteinen.

Im Jahr 2022 entstand dieser Blog. Er möchte eine Möglichkeit bieten, weiblich gelesene Personen aus der systemischen Welt sichtbarer zu machen. Daneben möchte das Redaktionsteam, Perspektiven auf die Welt, das Leben, systemische Diskurse und beraterisch/therapeutische Arbeit aufzeigen stellen, die wir als andere Lesarten zur Verfügung stellen möchte. Wir definieren diese in der Regel als weiblich und sparen aber dabei weiblich-intersektionale Perspektiven nicht aus.

Es entstand ein weiblich-systemisches Netzwerk: Das Rote Sofa. Über 30 Systemikerinnen aus dem deutschsprachigen Raum, zwischen 30 und über 70 Jahren, aus verschiedenen systemischen Arbeitsfeldern, mit unterschiedliche Biografien, Berufen und Bildungswege treffen sich regelmäßig zum Austausch und zur Vernetzung. Wir verstehen uns als Mentoring und Empowerment  Kreis, der sich auch politisch engagiert.

Im Laufe der Auseinandersetzung mit unseren oben genannten Fragen entstand das Bedürfnis, Pionierinnen persönlich zu interviewen. Wir wollten Erzählungen und damit Zeugnisse sichern und insbesondere jüngeren Generationen zugänglich machen. Die beiden systemischen Verbände DGSF e. V. und SG e. V. unterstützen uns dabei, dies möglich zu machen. Daraus entsteht gerade ein Podcast, der ab November 2024 hier auf diesem Blog veröffentlich werden wird. Acht Kolleginnen konnten wir bereits interviewen.

Die einzige Idee, die wir noch nicht weiterverfolgen konnten, ist es die Sichtbarkeit von Systemikerinnen auf Wikipedia zu erhöhen. Siehe hierzu Artikel von Anne Gemeinhardt vom 30.08.2024 auf diesem Blog.

Der Rahmen für all diese Bausteine bildet das Buchprojekt, an dem wir seit 2019 arbeiten. Günter Presting und Sandra Englisch vom Vandenhoeck und Ruprecht Verlag unterstützten von Anfang an unsere Idee zur weiblichen Geschichte der Systemik und ermutigten uns dazu, das Buch zu schreiben. In der Folge sprachen wir Mit-Autor*innen an, recherchierten nach Pionierinnen, führten Gespräche und Interviews und begannen selbst zu schreiben. Nun befinden wir uns in der finalen Phase! Zum Ende diesen Jahres wird das Buch im Vandenhoeck und Ruprecht Verlag erscheinen. Schon lange ist es nicht mehr ein Buch, welches allein die Geschichte der Systemik um die Beiträge von Frauen ergänzt. Es ist ein feministisches Buch geworden. Wir verstehen Feminismus heute als

„(…) kritisches Wissen über die gesellschaftliche Realität von Frauen, Mädchen und von der Geschlechterordnung marginalisierter Menschen über die Barrieren, mit denen sie konfrontiert sind, mit denen wir konfrontiert sind und auch über Strategien, wie diese Barrieren überwunden worden sind in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Feminismus besteht für [uns] deswegen auch im Wesentlichen aus kollektiv abgestimmten, kollektiv entworfenen Handlungsstrategien aus Praxen der Freiheit und der Selbstbestimmung. Und zum Schluss besteht für [uns] Feminismus aus solidarischem Handeln, nämlich ein Handeln, was darauf ausgerichtet ist, andere Mädchen, junge Frauen, von der Geschlechterordnung marginalisierte Menschen zu schützen und ihnen die Verfügung und die Selbstbestimmung über ihr Leben und ihren Körper zu ermöglichen. (…) Feminismus besteht für [uns] aus einer intersektionalen Rassismus-Kritik, einer intersektionalen Sexismus-Kritik, einer intersektionalen Klassismus-Kritik und einer intersektionalen Ableismus-Kritik (Auma, 2024)“.

In diesem Sinne ist das Buch Systemik, die – Feministische Perspektiven Systemischer Theorie und Praxis, ein Buch, welches einerseits einen intensiven Blick in die systemische Geschichtserzählung wirft und dabei Frauen in den Fokus der Entwicklung des Ansatzes stellt. Das Buch knüpft aber auch an frühere feministisch-intersektionale systemische Diskurse der 1970er bis 90er Jahren an und führt diese zu aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen weiter. Das Buch bietet theoretisch fundierte und praxisorientierte Auseinandersetzungen zu aktuellen beraterisch/therapeutischen Themen an:  Unter anderem zu Gendersensibilität in der Paartherapie, in der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie und im Berufswegcoaching, in der Beratung im Kontext von Migration und im klinischen Kontext; es werden intersektionale Fragen in Beratung und Therapie, Trans- Inter- Realitäten in systemischer Weiterbildung sowie Rassismus in der Systemischen Beratung und noch vieles mehr thematisiert. Das Buch setzt sich mit dem Patriachat als stabilem Ordnungsmuster unserer Gesellschaft auseinander und zeigt psychosoziale Phänomene auf, die es hervorbringt und begünstigt und die auch in der Systemischen Beratung und Therapie spürbar und sichtbar sind. Daneben erwartet die Leser*innen wiederentdeckte und neue praktische Ansätze für eine feministisch-intersektionale Systemische Beratung sowie Modelle und Übungen für eine machtsensible Praxis. Das Buch ist eine kritische Auseinandersetzung mit theoretischen systemischen Diskursen und bietet einen fundierten und anregenden Einblick in eine intersektionale systemische Praxis und zugleich eine durch Interviewsequenzen lebendig werdende, zum Teil sehr persönliche Reise in die Vergangenheit des systemischen Ansatzes.

Wir danken allen Unterstützer*innen, den Interviewpartnerinnen und Autor*innen sowie dem Verlag! Ohne euch alle hätten wir dieses Werk nicht erschaffen können!

Der Link zum Buch: https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/detail/index/sArticle/59194

Quellen:
Prof. Dr. Maisha Auma, Gastprofessorin für Intersektionale Diversitätsstudien an der Technischen Universität Berlin am 01.03.2024 via Bundeszentrale für politische Bildung im Interview zum Black History Month 2024 via Instagram.

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